Pressefreiheit: Nur in Skandinavien, Irland und Grönland noch alles gut

Krisen, Kriege und die anhaltende Ausbreitung des Autoritarismus haben dazu geführt, dass die Lage der Pressefreiheit im vergangenen Jahr so instabil war wie seit langem nicht. Dies lässt sich aus der neuen Rangliste der Pressefreiheit ablesen, die Reporter ohne Grenzen (RSF) zum Internationalen Tag der Pressefreiheit 2023 veröffentlicht haben. Entwicklungen wie die fast völlige Unterdrückung unabhängiger Berichterstattung in Russland infolge des Ukrainekriegs, massenhafte Festnahmen von Medienschaffenden in der Türkei und die weiter gestiegenen Aggressionen gegenüber Reportern am Rande von Demonstrationen in Deutschland sorgten dafür, dass viele Länder auf der Rangliste abrutschten. Die teils deutlichen Abstiege zeigen, wie volatil die weltweite Lage in einer Zeit von Krisen ist.

„Die Aggressivität gegenüber Medienschaffenden steigt weiter. Viele Regierungen und gesellschaftliche Gruppen versuchen, kritische Berichterstattung zu unterbinden. Erschreckend ist, dass die Zahl der Übergriffe in Deutschland auf ein Rekordhoch gestiegen ist“, sagte RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske. „Demokratische Regierungen müssen Medien in ihren eigenen Ländern unterstützen, den Druck auf autoritäre Regime erhöhen und auch Exilmedien stärken. Desinformation darf nicht die Oberhand behalten.“

Die Lage der Pressefreiheit ist der RSF-Skala zufolge in 31 Ländern „sehr ernst“, in 42 „schwierig“, in 55 gibt es „erkennbare Probleme“, und in 52 ist die Lage „gut“ oder „zufriedenstellend“. Die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende sind also in rund 70 Prozent der Länder weltweit problematisch, ähnlich wie im Vorjahr. Drei Länder sind dieses Jahr in die schlechteste Kategorie „sehr ernst“ abgerutscht: Tadschikistan, Indien und die Türkei.

Das größte Problem ist nach wie vor die Sicherheitslage für Journalisten. Sie werden auf Demonstrationen angegriffen, kommen in bewaffneten Konflikten ums Leben, werden gezielt ermordet, willkürlich festgenommen oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Sicherheitslage ist in 36 von 180 Ländern „sehr ernst“ – in Kriegsländern wie der Ukraine und dem Jemen ebenso wie in den größten Gefängnissen der Welt für Medienschaffende, China, Myanmar und Iran. In 33 weiteren ist die Sicherheitslage „ernst“ – von Peru bis Israel, von Hongkong bis zu den USA.

Auch organisierte Desinformation ist in vielen Ländern ein wachsendes Problem: In 118, also zwei Drittel aller Länder, gab eine Mehrheit der Befragten an, dass politische Akteure in ihrem Land in massive Desinformations- oder Propagandakampagnen involviert sind.

Deutschland belegt Rang 21. Der Abstieg um fünf Plätze ist vor allem mit dem Vorbeiziehen anderer Länder zu erklären, die sich zum Teil stark verbessert haben; Deutschlands Punktezahl hat sich im Vergleich zum Vorjahr nur um 0,13 auf 81,91 von 100 verschlechtert. Grund dafür ist die weiter wachsende Gewalt gegen Journalistinnen, Journalisten und Medien: Mit 103 physischen Angriffen dokumentiert RSF den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2015. Im Kalenderjahr 2021 hatte es 80 Angriffe gegeben, 2020 waren es 65.

Wie die aktuelle Nahaufnahme Deutschland von RSF zeigt, fand mit 87 von 103 Fällen die Mehrheit der Attacken in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten statt. Obwohl die Corona-Pandemie 2022 abflaute, wurde, teils zu anderen Themen, weiterhin demonstriert, so dass Versammlungen auch 2022 die gefährlichsten Orte für die Presse blieben. Zwei Drittel der Angriffe passierten in Ostdeutschland (Sachsen: 24, Berlin: 17, Thüringen: 13). Ein bundesweites Problem ist die Straflosigkeit. Viele der betroffenen Journalistinnen und Reporter äußerten Unzufriedenheit über die Arbeit von Polizei und Justiz. RSF fordert deshalb dringend effektiven Schutz.

Punkte verloren hat Deutschland auch in der Kategorie „sozialer Kontext“. Medienschaffende erleben zunehmende Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus, vor allem, wenn sie über diese Themen berichten.

Die Gesetzeslage ergibt ein zwiespältiges Bild: Positiv bewertet RSF den Digital Services Act der EU, der die großen Internetkonzerne in die Pflicht nimmt. In die richtige Richtung, so RSF, geht auch der Entwurf des European Media Freedom Act, der Europa vor Desinformation schützen soll. Problematisch ist die von der EU geplante Chatkontrolle. Zum Kinderschutz gedacht, würde sie auch in Deutschland eine fast vollständige Überwachung journalistischer Chats ermöglichen. Kritik gibt es auch am novellierten BND-Gesetz, gegen das RSF Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, weil es ausländischen Journalistinnen und Journalisten weiterhin weniger Schutz bietet als inländischen. Auch gegen das Artikel-10-Gesetz, das das Ausspähen Medienschaffender durch Software wie den sogenannten Staatstrojaner erlaubt, klagt RSF in Karlsruhe.

Die Medienvielfalt in Deutschland war 2022 weniger von Zusammenlegungen oder Schließungen von Tageszeitungen bedroht. Auswirkungen hatten aber die Entscheidungen großer Verlagshäuser, Zeitschriften einzustellen, sowie Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Auf den ersten und letzten drei Plätzen der Rangliste gibt es zum ersten Mal seit mehreren Jahren signifikante Veränderungen. Norwegen belegt zum siebten Mal in Folge den ersten Platz. Es ist das einzige Land, das bei allen Indikatoren mehr als 90 von 100 Punkten erzielt hat. Erstmals seit langem folgt auf dem zweiten Platz mit Irland ein Land außerhalb Skandinaviens. In Irland hat der Pluralismus auf dem Medienmarkt zuletzt zugenommen, ein neues Verleumdungsgesetz schützt Medienschaffende vor missbräuchlichen Klagen, und die Regierung hat sich bereit erklärt, den Großteil der Vorschläge einer Kommission für die Zukunft der Medien umzusetzen. Damit verdrängt Irland Dänemark vom zweiten auf den dritten Platz. Schweden fällt aus den Top 3 auf den vierten Platz. Mit einer Verfassungsänderung wurde dort Auslandsspionage unter Strafe gestellt und ins Strafgesetzbuch aufgenommen, was gegen Medienschaffende, Whistleblowerinnen und Whistleblower verwendet werden könnte. Zudem gab es einige Fälle von Polizeigewalt.

Die letzten Plätze belegen in diesem Jahr ausschließlich Regime in Asien. In Vietnam (178, -4) hat die Regierung ihre Jagd auf unabhängige Reporter und Kommentatoren fast abgeschlossen. Zuletzt traf es den Blogger Nguyen Lan Thang. Mitte April verurteilte ihn ein Gericht in Hanoi wegen „Propaganda gegen den Staat“ zu sechs Jahren Haft. Inhaftierte Medienschaffende sind teils entsetzlichen Haftbedingungen ausgesetzt: Sie werden misshandelt, isoliert und bekommen keine ärztliche Versorgung. Im August starb deshalb der Blogger Do Cuong Dong in Gewahrsam. In Vietnam geraten kritische Bloggerinnen und Blogger oft ins Visier der Behörden, weil sie die einzigen Quellen für unabhängig recherchierte Informationen sind. Die traditionellen Medien folgen den Anweisungen der seit 1975 regierenden Kommunistischen Partei.

Weiter verschlechtert hat sich auch die Situation in China (179, -4), einem der größten Exporteure von Propaganda. In keinem Land sitzen mehr Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, aktuell sind es mindestens 100. Mehr als zehn von ihnen könnten im Gefängnis sterben, wenn sie nicht sofort freigelassen werden. Mit einer seit Mao Zedong nie dagewesenen Machtkonzentration hat sich Staats- und Parteichef Xi Jinping eine historische dritte Amtszeit gesichert und setzt seinen vor zehn Jahren begonnenen Feldzug gegen den Journalismus fort. Wenig überraschend bleibt Nordkorea (180) auf dem letzten Platz, wo die Regierung keinerlei unabhängige Berichterstattung zulässt.

Die Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen vergleicht die Situation für Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Staaten und Territorien. Sie stützt sich auf fünf Indikatoren: Neben Sicherheit sind dies politischer Kontext, rechtlicher Rahmen, wirtschaftlicher und soziokultureller Kontext. Diese Indikatoren werden in jedem der 180 untersuchten Staaten und Territorien ermittelt – zum einen auf Grundlage einer qualitativen Untersuchung, für die ausgewählte Journalistinnen, Wissenschaftler und Menschenrechtsverteidigerinnen in den jeweiligen Ländern einen Fragebogen mit 123 Fragen beantworteten, zum anderen auf Grundlage von quantitativen Erhebungen zu Übergriffen auf Journalisten und Medien, deren Zahl in den Indikator Sicherheit einfließt. Mittels einer Formel wird daraus ein Punktwert zwischen 0 und 100 ermittelt, wobei 0 das schlechtestmögliche und 100 das bestmögliche Ergebnis ist. Aus der Abfolge der Punktwerte der einzelnen Länder ergibt sich die weltweite Rangliste.

Zur 20. Ausgabe wurde die Rangliste 2022 erstmals mit einer neuen Methode ermittelt, um die Komplexität der Verhältnisse, die die Pressefreiheit weltweit beeinflussen, besser widerzuspiegeln. RSF hat die neue Methodik mit einem Expertenkomitee aus Medien und Forschung erarbeitet. Aufgrund der geänderten Methodik ist beim Vergleich der Rangliste insgesamt und von einzelnen Ergebnissen vor und nach 2021 Vorsicht geboten.

Für das Kalenderjahr 2022 hat Reporter ohne Grenzen (RSF) in Deutschland insgesamt 103 Angriffe auf Medienschaffende geprüft und dokumentiert. Das ist der höchste Stand seit Beginn der Zählung im Jahr 2015. Zum Vergleich: 2021 gab es 80 Angriffe, 2020 waren es 65. Das Ausmaß der Gewalt gegen Medienschaffende dürfte in der Realität noch größer sein, von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. Da es zu vielen Fällen von Übergriffen und Angriffen nur Schilderungen, aber keine Ermittlungen oder Gerichtsverfahren gibt, kann eine solche Zählung wissenschaftlichen oder juristischen Kriterien nicht genügen. Dazu kommt, dass es, wenn Medienschaffende selbst angegriffen werden, naturgemäß relativ wenige Bildbeweise gibt.

Am häufigsten waren im Jahr 2022 Tritte und Schläge, auch mit Gegenständen (wie Plakaten, Trommelklöppeln oder Quarzhandschuhen). Als Angriff gewertet wurden diese, sofern sie die Körper und / oder die Ausrüstung von Journalisten tatsächlich getroffen haben. Medienschaffende wurden auch mit Gegenständen beworfen (z.B. Eiern, Glasflaschen oder Schlamm), festgehalten, an den Haaren gezogen oder gewürgt. In anderen Fällen hielten Angreifende ein Megafon mit lauten Geräuschen an das Ohr der Betroffenen, rissen ihnen die Corona-Schutzmaske herunter oder schubsten sie so, dass sie stürzten oder verletzt wurden.

Mit rund 84 Prozent (87 von 103 Fällen) fand die Mehrheit der Angriffe im verschwörungsideologischen, antisemitischen oder extrem rechten Kontext statt. Seit Beginn der Pandemie haben extrem rechte Personen und Gruppen an den Veranstaltungen der Querdenken-Bewegung teilgenommen und dort Journalisten angegriffen; inzwischen werden diese Veranstaltungen häufig von bekannten Rechtsextremen organisiert, so dass eine analytische Trennung von extrem rechten und anderen Motiven nicht mehr möglich ist.

Bei 36 dieser Angriffe konnte ein rechter bis extrem rechter Hintergrund bestätigt werden, etwa weil die Angreifenden namentlich bekannt oder Mitglieder rechter Organisationen wie AfD, Die Basis, Dritter Weg, Freie Sachsen und NPD sind. Neben Angriffen aus extrem rechten Parteien und militanten Neonazi-Organisationen wie dem Thüringer Heimatschutz sowie der verbotenen nationalsozialistischen Vereinigung Combat 18 waren auch rechtsextreme Hooligans von Dynamo Dresden beteiligt. Am 1. Oktober griffen sie einen Reporter des Kurier sowie mehrere Polizisten an und brachten die beiden Kameras des Reporters in ihren Besitz.

Der gefährlichste Ort für Journalisten waren in Deutschland Demonstrationen, hier wurden rund 84 Prozent der Angriffe (86 von 103 Fällen) gezählt. Die meisten der 103 verifizierten Angriffe ereigneten sich in Sachsen (24), gefolgt von Berlin (17), Thüringen (13), Bayern (10), Baden-Württemberg (9), Sachsen-Anhalt (7), Rheinland-Pfalz (5), Mecklenburg-Vorpommern (4), Niedersachsen (4), Hessen (3), Nordrhein-Westfalen (3), Schleswig-Holstein (2), Hamburg (1) und Saarland (1). Am 6. Januar übergossen Teilnehmende eines „Querdenken“-Protests im bayerischen Mittenwald einen Fotografen von hinten mit Kerzenwachs. Bei einem sogenannten Montagsspaziergang am 26. Januar in Homburg (Saar) rammte  ein rechtsextremer Teilnehmer einem Reporter der Rheinpfalz mit voller Wucht den Kopf in den Bauch. Der Täter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei einem Gedenkmarsch der Neonazipartei „Freie Sachsen“ am 13. Februar hielt ein Teilnehmer einem Kameramann eine Kerze unter dessen Vollbart und brannte diesen teilweise ab.  Wie bereits in den Vorjahren wurde Jörg Reichel, Geschäftsführer der dju in ver.di Berlin-Brandenburg, der seit langem als Kontaktperson für den Schutz von Journalisten auf Demonstrationen gilt, auch im Jahr 2022 angegriffen. Demonstrierende traten dem Gewerkschafter am 23. April in Berlin von hinten in die Beine, schubsten ihn und forderten ihn auf, die Versammlung zu verlassen. Am 27. April schlug ein Demonstrant in München einem Journalisten mit der Faust ins Gesicht. Am Rande einer Demonstration am 3. Oktober im thüringischen Heiligenstadt erlitt ein Journalist blaue Flecken und einen Schlag auf die Schläfe. Sein Begleitschutz wurde ebenfalls angegriffen und leicht verletzt. 

Seit zwei Jahren haben gewalttätige Teilnehmende der Querdenken-Proteste die Erfahrung gemacht: Mit Strafen müssen sie kaum rechnen. Obwohl die Polizei Betroffenen zufolge oft vor Ort war und manchmal unmittelbar daneben stand, griff diese oft nicht ein und leitete auch keine Ermittlungen ein. Nicht einmal in der Hälfte der 103 Fälle entschieden Betroffene sich aus Angst vor Bloßstellung in rechten Netzwerken für eine Anzeige, noch wurde von Amts wegen ermittelt.

Erstmals hat RSF Betroffene systematisch zu ihren Erfahrungen mit der Polizei befragt. In knapp einem Drittel aller Fälle (27 von 88) verhielt sich die Polizei nach einem Angriff zur Zufriedenheit der Journalisten, etwa indem sie diesen half, wieder aufzustehen, freundlich mit ihnen sprach, eine Anzeige aufnahm oder Tatverdächtige festnahm. In einzelnen Fällen eskortierte die Polizei Reporter aus Demonstrationen hinaus, so dass diese zwar in Sicherheit waren, aber nicht mehr aus der Nähe berichten konnten. 

In knapp einem Fünftel der Fälle (17 von 88) gaben die Betroffenen an, dass ihnen Unterstützung verwehrt blieb, obwohl sich Polizisten ganz in der Nähe aufhielten oder zum Einschreiten aufgefordert wurden. Betroffene berichteten RSF auch von einer Täter-Opfer-Umkehr durch die Polizei. Polizisten gaben den Journalisten die Schuld oder eine Mitverantwortung dafür, angegriffen worden zu sein. Statt die Tatverdächtigen zu verfolgen,  nahm die Polizei  die Personalien der Journalisten auf. 

In sechs Fällen griffen Polizisten Pressevertreter an. Bei einer „Querdenken“-Demonstration am 14. Februar 2022 in Hannover schubste ein Polizist einen filmenden Journalisten und schlug ihm das Smartphone aus der Hand. Ein Journalist beschrieb anonym, die Polizei habe ihm – offenbar absichtlich – Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, obwohl er auf seinen Pressestatus hingewiesen habe. Auf eine Anzeige verzichtete die betroffene Person. In einem anderen der sechs Fälle entschuldigte sich die Polizei im Nachhinein. Viele Journalisten, die über die extreme Rechte recherchieren, arbeiten seit Jahren mit Begleitschutz. Regional bieten zivilgesellschaftliche Organisationen an, auch freie Journalistinnen bei ihren Einsätzen zu begleiten. Insbesondere weibliche und queere Medienschaffende erhalten regelmäßig Beleidigungen hinsichtlich ihrer Kompetenz oder ihres Aussehens, Vergewaltigungs- und Morddrohungen – auf der Straße ebenso wie per Post, per E-Mail, per Telefon und in den Sozialen Medien.

Anlass zur Sorge bietet für den RSF weiterhin die Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung, die 2021 für fünf Jahre beschlossen wurde und eine Ausweitung der Befugnisse für Sicherheitsbehörden vorsieht. Die schwarz-rote Bundesregierung beabsichtigte unter anderem die „Entwicklung technischer und operativer Lösungen für den rechtmäßigen Zugang zu Inhalten aus verschlüsselter Kommunikation (…)”, also eine Umgehung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mittels Hintertüren, die die IT-Sicherheit aller Nutzer erheblich schwächen würde. RSF sieht insbesondere die Vertrauenswürdigkeit digitaler Kommunikationsmittel nach wie vor bedroht, auf die Medienschaffende und ihre Quellen im Alltag angewiesen sind.

Hinzu kommen Befugnisse zur aktiven Cyberabwehr und der Ausbau der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (​​ZITiS), bislang ohne eine gesetzliche Grundlage. Zwar soll diese Grundlage geschaffen werden, jedoch kritisiert RSF die immer weiter vorangetriebene Ausweitung der behördlichen Überwachungsbefugnisse ohne Prüfung einer tatsächlichen Notwendigkeit sowie Effektivität und Berücksichtigung einer ganzheitlichen Auswirkung auf Grund- und Menschenrechte. Insbesondere zeigt sich, dass der Gesetzgeber bei einem Mehr an Befugnissen für Sicherheitsbehörden es versäumt hat, eine angemessene Kontrolle sicherzustellen. So verwiesen Medienberichte im März 2023 darauf, dass das Bundeskriminalamt (BKA) und ZITiS bereits seit anderthalb Jahren an einem „Live-Zugang” zu verschlüsselten Smartphones arbeiten − ohne Kenntnis der Bundesregierung und entgegen dem Koalitionsvertrag.

Bereits Ende 2021 hätte die Bundesregierung die EU-Richtlinie zum Whistleblowerschutz umsetzen müssen. Im Dezember 2022 verabschiedete der Bundestag ein entsprechendes Gesetz, das jedoch im Bundesrat von unionsregierten Ländern wieder gestoppt wurde. Das EU-weit gültige Ziel: Wer Korruption, Missstände oder Betrug meldet, soll besser geschützt werden, sowohl in Behörden als auch in Unternehmen. Bereits der ursprüngliche deutsche Gesetzesentwurf war teilweise als zu wenig hilfreich kritisiert worden: RSF hielt die Anforderungen für zu hoch, die regeln, wann Informanten mit ihrem Verdacht oder ihrem Wissen an Medien herantreten dürfen. Dadurch werde die Zusammenarbeit von Investigativjournalismus und Hinweisgebenden vor allem bei Wirtschaftskriminalität und illegalen Geheimdienstaktivitäten erschwert. Kritisiert wird auch die Verpflichtung, dass Informanten sich zunächst an nicht-öffentliche interne oder externe Meldestellen wenden müssen. Ebenso ist die Weitergabe als vertraulich oder geheim eingestufter Dokumente kaum geschützt.

Bereits Mitte März 2023 unternahmen die Regierungsfraktionen einen neuen Anlauf, die EU-Richtlinie umzusetzen und dabei teilweise den Bundesrat zu umgehen.

Mächtige Akteure überziehen einzelne Journalisten oder Medienhäuser mit Drohungen und Zivilklagen, um sie einzuschüchtern. Genannt wird dies SLAPP, kurz für „Strategic Lawsuits Against Public Participation“. Finanzstarke Unternehmen reichen Zivilklagen ein, die oft unbegründet sind oder sich an Formfehlern aufhängen; ihre Anwälte versuchen sogar, Berichterstattung bereits im Vorfeld gänzlich zu verhindern. Freie Journalisten und kleinere Zeitungsverlage oder alternative Publikationen ohne finanzielle Rücklagen sind besonders gefährdet. SLAPP-Klagen bewegen sich dabei in einem Spannungsfeld von legitimem Rechtsgebrauch und offenkundigem Rechtsmissbrauch.

In der EU ist derzeit eine Richtlinie gegen Einschüchterungsklagen in Vorbereitung, deren Erarbeitung RSF unter anderem im Rahmen des zivilgesellschaftlichen NO-SLAPP-Bündnisses in Deutschland und auf EU-Ebene begleitet. Ziel ist es, dass offenkundig unbegründete Klagen frühzeitig von nationalen Gerichten abgewiesen werden können. RSF beobachtet, dass Journalisten vor allem grenzüberschreitend mit SLAPP von Unternehmen bedroht werden, die politische Interessen durchsetzen wollen − insbesondere aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, in denen die Rechtsstaatlichkeit schwach ausgeprägt ist. Deswegen begrüßt RSF, dass die geplante EU-Richtlinie bei grenzüberschreitenden Klagen auch in Deutschland greifen und bestehende zivilrechtliche Lücken schließen würde. Zudem empfiehlt sie den Mitgliedstaaten, auch strafrechtliche Lücken zu schließen, deren Regulierung nicht in der EU-Kompetenz liegt.

Auch jenseits von SLAPP-Klagen stehen Gerichte nicht immer auf Seiten der Pressefreiheit. Am deutlichsten wurde das beim Urteil im Fretterode-Prozess: Zwei aktive Neonazis, die 2018 im thüringischen Fretterode zwei Journalisten in ihrem Auto überfallen und schwer verletzt hatten, wurden nach etlichen Ermittlungspannen im September 2022 lediglich zu Bewährungsstrafen und Sozialarbeit verurteilt. Die Richterin am Landgericht Mühlhausen sah in dem Überfall keinen gezielten Angriff auf Journalisten und die freie Presse. Das Urteil stieß bundesweit auf scharfe Kritik; es sei nicht nachvollziehbar, dass das Gericht die politische Motivation der Tat nicht berücksichtigt habe, so die Staatsanwaltschaft. 

Das Landgericht Berlin wies im Dezember 2022 eine Klage der Journalistin Lea Remmert auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen das Land Berlin ab. Remmert war während TV-Aufnahmen bei der 1.-Mai-Demo 2020 in Berlin nachweislich von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen worden, so dass sie stürzte und zwei Zähne verletzt wurden. Das Gericht argumentierte, zum einen habe der gewalttätige Polizist nicht ermittelt werden können, zum anderen sei nicht zu klären, ob dieser vorsätzlich oder fahrlässig zugeschlagen oder sie nur unbeabsichtigt getroffen habe. Der Journalistin wurde sogar eine Mitschuld unterstellt, da sie sich im Bereich einer gewalttätigen Demonstration aufgehalten hatte. 

Aktiv wurde das Landeskriminalamt Niedersachsen bei der Journalistin Andrea Röpke, die bekannt ist für ihre Recherchen und Veröffentlichungen über das rechtsextreme Milieu. Die Abteilung Staatsschutz hatte aufgrund einer Verleumdungsanzeige gegen Röpke durch einen AfD-Politiker ihre Daten gespeichert und auch in einen nationalen Datenpool für „politisch motivierte Straftaten … von erheblicher Bedeutung“ eingestellt. Einer Klage dagegen seitens der Journalistin hat das Verwaltungsgericht Stade stattgegeben.

Während in den vergangenen Jahren Übergriffe der Polizei auf Medienschaffende vor allem im Zusammenhang mit Querdenker-Demonstrationen standen, wurden 2022 und im ersten Quartal 2023 Vorfälle vermehrt von Klimaschutzdemonstrationen oder Aktionen von Gruppen wie „Letzte Generation“, „Fridays for Future“ und ähnlichen gemeldet. Journalist*innen, die Aktionen wie das Festkleben auf Straßen dokumentieren, werden zur Seite geschubst, am Fotografieren oder Filmen gehindert. So wurde beispielsweise einer Redakteurin des „ND – Der Tag“ am 18. Mai während einer Aktion gegen die Raffinerie Schwedt im Mai in Brandenburg das Redaktionsequipment mit Laptop und Handy abgenommen. Der Journalist Danni Pilger, der regelmäßig über die Aktionen von Klimaaktivisten unter anderem auf Twitter berichtet, wurde im April in Frankfurt am Rande einer solchen Aktion für zweieinhalb Tage in Polizeigewahrsam genommen. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele.

Einen frühen Höhepunkt im Jahr 2023 stellen die Vorgänge bei den Protestaktionen in Lützerath dar, als die Polizei das besetzte Dorf am Rande des Braunkohletagebaus geräumt hat. Dabei wurde gewaltsam nicht nur gegen Aktivisten und Demonstrierende vorgegangen, sondern auch gegen Medienschaffende, was RSF kritisierte, so wie viele andere Organisationen. Die dju in ver.di beobachtete schon im Vorfeld der Räumung immer wieder gewalttätige Angriffe auf Medienvertreter und eine Behinderung der Pressearbeit durch die Polizei und Sicherheitsunternehmen. Kritisiert wurde auch die Akkreditierungspraxis der Polizei. Ein Presseleitfaden der Polizei Aachen enthielt zahlreiche, nicht gerechtfertigte Einschränkungen von Pressearbeit.

Die Medienvielfalt in Deutschland war 2022 anders als in den vergangenen Jahren weniger davon bedroht, dass Tageszeitungen zusammengelegt oder geschlossen worden wären. Massive Auswirkungen hatten aber die Entscheidungen großer Verlagshäuser, Zeitschriften einzustellen, sowie Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR). rbb-Skandal – dieses Schlagwort prägte ab Sommer das Medienjahr 2022. Und es rückte Fehlverhalten auch in anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ins Blickfeld, insbesondere beim NDRund BR. Das erschütterte Vertrauen in den ÖRR, und das zögerliche Verhalten der Politik bei der Reformdebatte hat Auswirkungen auf die Rundfunkfreiheit.

Der neue bundesweite Medienstaatsvertrag (MStV), der am 1. Juli 2023 in Kraft treten soll, sollte ursprünglich eine Strukturreform der ÖRR beinhalten. Er nimmt nur am Rande Bezug auf die Skandale; nachjustiert wurde durch die Einführung einheitlicher Compliance-Regelungen für ARD, ZDF und DLR. Gestärkt werden auch die Aufsichtsgremien, doch Diversität ist dort kaum verwirklicht: Vertreter der Zivilgesellschaft sind unterrepräsentiert, Publikumsvertreter weiterhin nicht vorgesehen. Mehrere Ministerpräsidenten sowie Dutzende Staatssekretäre und Minister sitzen persönlich in den Rundfunkgremien.

Seit Anfang 2023 kündigten die Konzerne Bertelsmann, Springer und Burda massive Stellenkürzungen sowie Einstellung und Verkauf von Magazinen an. Im Februar verkündete Bertelsmann-Chef Thomas Rabe das Aus für seinen Hamburger Verlag Gruner & Jahr und für mehr als  20 Zeitschriften. Sie sollen entweder eingestellt oder verkauft, 700 Stellen sollen abgebaut werden. Wenig später erklärte Springer SE, dass der Konzern in den kommenden drei Jahren 100 Millionen Euro mehr erwirtschaften will – vor allem durch Sparmaßnahmen in den Printredaktionen von BILD und WELT. 

Insgesamt leidet die Presse unter massiven Kostensteigerungen: Die Papierpreise haben sich verdoppelt, auch Druckfarben und -platten sind massiv teurer geworden. Der gestiegene Mindestlohn gilt auch für das Zustellpersonal. Die Funke Mediengruppe hat im März 2023 deshalb die Zustellung ihrer Ostthüringer Zeitung in ländlichen Regionen eingestellt, in denen der weite Weg von Briefkasten zu Briefkasten diese unrentabel macht. Die Leserschaft wird dort auf digitale Angebote bei reduziertem Preis umgestellt, ihr werden dafür Schulungen angeboten. 

Die Werbeeinnahmen sind weiter rückläufig. Zwar sieht der Koalitionsvertrag eine finanzielle Unterstützung der Presse vor, aber bisher wird über die konkrete Ausgestaltung noch nicht einmal diskutiert. Angesichts der Krise der Printzeitung und der Gefahr einer schrumpfenden Medienvielfalt wird seit Jahren die steuerliche Förderung von gemeinnützigem Journalismus gefordert. Diese einzuführen, ist ein noch uneingelöstes Versprechen im Koalitionsvertrag. 

 

„Es ist nur eine Zeit in einer Zeit – nur ein Traum, nur ein Traum…

Seit Jahrzehnten stecken sie in einer „amour fou“ und finden keinen Ausweg, egal was sie auch tun. Stevie Nicks und Lindsey Buckingham verband schon in ganz jungen Jahren eine tiefe Liebe. Sie lernten sich in den 60er Jahren in der Schule in Kalifornien kennen. Die Liebe brachte Stevie dazu, als Kellnerin zu arbeiten, damit Lindsey sich ganz dem Komponieren widmen konnte. Nachts sangen und musizierten sie gemeinsam und arbeiteten an ihrem großen Traum: Sie wollten von ihrer Musik leben können. Beide sind außergewöhnlich kreative Menschen. Buckingham, der heute zu den weltweit besten Gitarristen zählt, ist ein vollständiger Autodidakt. Zusammen mit der charismatischen Stevie Nicks bildete er ein eindrucksvolles Duo. Als Ehepaar nahmen die beiden schon früh eine LP auf, die aber nicht für den ersehnten Durchbruch sorgte.

Der kam, als sich beiden Mitte der 70er Jahre die Chance bot, gemeinsam zu Fleetwood Mac zu stoßen. Es wurden die erfolgreichsten Jahre für die Gruppe, wie auch das junge Paar. Sie kamen ganz oben an. Auf ihre Beziehung wirkte der Erfolg allerdings wie Gift. Stevie Nicks hätte gern Kinder gehabt – ein Wunsch, der in all den Proben und Tourneen völlig unterging. Ein Ausbruchversuch der charismatischen Sängerin in eine Affaire mit dem Gruppengründer Mick Fleetwood bedeutete das Ende für ihre Beziehung mit Lindsey, der über den Vertrauensbruch nicht hinweg kam.

Es folgten wilde Jahre, in denen es beide mit anderen Partnern versuchten, aber weiter miteinander arbeiteten. Daneben trieben sie auch eigene Solokarrieren voran. Stevie Nicks wurde süchtig nach Kokain und anderen Drogen, dann depressiv, hielt sich immer wieder in Entzugskliniken auf und musste mit Antidepressiva behandelt werden. Lindsey schlug die vertrackte Situation auf’s Herz, wo er erblich vorbelastet war. Nach mehren Infarkten ist er inzwischen ein ziemlich kranker Mann. Seit 2018 wirkt er bei Fleetwood Mac nicht mehr mit. Auslöser war angeblich die Kollision eines Tourneeplans der Gruppe mit seiner geplanten Vermarktung eines Soloalbums. Hinter den Kulissen hört man jedoch, dass Stevie Nicks keine Kompromisse mehr wegen Buckingham machen wollte. Die Band brauchte sie mehr als ihn – so musste er gehen.

Wann immer jedoch die beiden zusammen auftreten, spürt man die intensive Spannung und die nicht verarbeiteten Gefühle zwischen ihnen. Auch daraus entstand wieder sehr intensive Musik, wie hier in dem Stück „Say goodbye“. Wirklich Abschied genommen haben die beiden auch nach diesem Lied im Jahr 2005 nicht.

Ich sah gestern dein Gesicht – jetzt denke ich an die alten Tage

und den Preis, den wir zahlen mussten für eine Liebe, die wir nicht festhalten konnten.

Oh, ich ließ dich weg gleiten – da war nichts, was ich hätte tun können.

Das war vor langer Zeit, aber ich denke noch immer oft an dich.

Ich falle und stehe wieder auf, und ich hatte immer Kämpfe auszutragen

gegen alles, was falsch war und für alles, was richtig war.

Jetzt hab ich endlich meinen Weg gefunden, jetzt weiß ich, was zu tun ist:

Einst hast du Abschied von mir genommen und jetzt nehme ich Abschied von dir.

Es ist so schwer, den Weg zu finden, wenn die ganzen Lügner herbeikommen

Aber das passiert immer noch jeden Tag – lass dich also nicht davon unterkriegen.

Es ist nur eine Zeit in einer Zeit, ein Schema innerhalb eines anderen

Eine kleine Welt in einer anderen Welt – nur ein Traum, nur ein Traum…

Jetzt habe ich endlich meinen Weg gefunden, jetzt weiß ich, was ich tun muss:

Einst hast du von mir Abschied genommen, jetzt nehme ich Abschied von dir.

Und nun mache ich mich am besten auf den Weg, bevor die Nacht ins Blaue dreht

Einst nahmst du Abschied von mir, und jetzt nehme ich Abschied von dir…

Tibet nach 64 Jahren Besatzung: Wie China die Identität eines Volkes systematisch ausradiert

Der 10. März ist in Tibet ein Tag der Trauer und des Kampfes gegen das Vergessen. An diesem Tag im Jahr 1959 brach im Land ein Aufstand aus: Das Volk rebellierte gegen die Chinesen, die sich das dünn besiedelte Tibet bereits 1950 einverleibt hatten und seinen spirituellen Führer nicht akzeptierten. Am 17. März 1959 musste der Dalai Lama bei Nacht und Nebel flüchten. Zu Fuß und verkleidet überwand er das Hochgebirge. Seither residiert er auf der indischen Seite des Himalaya. Am 21. März 1959 wurde der Volksaufstand in Tibet brutal niedergeschlagen. Zehntausende Einheimische verloren dabei ihr Leben. Seitdem zerstören die Besatzer systematisch die gewachsene Kultur und nationale Identität des Landes.

Wenn man wissen will, wie China mit Nationen umgeht, deren Staatsgebiet es annektiert hat, sollte man sich die Geschichte Tibets anschauen – die, wie es aussieht, zurzeit in ihre letzte Dekade geht. 64 Jahre nach der Annexion ist der Dalai Lama hoch betagt. Die Besatzer maßen sich an, seinen Nachfolger zu bestimmen, haben den von tibetischen Mönchen gefundenen Jungen an einen unbekannten Ort verschwinden lassen. Dabei folgt das Finden eines neuen Dalai Lamas traditionell strengen Regeln: Das Kind muss sich als Wiedergeburt eines früheren Dalai Lamas beweisen.

Die Mönche, geistige Elite des Landes, werden systematisch schikaniert und willkürlich ins Gefängnis geworfen, wo man sie foltert, bis sie sterben. Unterrichten dürfen sie nicht mehr. Die traditionellen Nomaden werden gezwungen, sich in Siedlungen niederzulassen, gebaut von den Chinesen. Rund eine Million Kinder schickt man in weit entfernte Internate, wo sie mandarin sprechen müssen. Der Besitz eines Fotos, das den Dalai Lama zeigt, wird mit Gefängnis bestraft. Die reichen Ressourcen des Landes werden systematisch zum Wohle Chinas ausgebeutet.

Tibet ist der Mittelpunkt des tibetischen Buddhismus, der als Vajrayana bekannt ist. Der Buddhismus in Tibet hatte sich zunächst seit dem 8. Jahrhundert und später ab dem 11. Jahrhundert in vier großen Schulen (Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelugpa) entwickelt. Der  14. Dalai Lama ist zugleich bedeutender Repräsentant einer Mahayana-Schule (Gelugpa) und wird von der tibetischen Exilregierung als Staatsoberhaupt anerkannt. Die vorbuddhistische tibetische Religion ist der Bön (genannt auch Bon-Religion); sie ist von buddhistischen Einflüssen stark durchdrungen – ebenso wie der tibetische Buddhismus wiederum vom Bön beeinflusst wurde. Eine religiöse Kunstform stellen tibetisch-buddhistische Wandmalereien dar. Ein besonderer Kulturschatz sind Statuen, Glocken und Ritualgegenstände, die aus der Legierung Dzekshim gefertigt wurden. Auch sie werden systematisch zerstört.

Die chinesische Verwaltungsgliederung des größten Teils des historischen Großraums Tibet umfasst heute das Autonome Gebiet Tibet (AGT) mit der Hauptstadt Lhasa sowie zehn Autonome Bezirke und zwei Autonome Kreise in den Provinzen Qinghai, Sichuan, Yunnan und Gansu. Teile des historischen Siedlungsgebietes des Volkes der Tibeter außerhalb Chinas liegen in Pakistan, Indien, Nepal, Bhutan und Myanmar.

Insgesamt etwa 5,2 Millionen Tibeter leben in Tibet, dazu haben sich inzwischen etwa 5,3 Millionen Chinesen angesiedelt. Auch so kann man das gewachsene Leben in einem Land schleichend verändern. Etwa eine halbe Million Menschen leben in der Hauptstadt Lhasa, davon rund 80 Prozent Tibeter. Der wasserreichste Fluss Asiens, der Brahmaputra, entspringt in Tibet und heißt dort Yarlung Tsangpo. Er ist Teil von Chinas erbittertem Krieg um Wasser. Der Bergbau soll zu einer weiteren Säule der tibetischen Wirtschaft werden. Im Land sind Lagerstätten von Bodenschätzen wie Chrom, Kupfer, Magnesit, Bor, Blei, Gold, Erdöl, Eisen, Lithium, Kaliumchlorid, Aluminium, Zink und mehr.  Außerdem meldete die chinesische Regierung die Entdeckung von großen mineralischen Lagerstätten unter dem tibetischen Hochland. Die Lagerstätten sind nicht sehr weit von der Lhasa-Bahn entfernt und könnten die in China vorkommenden Bodenschätze an Zink, Kupfer und Blei verdoppeln.

Die Internationale Kampagne für Tibet (ICT) ist eine der Organisationen, die regelmäßig über die Zustände im Land berichtet, das Handeln der Besatzer weltweit anklagt und sich für Verbesserungen einsetzt. Ausländische Journalisten dürfen kaum noch ins Land. Im Jahresrückblick 2022 der ICT heißt es unter anderem: Im osttibetischen Drango ließen die Chinesen zwei riesige Buddha-Statuen und 45 tibetische Gebetsmühlen vernichten. Die Bevölkerung wurde gezwungen, der Zerstörung eines 30 Meter hohen Buddhas beizuwohnen. Seit dem Ende der Winterferien werden alle tibetischen Kinder in allen Fächern in chinesischer Sprache unterrichtet. Auch die Lehrbücher sind jetzt in chinesisch geschrieben.

Dem Mönch und Schriftsteller Go Sherab Gyatso, der seit 2021 eine zehnjährige Haftstrafe absitzt, geht es gesundheitlich sehr schlecht. Er hat eine chronische Lungenkrankheit, die nicht angemessen versorgt wird. Die ICT prangert immer wieder die willkürlichen Verhaftungen von Tibetern an, die dann an unbekannten Orten festgehalten werden. Das Verschwindenlassen von Menschen sei Teil eines Repressionsmusters zur Unterdrückung abweichender Meinungen, erklärte Geschäftsführer Kai Müller in einer Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat. Immer wieder protestieren Männer gegen diese Repressionen mit Selbstverbrennung. Laut Zählung der ICT sind inzwischen 159 Personen qualvoll daran gestorben. Im März wurde allen Verschleierungsversuchen der Behörden zum Trotz bekannt, dass der beliebte tibetische Sänger Tsewang Norbu den schweren Verletzungen erlegen ist, die er sich im Februar bei seiner Selbstanzündung zugefügt hat. Ebenfalls im März setzte sich der 81jährige Tibeter Taphun vor der Polizeistation am Kloster Kirti in Brand und starb später an seinen Verletzungen.

Im Mai fordern die G7-Außenminister ungehinderten Zugang zu Tibet. Im Juni legt das ICT einen Bericht vor, der insgesamt 50 Fälle tibetischer Umweltaktivisten beschreibt, die von China verfolgt wurden. Dr. Gyal Lo, ein tibetischer Erziehungswissenschaftler, der 2021 aus China ausreisen konnte, berichtet unter anderem im deutschen Bundestag, dass bereits vierjährige Kinder in Internate gebracht werden, in denen ausschließlich mandarin gesprochen wird. Kommen sie im Alter von sieben in die Grundschule, beherrschen bereits die meisten Kinder kaum noch ihre tibetische Muttersprache. Bis zum Alter von 18 Jahren müssen sie in den Schulen leben.

Ebenfalls im Juni werden die Schwestern Youdon und Zumkar inhaftiert. Auf ihrem privaten Hausaltar befand sich, was von den Besatzern streng verboten ist, ein Bild des Dalai Lama. Im Juli feiert der Dalai Lama seinen 87. Geburtstag in seiner Residenz im indischen Daramsala. Der internationale ITC-Vorsitzende Richard Gere gratuliert. Im August macht der UN-Sonderberichterstatter auf sogenannte „Arbeitsprogramme“ in Tibet aufmerksam und spricht ausdrücklich von vergleichbaren Formen der Zwangsarbeit in Xinjiang und Tibet. Im September belegt ein Bericht von Human Rights Watch die massenhafte und systematische Sammlung genetischer Daten in der tibetischen Bevölkerung.

Im Oktober verleiht die ICT erstmals den Menschenrechtspreis „Schneelöwe“ an den Anthropologen und China-Forscher Dr. Adrian Zenz und das Tibet Film Festival. Im Dezember protestiert die Tibeterin Gontey Tashi vor dem Gebäude des mittleren Volksgerichtes in Lhasa gegen die Inhaftierung ihres Bruders Dorjee Tashi. Sie kann ihr Plakat rund 15 Minuten hoch halten, bevor sie abgeführt wird. Dorjee Tashi ist Geschäftsmann und Philantrop, der seit 2008 aus politischen Gründen eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt.

China reagiert harsch, wenn andere Nationen die Besatzung von Tibet und die Schikanen der Einwohner kritisieren. Es fordert von allen Staaten, mit denen es Wirtschaftsbeziehungen pflegt, die Anerkennung der „Ein China-Politik“. Dazu gehört auch, Taiwan als Teil Chinas zu akzeptieren. Seit der Regierung Schröder ist auch die Bundesregierung darauf eingeschwenkt und hat sich zu dieser Politik bekannt. Der Dalai Lama wird nur noch in seiner Funktion als spiritueller Führer empfangen – ein Akt, der dennoch jedes Mal für Verstimmung der chinesischen Führung sorgt. Seit der Machtergreifung Chi Jin Pings hat sich das aggressive Verhalten Chinas deutlich gesteigert: Jede Form der Kritik an seinem Umgang mit anderen Ethnien oder Bereichen, auf die die Volksrepublik Anspruch erhebt, wird zurück gewiesen und als Heuchelei westlicher Mächte mit dem Ziel der Spaltung Chinas diffamiert.

Update: UN Experts Express Concern Over Extensive Labour Exploitation in Tibet by China

Gold im Jahr 2022: Rege Bewegung auf dem Markt spiegelte die Weltlage

Jedes Jahr gibt es an verschiedenen Stellen unserer Welt Kriege. Aber keiner hat große Teile der Weltwirtschaft derart durcheinander geworfen, wie 2022 der Ukraine-Krieg. In seiner Folge gab es Hungersnot, Inflation und Rezessionsängste. Es gab neue Blockbildungen: NATO gegen Russland, USA gegen China. Harte Covid-Lockdown-Maßnahmen in China sorgten überdies für nachhaltige Störungen der Lieferketten. All dies sorgte auch für massive Entwicklungen auf dem Goldmarkt.

Enorme Zukäufe der Zentralbanken, unterstützt durch große Nachfrage des Einzelhandels und langsamere ETF-Abflüsse hoben die Gold-Nachfrage des Jahres 2022 auf ein Elfjahreshoch. Das berichtet der World Gold Council (WGC) in seinem jüngsten Jahresrückblick.

Die Nachfrage nach Gold stieg 2022 um 18 Prozent auf 4 741 Tonnen, fast wie 2011, einem Jahr mit außergewöhnlich hoher Investment-Nachfrage. Besonders im letzten Quartal wurde eine Rekord-Nachfrage von 1 337 Tonnen verzeichnet.

Dabei schrumpfte der Schmuck-Konsum um drei Prozent auf 2 086 Tonnen, vor allem auch, weil der Goldpreis im vierten Quartal stark anstieg. Die Investment-Nachfrage ohne außerbörslichen Handel stieg 2022 um 10 Prozent auf 1 107 Tonnen, die Nachfrage nach Goldbarren und -münzen um 2 Prozent auf 1 217Tonnen, während die ETF langsamer fielen als im Vorjahr (-110 vs. -189 Tonnen). 

Im zweiten Jahr in Folge gab es eine enorme Gold-Nachfrage der Zentralbanken, die den Jahreseinkauf in diesem Bereich auf ein 55 Jahre-Hoch von 1 136 Tonnen brachte. Die Nachfrage im Technologie-Sektor brach dagegen im vierten Quartal scharf ein, was hier zu einem Gesamt-Minus von 7 Prozent führte. Grund war, so der WGC, dass die globale wirtschaftliche Unsicherheit die Nachfrage der Verbraucher nach elektronischen Geräten dämpfte. Auch der im Jahresverlauf immer stärkere Dollar erwies sich als tückisch bei der Umrechnung des Goldpreises in nationale Währungen.

Die weltweite Goldversorgung stieg in 2022 um 2 Prozent auf 4 755 Tonnen. Die Minen-Förderung erreichte ein 4 Jahres-Hoch von 3 612 Tonnen.

Im Durchschnitt lag der LBMA-Goldpreis bei 1 800 $ pro Unze; in den einzelnen Ländern variierte der Preis in den lokalen Währungen jedoch deutlich. Das Jahr endete mit einem marginalen Gewinn von 0,4 Prozent, trotz deutlichen Gegenwindes durch den starken Dollar und international steigende Zinsen. Die Rege Verbrauchernachfrage hob die Preise für Münzen und Barren auf ein 9 Jahres-Hoch, obwohl der starke Dollar für zusätzliche Verteuerungen sorgte.

Die starke Nachfrage in Europa, der Türkei und dem Nahen Osten stand einer deutlichen Verringerung in China gegenüber, die mit den Covid-Begleiterscheinungen zusammen hing. Die Nachfrage in Indien blieb im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt stabil, obwohl lokale Preissteigerungen in den letzten Wochen des Dezember die Verkäufe sinken ließ.  

Die globale Minenproduktion stieg um 1 Prozent, verfehlte aber ihren Höhepunkt aus 2018. Recycling-Gold erreichte nur einen marginalen Zuwachs.

Im laufenden Jahr rechnet der WGC mit einem Ansteigen der Gold-Investments. Die außerbörsliche Nachfrage und die nach ETF scheint ähnlich zu bleiben wie 2022. Die Nachfrage im Einzelhandel werde geringer, aber dennoch gesund ausfallen, wenn die Inflationsängste sinken. In Asien dagegen erwartet man eine stabile und höhere Nachfrage. Rezession und geopolitische Risiken werden den Bedarf an Gold stabil halten und im Jahresverlauf zunehmendes Potential haben, schätzen die Analysten.

Dass die Einkäufe durch die Zentralbanken wieder das Niveau von 2022 erreichen, sei nicht klar, da geringere Geldreserven die Möglichkeiten der Banken einschränken könnten. Aufgrund verzögerter Bankenreports unterliege diese Einschätzung aber Unsicherheiten, wahrscheinlich zum Positiven hin.

Beim Goldschmuck erwartet der World Gold Council eine Stabilisierung auf hohem Niveau, wobei jedoch positive Entwicklungen in China durch ernste Wirtschaftsprobleme in anderen Ländern unterminiert werden könnten. Ein träger Start in 2023 könnte sich verlängern, wenn die lokalen Preise weiterhin so hoch bleiben. Bei der Gold-Versorgung erwartet man einen bescheidenen Anstieg aufgrund der Ausweitung bereits begonnener Projekte. Im Recyclingbereich wird eine weitere Verlangsamung erwartet, wobei eine Verbesserung durch eine geringere Rezession in den westlichen Märkten nicht ausgeschlossen wird.

Eine Statistik darüber, wer genau wie viel Gold gekauft hat, beziehungsweise jetzt besitzt, gibt es dieses Jahr nicht. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen haben dafür gesorgt, dass An- und Verkäufe teilweise nicht wie sonst gemeldet wurden. So hat beispielsweise Russland seine letzte Meldung im Januar 2022 gemacht: Da waren seine Goldreserven um 3 Tonnen gesunken. Vermutet wird ein Bestand von 2 299 Tonnen.

Gegen Jahresende meldete China die erste Steigerung seiner Goldreserven seit September 2019: Die Bank des Volkes (PBoC) teilte mit, 62 Tonnen des Edelmetalls gekauft zu haben, womit die offiziellen Goldreserven des Landes auf über 2000 Tonnen gestiegen sind. Es wird jedoch seit langem vermutet, dass die Goldbestände des Landes wesentlich höher sind. Es gibt statt dessen interaktiv nutzbare Schnappschüsse aus Q4 2022. Die Rangfolge der Länder mit den meisten Goldreserven bleibt dabei im wesentlichen gleich.

Folgende Veränderungen in den verschiedenen Ländern sind dem World Gold Council bekannt:

Türkei: +148 Tonnen auf jetzt 542

USA: +113 Tonnen auf 8 134

China: +62 Tonnen auf jetzt 2 011

Ägypten: +47 Tonnen auf jetzt 126

Katar: +35 Tonnen auf jetzt 92

Irak: +34 Tonnen auf jetzt 130

Usbekistan: +34 Tonnen auf jetzt 396

Indien: +33 Tonnen auf jetzt 787

Vereinigte Emirate: +25 Tonnen auf jetzt 80

Kirgisien: +6 Tonnen auf jetzt 16

Tajikistan: +4 Tonnen auf jetzt 6

Ecuador: +3 Tonnen auf jetzt 34

Oman: +2 Tonnen auf jetzt 2

Tschechien: +1 Tonne auf jetzt 12

Serbien: +1 Tonne auf jetzt 38

Kasachstan: -51 Tonnen auf jetzt 352

Deutschland: -4 Tonnen für das Münzprogramm auf jetzt 3 355

Sri Lanka: -3 Tonnen auf jetzt 0,5

Polen: -2 Tonnen auf jetzt 229

Philippinen: -2 Tonnen auf jetzt 157

Mongolei: -2 Tonnen auf jetzt 8

Bosnien-Herzegowina: -1 Tonne auf jetzt 1,49

Kambodscha: -1 Tonne auf jetzt 52

Myanmar: -1 Tonne auf jetzt 7

 

Das hohe Lied der Liebe

For you there′ll be no more crying

for you the sun will be shining

and I feel that when I’m with you

it′s alright, I know it’s right

*

To you I’ll give the world

to you I′ll never be cold

′cause I feel that when I’m with you

it′s alright, I know it’s right

*

And the songbirds are singing

like they know the score

and I love you, I love you, I love you like never before

*

And I wish you all the love in the world

but most of all, I wish it from myself

*

And the songbirds keep singing

like they know the score

and I love you, I love you, I love you

like never before

*

like never before

like never before

Forbes-Liste 2022: Elon Musk ist jetzt der reichste Mann der Welt

Krieg, Pandemie und träge Märkte wirkten sich auf die Milliardäre dieser Erde aus. 2 668 von ihnen listet das Magazin Forbes in seiner aktuellen Liste der reichsten Menschen auf, das sind 87 weniger als im letzten Jahr. Alle zusammen repräsentierten einen Wert von 12,7 Billionen Dollar, das sind 400 Millionen weniger als letztes Jahr. Am dramatischsten ging die Zahl der Milliardäre in Russland zurück: Nach der Invasion in der Ukraine gibt es nun 34 weniger als im Vorjahr. In China, wo der Schlag der Regierung gegen die großen Tech-Unternehmen erfolgte, verloren 87 Milliardäre ihren Platz auf der Liste.

Auf der anderen Seite ermittelte das Magazin über 1 000 Milliardäre, deren Reichtum innerhalb eines Jahres noch zunahm, darunter zum ersten Mal überhaupt welche aus Barbados, Bulgarien, Estland und Uruguay. Die USA führen die Liste mit 735 Milliardären immer noch an. Sie repräsentieren einen Wert von 4,3 Billionen US-Dollar. Zu ihnen gehört auch Elon Musk, der zum ersten Mal die Liste als reichster Mensch der Erde anführt. China (inclusive Hongkong und Macau) bleibt auf dem zweiten Platz mit 607 Milliardären, die zusammen 2,3 Billionen wert sind.

Basis für das Ranking sind Preise und Börsenkurse vom 11. März 2022. Es gibt auch eine tagesaktuelle Darstellung aller 2 668 reichsten Menschen der Erde unter real-time billionaires rankings.

Elon Musk, der zurzeit reichste Mensch der Erde, wird mit 219 Milliarden Dollar bewertet. Er hat insgesamt sechs Firmen gegründet, darunter Tesla, Space X und die Bohrgesellschaft, die Autos in unterirdischen Tunneln staufrei transportiert. 171 Milliarden Dollar schwer ist Jeff Bezos, langjähriger CEO von Amazon, gefolgt vom ersten europäischen Milliardär auf der Liste, Bernard Arnault & family aus Frankreich. Die Familie besitzt ein ganzes Imperium mit 70 Mode und Kosmetikmarken, darunter Louis Vuitton und Sephora im Wert von 158 Milliarden Dollar.

129 Milliarden verbleiben dem langjährigen Microsoft CEO Bill Gates nach seiner Scheidung. Jeff Bezos, langjähriger Amazon-CEO, ist mit 171 Milliarden DOllar auf Platz zwei gerückt. Mit einem Wert von 111 Milliarden wird Larry Page, langjähriger CEO von Alphabet, der Google-Muttergesellschaft bewertet. 107 Milliarden schwer ist Sergey Brin, langjähriger Präsident von Alphabet. Larry Ellison, Kopf des Software-Giganten Oracle, besitzt 35 Prozent des Konzerns im Wert von 106 Milliarden Dollar. 91,4 Milliarden schwer ist Steve Ballmer, langjähriger CEO von Microsoft. Platz 10 der Liste belegt Mukesh Ambani aus Indien mit seinem Unternehmen Reliance Industries und einem Vermögen von 90,7 Milliarden Dollar. Das Unternehmen ist in den Bereichen Öl und Gas, sowie Telecom und Verkauf unterwegs.

Carlos Slim Helu & family (Mexico), der vor Jahren die Reichstenliste anführte, findet sich jetzt mit 81,2 auf Platz 13, Mark Zuckerberg (Facebook, Meta) mit 67,3 Milliarden auf dem 15. Platz.

Zwischen ihnen auf Platz 14 liegt Francoise Bettencourt Meyers, die reichste Frau der Welt aus Frankreich mit 74,8 Milliarden Dollar, die das Unternehmen L’Oréal, gegründet von ihrer Großmutter, geerbt hat. Ihr und ihrer Familie gehören 33 Prozent des Unternehmens.

Die komplette Liste ist hier einsehbar.

Einzige Deutsche unter den zehn reichsten Frauen der Welt ist Suanne Klatten (BMW) mit 24,3 Milliarden. Platz 28 der Reichstenliste belegt als erster Deutscher Dieter Schwarz (Lidl und Kaufland) mit 47,1 Milliarden Dollar. Auf Platz 33 mit 37,3 Milliarden folgt Klaus Michael Kühne (Kühne & Nagel). Auf Platz 77 liegt Stefan Quandt (BMW) mit 20,7 Milliarden. Reinholf Würth (Schraubengroßhandel) ist mit 19 auf Platz 84, Theo Albrecht, Jr. & family (Aldi, Trader Joe’s) mit 18,7 Milliarden auf Platz 85 unter den ersten 100 der Forbes-Liste.

Bei fallenden Börsenkursen und durch den Ukraine-Krieg ist der Gesamtwert der europäischen Milliardäre auf weniger als drei Billionen Dollar gesunken. Mit 134 zählt dabei Deutschland die meisten Milliardäre mit einem Gesamtwert von 608 Milliarden, gefolgt von Frankreich mit 43 Milliardären in einem Gesamtwert von 55 Milliarden. Der Reichtum dieser 43 ist im letzten Jahr um 7 Prozent gewachsen.

Der reichste Krypto-Milliardär kommt aus Kanada: Changpeng Zhao hat mit Binance ein 65 Milliarden Dollar-Vermögen erwirtschaftet. Der US-Bürger Sam Bankman-Fried erreichte mit FTX 24 Milliarden. Coinbase machte den US-Amerikaner Brian Armstrong 6,6 Milliarden Dollar schwer. Es folgen Chris Larsen mit Ripple (USA, 4,3 Milliarden), Cameron and Tyler Winklevoss (USA, Bitcoin) mit je 4 Milliarden, Song Chi-hyung (Korea, Upbit) mit 3,7, Barry Silbert (USA, Digital Currency Group) mit 3,2 und Jed McCaleb (USA, Ripple, Stellar) mit 2,5 Milliarden Dollar. Die gesamte Krypto-Liste ist hier zu sehen.

Trotz eines schwierigen Geschäftsjahres gibt es auch insgesamt 34 Newcomer in der Forbes-Liste. Dazu gehören unter anderem die Sängerin Rihana (1,7 Milliarden), die in Fenty Beauty cosmetics line und Savage X Fenty lingerie investiert hat. Sie ist damit auch die erste Milliardärin aus Barbados. Peter Jackson (1.5 Milliarden), Direktor der ‚Herr der Ringe‘-Filme wurde im November Milliardär, als er seine Anteile am Weta digital film effects shop für 975 Milliarden an Unity Software verkaufte.

12 Selfmade-Millionäre sind unter 30 Jahren alt. Zusammen sind sie 25,8 Milliarden Dollar schwer. Der reichste von ihnen ist Gary Wang, (28, 8,7 Milliarden), Mitgründer und Chef-Technologe der Krypto-Börse FTX auf den Bahamas.  Der jüngste von ihnen ist Kevin David Lehmann (19, 2,4 Milliarden), der einen 50prozentigen Anteil an den DM-Drogeriemärkten in Deutschland von seinem Vater geerbt hat. Er ist der einzige Deutsche unter den 12.

Viele weitere Ergebnisse finden sich in der Liste der 2 668 reichsten Menschen der Erde bei Forbes. Nicht möglich war es auch den Journalisten dieser Zeitschrift, herauszufinden, wieviel Geld Männer wie Xi Jin Ping oder Vladimir Putin besitzen. Das könnte die Liste auf den vorderen Plätzen durchaus verändern.


Queen Elisabeth II. ist tot „Sie war immer da“…

Queen Elisabeth II. ist tot. 17 Monate nach dessen Heimgang folgte sie ihrem geliebten Mann Philip. Damit endet eine der größten und schönsten Liebesgeschichten – und eine Ära im britischen Königshaus.

Am 6. September noch hatte die kleine alte Dame die neue britischen Regierungschefin Liz Truss offiziell mit der Regierungsarbeit beauftragt. Da sahen viele Zuschauer, wie sehr sie zu einem Schatten ihrer früheren Erscheinung geworden war, sorgten sich wegen eines fast schwarzen Handrückens und ungewöhnlich hellen Fingern. Kaum 48 Stunden später war ihre Kraft zuende. Nur ihre Kinder Charles und Anne schafften es rechtzeitig ins Schloss Balmoral, bevor die alte Dame friedlich ihre Augen schloss. Wenig später sahen die Menschen über London einen wunderschönen Regenbogen.

Geboren am 21. April 1926, stand Elisabeth nach ihrem Onkel Eduard VIII. und ihrem Vater Georg VI. zunächst an dritter Stelle der britischen Thronfolge. Sie hatte eine fröhliche Kindheit, umgeben von ihren beiden tierischen Lieben, Corgies und Pferden und erhielt die Erziehung einer jungen Frau aus dem Hochadel. Im Zweiten Weltkrieg bestand diese darauf, ihren Beitrag für ihr Land zu leisten, zog die Uniform an und beschäftigte sich unter anderem mit Autoreparaturen.

Und dann kam es völlig anders als gedacht. Eduard VIII. wurde 1936 zwar König, dankte aber noch im selben Jahr wieder ab, um die geschiedene Amerikanerin Wallis Simpson zu heiraten. Georg VI. hatte eine schwache Gesundheit – und so musste ihm seine Tochter schon im Jahr 1952 auf den Thron folgen. Die zierliche, nur 1,57 Meter große, junge Königin sah bezaubernd aus. Es wurden tausende wunderschöner Fotos von ihr gemacht, die für das einfache Volk wirkten wie aus einer anderen Welt. In der Öffentlichkeit wahrte die Queen zu jeder Zeit die Contenance, ihr strahlendes Lächeln wurde ebenso zu einem Markenzeichen wie die Handschuhe, die sie stets trug, wenn sie viele Hände schütteln musste.

Die Distanziertheit Elisabeths wurde zu einem Ärgernis, als Ex-Schwiegertochter Diana bei einem Autounfall starb. Erst nach fünf Tagen war die Königin bereit, aus Schottland nach London zurück zu kehren und den Schmerz der Bevölkerung zu teilen. Der Ärger im Volk über diese scheinbare Gleichgültigkeit sorgte für eine nachhaltige Veränderung im Verhalten des Königshauses. Von nun an gab sich Elisabeth volksnäher, ließ auch mal ihren stets wachen Sinn für Humor öffentlich aufblitzen. Je weißer ihre Haare wurden, desto mehr schien die Regentin in sich zu ruhen. Sie wirkte ausgeglichener, wurde von der Mutter zur geliebten Großmutter der Nation.

In der Liebe hatte sich Elisabeth schon sehr jung entschieden. Mit 13 Jahren lernte sie ihren Cousin dritten Grades, Prinz Philip von Griechenland und Dänemark kennen. Danach schrieben die beiden sich regelmäßig. Am 9. Juli 1947 wurde die Verlobung bekannt gegeben, nachdem schon der Teenager entschieden hatte: „Der oder keiner“ sollte es sein. Es wurde eine 73 Jahre dauernde, skandalfreie Ehe. Die beiden bekamen vier Kinder. Charles, der Erstgeborene, musste warten, bis er selbst 73 Jahre alt war, bevor er die Nachfolge seiner Mutter antreten konnte.

Königin Elisabeth war ein Kind ihrer Zeit. Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, für Frauenrechte zu kämpfen, auch wenn ihr eigener Mann in der Öffentlichkeit immer hinter ihr gehen musste. Zuhause bestimmte Philip, wo es lang ging, und für seine Frau war das auch in Ordnung so. Privat war die Königin eine fröhliche, lebhafte Frau mit einem vielseitigen Musikgeschmack, die gern tanzte, und das in ihren privaten Räumen auch tat. Sie liebte Corgies und Pferde, die sie zeitweise auch züchtete. Am liebsten hielt sie sich in ihrem Urlaubsschloss im schottischen Balmoral auf, wo sie viel wanderte und auch schonmal in Gummistiefeln gesichtet wurde.

Als Elisabeth II. aufwuchs, war die politische Welt eine völlig andere als heute. Großbritannien war die größte, noch bestehende Kolonialmacht der Erde. Im Laufe ihres Lebens wurde aus den Kolonien das Commonwealth, ein loser Staatenverbund mit dem britischen König als Oberhaupt. Nach Indien verabschiedeten sich jedoch immer mehr Nationen von der britischen Regentschaft und verkündeten ihre Unabhängigkeit. Sogar im Vereinigten Königreich selbst mit seinen verschiedenen Nationen, rumort es inzwischen zunehmend. Ausgerechnet in Schottland gibt es starke Bestrebungen nach Unabhängigkeit. Das Königshaus ist zu politischer Neutralität verpflichtet. Trotzdem konnte die Königin natürlich hinter den Kulissen sanft Einfluss nehmen, was sie in Bezug auf Schottland auch tat. Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg Großbritannien angegriffen hatte, verdankt es nicht zuletzt den frühzeitigen Besuchen des Königspaares, dass das Land in Europa langsam wieder Fuß fasste. Elisabeth hasste Unstimmigkeiten aller Art und war stets bemüht, für Frieden und Ausgleich zu sorgen.

In 70 Jahren Regentschaft bereiste die Königin unzählige Länder und lernte massenweise Staatenlenker kennen; so zum Beispiel allein 13 US-Präsidenten. Auch solche, die sich unglaublich daneben benahmen, wie etwa Donald Trump, ertrug sie (mehr oder weniger) mit Gleichmut, manchmal auch mit amüsiertem Lächeln. Sie empfing Sportler, Rockstars und andere Menschen aller Art. Einige schlug sie zum Ritter, andere befragte sie aufmerksam nach ihrem Leben. Für Generationen von Menschen war sie ein Kontinuum – „die“ Queen, die einfach immer da gewesen war. Als sie nun mit 96 Jahren tatsächlich ihre Augen schloss, rührte sie weltweit Regierende genau wie einfache Menschen. So sagte etwa Kanadas Ministerpräsident Trudeau mit Tränen in den Augen: „Sie gehörte zu denen, die mir am liebsten auf der Welt sind.“

In den ehemaligen Kolonien, besonders in Indien, wurde der Tod der langjährigen Regentin nicht so freundlich aufgenommen. Nie habe sie sich entschuldigt dafür, wie England von Indiens Schätzen profitiert und die Menschen ausgebeutet hatte, war von dort zu hören. Fünf Commonwealth-Staaten kündigten umgehend Austrittspläne an. Weitere werden wohl dazu kommen. König Charles III. wird sich mit einem auseinanderfallenden Commonwealth und Spaltungstendenzen in Großbritannien ebenso auseinander setzen müssen, wie mit der tiefen wirtschaftlichen Krise, in der sich sein Land befindet und den schwierigen Handelsbedingungen mit der EU seit dem Brexit.

Auch das Königshaus selbst steht auf dem Prüfstand. Hier hat Charles bereits vor dem Tod seiner Mutter angekündigt, dass die Zahl der „Royals“ auf einen wesentlich kleineren Kreis als bisher reduziert werden solle. Als Prinz von Wales hatte sich der Thronfolger auch politisch engagiert: Die Rettung des Klimas steht seit Jahrzehnten ganz oben auf seiner Agenda. Ganz sicher wird er trotz seiner Verpflichtung zur Neutralität auch weiter ein Auge auf sein Herzensthema haben.

In seinem Alter, das weiß Charles III., kann er nicht mehr als ein Übergangskönig sein. Deshalb arbeitet er eng mit seinem Sohn William zusammen, der ihm auf dem Thron folgen wird. Sogar im Buckingham Palast soll sich vieles ändern. Wie man hört, will Charles in den ersten Stock ziehen und die Räume darunter der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Die Königin ist tot – es lebe der König.

Siehe auch: Eine Liebe wie im Märchen: Prinz Philip und seine Königin

Weltweite Hinrichtungen per Drohne, gesteuert über Ramstein

„Egal, wie lange es dauert und wo ihr seid: Wir kriegen euch“ tönte letzte Woche marzialisch US-Präsident Joe Biden vor den Kameras. Da hatte gerade eine Drohne den Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri, der in einem Safe-Haus in Afghanistan auf den Balkon getreten war, gezielt getötet. Al-Sawahiri galt als Nachfolger von Osama bin Laden, der 2011 bei einem Einsatz von US-Spezialkräften in Pakistan getötet wurde. Beides geschah, ganz wie in den zahlreichen US-Heldenfilmen, ohne Gerichtsurteil, ohne Information der jeweiligen Regierungen – und damit in einem Bruch des Völkerrechts, wie auch der Menschenrechte.

Weltweit töten US-Drohnen ohne Gerichtsurteile und in völliger Eigenregie vermeintliche „Terroristen“, im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“. Immer wieder treffen sie aber auch Unschuldige. Panorama hat für die ARD minutiös nachgezeichnet, wie wegen eines Irrtums sieben afghanische Kinder und drei unschuldige Erwachsene von der Rakete einer Drohne getötet wurden (siehe Video unten). Beteiligt ist in den meisten Fällen die US-Basis im deutschen Ramstein. Die Grünen haben diese Praxis jahrelang als Bruch des Völkerrechts kritisiert, die Regierung in Anträgen zum Handeln aufgefordert. Doch nun, selbst an der Macht, scheuen sie die einst so klaren Worte.

Annalena Baerbock, die grüne Außenministerin, die überall wie eine Lichtgestalt für Völkerrecht und Menschenrechte eintritt, bezieht sich dabei grundsätzlich auf Staaten, die nicht mit dem Westen verbündet sind. Neben China und den von den USA als Schurkenstaaten benannten Ländern, geht es dabei selbstverständlich zurzeit gegen die Kriegsverbrechen Russlands im Ukraine-Krieg. Die hehren und berechtigten Anliegen werden von Menschenrechtsorganisationen bei jeder Gelegenheit eingefordert. Aber sie haben einen riesigen blinden Fleck: Auch der Westen begeht Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen. Nicht nur die USA: Deutschland ist mitschuldig, weil es den Betrieb der Drohnensteuerungsanlage Ramstein nicht nur zulässt, sondern auch ganz bewusst nicht kommentiert. Panorama hat versucht, dazu einen Kommentar Baerbocks zu bekommen. Obwohl zwei Monate Zeit waren, weigerte sich die Außenministerin „aus Termingründen“.

„Wie auch immer der Zustand seiner Demokratie sein mag: Deutschland ermöglicht Amerikas heimliche Kriegsführung in Afrika“, schreibt Netzpolitik.org in einem detaillierten Aufsatz über die Aktionen in Ramstein. Und weiter: „In vielerlei Hinsicht ist dieser militarisierte Streifen Deutschlands ein Pulverfass. Die gemeinsame NATO-Kommandobehörde „Allied Air Command“, die für alle Luftoperationen und in Weltraumfragen der NATO verantwortlich ist, hat ihren Sitz seit 2013 in Ramstein. Die Kommandobehörde beinhaltet ein Raketenabwehrzentrum, den Kern des neuesten US-Raketenschilds, welches der Kreml als Bedrohung ansieht, da es einen Erstschlag gegen Russland wahrscheinlicher machen würde.“

Die Militärs der USA sind von den Möglichkeiten der Drohneneinsätze begeistert. „Unsere RPA-Unternehmung“ (RPA, ferngesteuerte Flugzeuge) fliegt jetzt „Kampfeinsätze auf dem gesamten Globus“, sagte der für das Air Combat Command zuständige General Herbert Carlisle gegenüber einem Senatskomitee im März 2016. „Sie bestücken unsere Entscheidungsträger mit Informationen, unsere Krieger mit Zielen und unsere Feinde mit Angst, Furcht und ultimativ ihrem zeitlichen Ende.“ Heute sind knapp 8000 Mitarbeiter der Luftwaffe allein dem Predator- und Reaper-Drohnenprogramm gewidmet. „Von den 15 Basen mit RPA-Einheiten“, sagte Carlisle, „haben 13 Kampfeinheiten. Diese Mission ist von solcher Wichtigkeit, dass wir auf ein konsistentes Wachstum an Fluggeräten, Personal und Resultaten setzen.“ 

Inzwischen hat die NATO unter Führung der USA auf dem Militärflugplatz Sigonella/Sizilien die Main Operating Base für ihr Aufklärungssystem Alliance Ground Surveillance errichtet. Es basiert auf der Drohne Global Hawk. Im Gegensatz zu Deutschland ging das praktisch lautlos und ohne jede öffentliche Debatte. In der Bundesrepublik gibt es immer wieder Proteste gegen Hinrichtungen mittels Drohnen, die über Ramstein gesteuert werden, weshalb manche Experten darüber spekulieren, dass diese Aktivitäten komplett nach Italien verlegt werden könnten. Europa ist für die USA im Drohnenkrieg unverzichtbar: Aufgrund der Krümmung der Erde können die Geräte nicht direkt aus den USA gesteuert werden. Die US-Drohnenangriffe, die 2001 unter George W. Bush begonnen wurden, haben dramatisch zugenommen – von insgesamt etwa 50 während der Bush-Jahre auf 12.832 bestätigte Angriffe allein in Afghanistan während der Präsidentschaft Donald Trumps. Auch bei eklatanten Irrtümern und vielen zivilen Opfern bleiben die handelnden Soldaten in der Regel straffrei.

Im Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner das Gelände bei Ramstein-Miesenbach erobert und ab 1951 erweitert. Aus dem Militärflughafen „Landstuhl Air Base“ und dem Verwaltungstrakt „Ramstein Air Force Installation“ wurde dann 1957 die „Ramstein-Landstuhl Air Base“. Seit 1971 ist die Transporteinheit der US Air Force auf der Air Base stationiert. 1974 bezog außerdem die NATO mit ihrer Kommandobehörde für Luftstreitkräfte einen Gebäudekomplex auf dem US-Areal. Die „Ramstein Air Base“, wie sie heute offiziell heißt, liegt etwa einen Kilometer von Ramstein-Miesenbach entfernt und rund 13 Kilometer westlich von Kaiserslautern. Das Gelände ist etwa 1.400 Hektar groß. Der Lärm der Air Base ist groß, die Flugbewegungen sind jedoch mit keiner App nachvollziehbar.

Die Bedeutung der Air Base Ramstein für das US-Militär ist enorm. Der Flugplatz hat sich zum wichtigsten Drehkreuz für Fracht- und Truppentransporte der US Air Force weltweit entwickelt. Auch für Evakuierungsflüge wird der Flughafen regelmäßig genutzt. Verletzte Soldatinnen und Soldaten können im nahen Landstuhl Regional Medical Center behandelt werden, dem größten US-Krankenhaus außerhalb der USA. Auf der Air Base ist neben der US Air Force auch das Hauptquartier des Allied Air Command stationiert, einer Kommandobehörde der Luftstreitkräfte der NATO. Von Ramstein aus überwacht die NATO die Raketenabwehr des Bündnisses sowie die Weltraumaktivitäten der Mitgliedsstaaten. Für das Hauptquartier arbeiten mehr als 600 Menschen aus fast 30 verschiedenen Nationen.

Das Auto, in dem in Kabul zehn Unschuldige Menschen starben.

Drei Jemeniten, deren nahe Angehörige durch über Ramstein gesteuerte Drohnen ums Leben gekommen sind, versuchen seit Jahren, die Bundesregierung wegen einer Mitverantwortung zu verklagen. Das Oberverwaltungsgericht Münster urteilte. „Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die USA unter Verwendung technischer Einrichtungen auf der Air Base Ramstein und dort stationierten eigenen Personals bewaffnete Drohneneinsätze im Jemen durchführen, die zumindest teilweise gegen Völkerrecht verstoßen“, schreiben die Münsteraner Richter.

Das Gericht äußerte Zweifel, ob die Einsatzpraxis der US-Regierung dem humanitären Völkerrecht genügt. Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs müssen „unverhältnismäßig hohe zivile Opfer“ vermieden werden. Ob die US-Armee im Krieg im Jemen vor jedem Drohneneinsatz eine derartige Prüfung vornehme, sei zweifelhaft.

Die Bundesregierung hatte versucht, die Rolle Ramsteins klein zu reden. Ulf Häußler aus dem Verteidigungsministerium erklärte sogar, die Relaisstation in Ramstein helfe, die Zahl ziviler Opfer zu reduzieren. Das Oberverwaltungsgericht ließ diese Argumentation nicht gelten. „Die bisherige Annahme der Bundesregierung, es bestünden keine Anhaltspunkte für Verstöße der USA bei ihren Aktivitäten in Deutschland gegen deutsches Recht oder Völkerrecht, beruht auf einer unzureichenden Tatsachenermittlung und ist rechtlich letztlich nicht tragfähig“, so die Richter. Deutschland sei verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen den bestehenden Zweifeln nachzugehen.

Die Bundesregierung wurde im April 2010 und im November 2011 von der US-Seite darüber informiert, dass die Relaisstation in Ramstein von „herausragender Bedeutung“ für den Einsatz bewaffneter Drohnen in Übersee sei. Das geht auch aus offiziellen amerikanischen Dokumenten hervor. 2016 teilten US-Vertreter der Bundesregierung zudem mit, dass Ramstein „eine Reihe weiterer Aufgaben unterstütze, darunter die Planung, Überwachung und Auswertung von zugewiesenen Luftoperationen“, wie es im Urteil des OVG heißt. Die Bundesregierung hat daraufhin im September 2016 hochrangige Gespräche in Washington geführt. Sie erklärte, sie habe keinen Anlass, an der Zusicherung der USA zu zweifeln, dass auf US-Militärliegenschaften in Deutschland geltendes Recht gewahrt werde.

Das Bundesverwaltungsgericht hob im November 2020 die Entscheidung aus Münster jedoch auf. Die Bundesregierung muss neben diplomatischen Gesprächen nicht kontrollieren, ob die Amerikaner bei ihren Einsätzen über die Air Base Ramstein im Einklang mit dem Völkerrecht agieren, entschied das Gericht. Grundrechtliche Schutzpflichten bestehen zwar auch gegenüber im Ausland lebenden Ausländern und im Fall von Grundrechtsbeeinträchtigungen anderer Staaten. Dafür müssen aber laut Gericht zwei Voraussetzung erfüllt seien: eine konkrete Gefahr und ein qualifizierter Bezug zum deutschen Staatsgebiet. Die Bundesregierung würde ihre Schutzpflicht demnach nur dann verletzen, wenn sie gänzlich untätig bliebe und ihre Maßnahmen offensichtlich völlig ungeeignet wären. Es gebe aber regelmäßige Konsultationen, die den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechen, und die Bundesregierung habe sich von den USA zusichern lassen, dass ihre militärischen Tätigkeiten in Deutschland im Einklang mit geltendem Recht erfolgen.

Nun kommt das Anliegen vor das Bundesverfassungsgericht.

Ob dieses den Mut haben wird, Völkerrechtsverletzungen auch als solche zu benennen?

Die USA haben dafür gesorgt, dass zu ihren Aktivitäten in Afghanistan, denen im Irak oder in anderen Ländern, bei denen Tausende unschuldiger Einheimischer zu Tode kamen, kaum Bild- und Beweismaterial im Netz zu finden ist. Ähnlich verhält es sich zu den Auslösern der Krim-Annektierung und des Ukraine-Kriegs durch Russland. Von diesem Krieg sind jedoch täglich neue Schauerbilder zu sehen. Es wird grundsätzlich von „Putins Krieg“ und einer unglaublichen Aggression Russlands gesprochen, der gegenüber sich der Westen als Hüter von Freiheit, Menschenrechten und Völkerrecht darzustellen versucht. Ganz so einfach ist das aber nicht.

Angehöriger, der beim Drohnenangriff in Kabul zehn Familienmitglieder verloren hat

Als US-Präsident Biden aufgrund des durch die Sanktionen gegen Russland selbst verursachten Gas- und Ölmangels im Westen in Saudi-Arabien mit der Bitte vorstellig wurde, doch die Produktion zu erweitern, da man auf Energie aus Russland aus Völker- und Menschenrechtsgründen verzichten müsse, erinnerte man ihn als erstes an den völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA in den Irak. Ähnlich verhielt es sich beim Thema Menschenrechte: Joe Bilden hatte den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, auch MBS genannt, zuvor öffentlich wegen des Mordes an dem Journalisten Jamal Kashoggi verurteilt. Lächelnd konnte dieser jedoch auf unzählige vergleichbare Hinrichtungen der USA verweisen.

Auch in China, Indien und anderen asiatischen Staaten beißen die USA in ihrer Rolle als selbsternannte Retter der Menschenrechte auf Granit. Zu sehr haben sie sich in den letzten Jahrzehnten selbst ins Unrecht gesetzt. Und wir, die Verbündeten, sind an all dem mit schuldig. Weil wir der Schutzmacht USA wortlos alles durchgehen lassen, was wir ihren Feinden vorwerfen.

Siehe auch: Weltweiter Rechtsbruch über Ramstein und die dortigen Links

Some days – never come…

„Es muss auf jeden Fall Sommer sein, wenn wir uns sehen“, sagte er. „Ein perfekter, warmer, sonniger Sommer. In einer perfekt schönen Umgebung. In nur wenigen Stunden bin ich da. Unsere Begegnung wird perfekt sein.“

„Ja meine Liebe“, lächelte sie. „Wir werden am Ufer sitzen, uns bei der Hand halten und gemeinsam die Sonne untergehen sehen. Du wirst da sein, und nichts wird mehr fehlen.“

Jahre später ist er gekommen: der perfekte Sommer. Blütenduft in samtener Luft, leises Rauschen der Blätter, sanft plätscherndes Wasser. Die Haut atmet die Wärme der Sonne, das Herz ist weit.

Am Ufer sitzend erlebt sie, wie alles Licht tiefer Dunkelheit weicht.

Gesundheits-App und Sozialkredit: China ist ein Überwachungsstaat

Was hatten wir Proteste während der letzten beiden Jahre wegen der Corona-Maßnahmen der Regierung! Zugegeben: Zum Teil wirkten sie auch befremdlich: Wenn beispielsweise die bayerische Polizei Strafzettel verteilte, weil sich im Park jemand auf den Bänken niederließ – wo das doch zuzeiten verboten war. Es ist auch richtig, dass einige Branchen übermäßig unter den Lockdowns gelitten und dass viele Betriebe sie nicht überstanden haben. Ebenfalls richtig ist, dass wir im Herbst 2022 ein ähnliches Durcheinander erwarten können wie in den vorherigen Jahren, denn noch immer verfügt in Deutschland niemand über belastbare Zahlen, geschweige denn Studien, auf deren Basis sinnvolle Maßnahmen ergriffen werden könnten. Dieser Mangel an Überblick ist für ein Land wie Deutschland wirklich peinlich.

Nicht vertretbar ist dennoch das Verhalten einer großen Zahl von Bundesbürgern, die die Corona-Maßnahmen mit den Ausgrenzungen der jüdischen Bürger des Dritten Reiches vergleichen. Ich selbst habe darüber eine langjährige Freundin verloren. Sie hält sich in einer Blase von Menschen auf, die keinerlei TV-Nachrichten verfolgen oder Zeitung lesen und sich statt dessen auf „alternativen Wegen“ über die „wahre Natur“ der Corona-Maßnahmen „informieren“. Sie, die immer mit beiden Füßen im Leben stand, ist jetzt davon überzeugt, dass mit den Impfungen und der Corona-App eine Art Deep State Macht über alle Menschen erreichen möchte, um sie nach Belieben zu formen und zu unterjochen. Bill Gates und Andere gehören jetzt zu ihren Feinden. Sie, die finanziell gut genug gestellt ist, fantasierte sogar vom Auswandern in „bessere“ Länder – auch wenn sie keins nennen konnte, das besser als Deutschland wäre. Ist auch schwierig, wenn man nichts über andere Länder und Systeme wissen möchte.

Zu später Stunde in der Nacht zum Sonntag lief in der ARD ein Beitrag, der eigentlich zur Primetime gesendet werden müsste. Wie die meisten wissen, fährt China, das Land, in dem Corona erstmals auftrat, eine konsequente Null Covid-Strategie. Tritt irgendwo eine einzige Infektion auf, werden großflächig Viertel und im Zweifelsfall ganze Städte des Landes vollständig gesperrt. Die Einwohner werden in ihren Wohnungen eingesperrt oder müssen in spezielle Hotels umsiedeln – egal, ob sie genug Nahrung und Wasser zuhause haben, oder nicht. Die Eingänge werden von Sicherheitsdiensten bewacht. Wer versucht, trotzdem durchzukommen, riskiert, zusammengeschlagen und abgeführt zu werden. Dadurch sinkt die Wirtschaftsleistung des Landes immer weiter und Transportketten rund um den Globus werden unterbrochen, aber das ist für die Regierung zweitrangig.

Der ARD-Beitrag nun zeigte auf, wie ein echter Überwachungsstaat seine für alle verpflichtende Corona-App benutzt. Die chinesische Version verfügt über ein Ampel-System: Steht sie auf grün, kann sich das Individuum frei bewegen; bei gelb ist das noch eingeschränkt, bei rot überhaupt nicht mehr möglich. Wo immer die Menschen sind, müssen sie ständig QR-Codes scannen, um Zugang zu erlangen. Das gilt nicht nur in den Einkaufsstraßen, sondern auch in ihren Wohnblocks. Haben sie es an den Sicherheitskräften vorbei geschafft, geht es im Haus selbst weiter: Ohne den Code zu scannen, ist es nicht möglich, auch nur den Aufzug zu nutzen.

Die Polizei des Landes verfügt über uneingeschränkten Zugang zu den Daten auf der App. Uneingeschränkt will sagen: Sie kann die Daten nicht nur lesen, sondern sie kann auch den Ampelstatus willkürlich verändern. Unliebsame Personen können so von jeder Aktivität abgehalten werden ohne eine einzige sichtbar aggressive Aktion: Es genügt beispielsweise, die Ampel in der App einer Anwältin auf Gelb zu stellen, um zu verhindern, dass diese den Gerichtssaal erreicht, indem sie ihre, der Regierung nicht genehmen, Klienten verteidigen will. Menschen, die sich nicht stromlinienförmig ins geforderte Verhaltensmuster einpassen, werden so mit einem Klick zu Aussätzigen.

Man kann die Gesundheits-App als machtvolles Tool in Ergänzung zum chinesischen System des „Sozialkredits“ sehen, das nach einer sechsjährigen Testphase seit 2020 breit eingeführt wird. Es besteht aus einer Vielzahl roter (= guter) und schwarzer Listen, die alle Bereiche des Lebens betreffen. Für jede Art von Verhalten gibt es Plus- oder Minuspunkte. Wer etwa seine Eltern pflegt, bekommt Pluspunkte. Wer bei Rot die Fahrbahn überquert, bekommt nicht nur Minuspunkte, sondern wird auch an den Pranger gestellt: Sein Bild als Verkehrssünder wird an der Ampel ausgestellt. Überwacht wird unter anderem mit Hilfe unzähliger Kameras und Gesichtserkennung.

Wer von 1000 möglichen Punkten bei weniger als 600 ankommt, befindet sich im negativen Bereich und muss mit Einschränkungen klar kommen: Kredite zu höheren Zinsen oder gar nicht, keine Flugreisen, keine Fahrten mit Schnellzügen, keine guten Schulen für die Kinder, einschränkten Zugang zum Internet – die Varianten sind grenzenlos. Sehr schwierig ist es offenbar, Negativpunkte wieder zu löschen, auch wenn das eigentliche Vergehen gesühnt ist. Negativ kann sich alles mögliche auswirken: Mit einem Menschen befreundet zu sein, der schonmal die Regierung kritisiert hat, Computerspiele zu kaufen (weil sie eine unproduktive Beschäftigung darstellen), Hundekot nicht weg zu räumen, Streit mit den Nachbarn zu haben, und so weiter.

„Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit“ will die Regierung offiziell auf diese Weise fördern. Das gilt auch für jede Art von geschäftlicher Tätigkeit. Die Unternehmen werden nicht über die Kriterien informiert, nach denen sie beurteilt werden und müssen sich Informationen darüber selbst beschaffen. Kontrolliert wird nicht nur das Sozialverhalten, sondern auch die Kreditwürdigkeit, die Loyalität zur Partei, das Verhalten in den sozialen Medien, das Einkaufsverhalten und natürlich der Gesundheitsbereich. Mit der Gesundheits-App verfügen die regionalen und nationalen Machthaber jetzt über ein Mittel, blitzschnell und nachhaltig jeden auszubremsen, der verdächtig erscheint, ob nun begründet oder nicht.

Die Chinesen selbst protestieren nicht etwa gegen diese Überwachung, sondern sind mehrheitlich dafür. Sie hoffen, dass so die Korruption abnimmt, dass weniger verfälschte, verwässerte oder gar vergiftete Produkte auf den Markt kommen, dass Umwelt-, Qualitäts- und Gesundheitsstandards wirklich eingehalten werden und sich insgesamt die „Moral“ im Land bessert. Bedenken wegen Datenschutz bestehen in China weit weniger als in Europa, dafür ist das Interesse an neuen Technikprodukten sehr hoch. So konnten sich Smartphones, mobile Zahlsysteme oder die Sharing Economy dort schneller durchsetzen als etwa in Deutschland.

Wie würden sich die hiesigen Coronaleugner und -Protestanten wohl verhalten, wenn sie dem Druck solcher Maßnahmen ausgesetzt wären? Im Zweifelsfall könnten sie nicht einmal mehr das Land verlassen, denn sie bekämen weder Visa, noch Plätze in Flugzeugen oder Zügen. Sie würden wohl auch recht schnell Demonstrationen, Corona-Spaziergänge und das Verbreiten von Fake-Informationen unterlassen, denn bevor sie sich umgeschaut haben, würden sie hinter Gittern landen. Wer wissen möchte, wie ein echter Überwachungsstaat aussieht, der werfe einen Blick nach China. Und die Regierung ist mit dem Umbau noch nicht fertig: Wenn das System erstmal richtig ausgereift ist, gibt es kein Entkommen mehr.

Dass so viele Unternehmen, und ganz speziell die deutschen Autobauer, immer noch ihr Heil in China suchen, ist auch aus dieser Sicht schwer nachvollziehbar. Diese Regierung, die ihre eigenen Tech-Unternehmen entmachtet hat, wird schon gar nicht ausländische Firmen ungebremst wachsen lassen. Aber die Gier nach Geld bei den Investoren war wohl schon immer höher als ihr Bedürfnis nach Sicherheit.

Siehe auch: China, seine Nachbarn und die Welt: Ein leises Netz wird immer dichter

Haiku für meinen alten Apfelbaum

In meinem Garten steht ein alter Apfelbaum. Er ist der letzte von vieren, die dort vor über 30 Jahren standen, als ich einzog. Damals zählte er schon mehr als 50 Lenze.

Er ist jetzt richtig alt geworden. Die letzten dürren Sommer hat er gar nicht gut vertragen, trotz vieler Extraportionen Wasser riefen seine Wurzeln unter meinen nackten Füßen ständig nach mehr. Inzwischen sind drei seiner einst fünf starken Arme abgestorben, Flechten haben sich auf ihm angesiedelt. Misteln wohnen in seinen Zweigen, einen Teil seiner Rinde hat der Specht abgehackt. Und doch blüht er grade wieder wie ein Jüngling. Aus wundervollen, pinkfarbenen Knospen werden zarte, weiß-rosa Blüten, bevor er die ganze Fläche um sich herum mit Blattschnee beregnet.

Nachwuchs ist gepflanzt. Aber ich werde nicht mehr erleben, wie aus ihm starke, kraftvolle Bäume werden. Wenn sie groß genug sind, um Blütenblätter regnen zu lassen, weil meine Nachfolger sie hoffentlich nicht abgesägt haben, werde ich nicht mehr sein. Auch deshalb liebe ich meinen alten Freund sehr. Viele Tränen habe ich zu seinen Füßen geweint, und noch viel mehr schöne, entspannte Sonnenstunden unter seinen Zweigen verbracht. Er wird auch dieses Jahr extra Wasser bekommen, damit er mich noch eine Weile begleitet.

Haiku ist eine alte japanische Form des Gedichts. Dabei haben die erste und die dritte Zeile jeweils fünf Silben, die zweite sieben. Aufgrund der starken Unterschiede in der Sprache ist die genaue Silbenfolge in unserer Sprache nicht bindend.

Child in Time – Kind der Zeit – ist noch immer erschreckend aktuell

1969 schrieb die britische Hardrockgruppe Deep Purple das Lied „Child in Time„. Es war ein Protestsong gegen den Vietnamkrieg, ein Stellvertreterkrieg der USA und Russland. Mehr als 50 Jahre später, im erneuten Stellvertreterkrieg der beiden Mächte und Systeme in der Ukraine, zeigt sich mit erschreckender Klarheit, wie universell Text und Lied gültig sind.

Süßes Kind, mit der Zeit wirst du die Linie sehen,

die Linie, die gezogen ist zwischen Gut und Böse.

Schau auf den Blinden, wie er auf die Welt schießt,

Kugeln fliegen umher, sie nehmen ihren Tribut.

Wenn du böse warst – Gott, ich wette, das warst du –

und nicht von umherfliegendem Blei getroffen wurdest,

Dann schließe besser deine Augen, neige deinen Kopf

und erwarte den Querschläger...

*

Sweet child in time – you’ll see the line

The line that’s drawn between the good and the bad

See the blind man shooting at the world

Bullets flying taking toll

If you’ve been bad, Lord I bet you have

And you’ve not been hit by flying lead

You’d better close your eyes and bow your head

And wait for the ricochet…

Ein Haiku zu Karfreitag

Die Nacht des Karfreitag, in der Christus am Kreuz starb, versinnbildlicht Tod und Sterben. Erst der Ostersonntag mit seinem Versprechung der Auferstehung zu neuem Leben verspricht Erlösung – für Christen.

Auch für mich steht die Karnacht für den Tod. Es starb mein letzter, schönster Traum.

Haiku ist eine sehr alte japanische Form des Gedichts. Bei einem Dreizeiler enthält Zeile eins 5, Zeile zwei 7 und Zeile drei wieder 5 Silben. Da die japanische Sprache sich jedoch sehr von unserer unterscheidet, ist diese Regel nicht unbedingt bindend.

Menschenleben zählen im Krieg nicht – weder in Russland, noch den USA, in China oder Arabien

Nach wochenlangen Angriffen auf die Ukraine stellt sich heraus: Russland kommt nicht wie geplant voran. Die russische Truppe hat eine niedrige Kampfmoral, der Nachschub klappt nicht so recht, und die Ukraine, die vom Westen mit Waffen inzwischen regelrecht überschüttet wird, wehrt sich in Teilen erfolgreich. Obwohl inzwischen mehr als vier Millionen Einwohner – vorrangig Frauen und Kinder – nach Westen geflohen sind, ist der Wille zum Widerstand im Land ungebrochen. Dazu trägt Präsident Selensky höchst erfolgreich bei. Der Mann, der inzwischen mehr als ein Dutzend Mordversuche überlebt hat, führt einen bisher einmaligen Kommunikationskrieg über die sozialen Medien. Täglich richtet er sich an die Soldaten und alle Einwohner des Landes mit aufmunternden Worten. Er und seine Botschafter heizen dem Westen auf eine Weise ein, die nichts mehr mit Diplomatie zu tun hat. „Wir kämpfen für den gesamten Westen“ ist das Motto, und jedes Land wird einzeln aggressiv verbal angegriffen, damit es sich bewegt und mehr gegen diesen Krieg unternimmt.

Tausende Tote hat der inzwischen gefordert, und die Wut Wladminir Putins wächst stetig. Die Regionen entlang der nordöstlichen, östlichen und südlichen Grenze der Ukraine sind unter Dauerfeuer, und längst nehmen die Soldaten dort keine Rücksicht mehr auf die Zivilbevölkerung. Gezielt werden Wohnsiedlungen, Krankenhäuser, Schulen und andere Einrichtungen der Infrastruktur ebenso wie einfache Leute angegriffen. Das ukrainische Internet funktioniert nicht mehr. Milliardär Elon Musk sorgt für Abhilfe: Er stellt sein Satelliten-Netz Starlink zur Verfügung und schaffte innerhalb kürzester Zeit Container voller Receiver ins Land. Beim russischen Überfall kamen sowohl international geächtete Streubomben, als auch Thermobomben und die nicht abwehrbaren russischen Hyperschallraketen zum Einsatz. Seit Wochen ist die Küstenstadt Mariupol eingeschlossen und total zerbombt. Evakuierungskorridore werden, wenn überhaupt, nur Richtung Russland geöffnet. Ohne Heizung, Wasser, Strom und Nahrung harren in der zerstörten Stadt noch immer über 100 000 Einwohner aus.

Seit dem ersten Aprilwochenende hat sich die russische Armee aus dem Großraum Kiev zurückgezogen. Die zerstörten umliegenden Orte offenbaren ein Bild des Grauens: Hunderte gefolterter und getöteter Zivilisten liegen auf den Straßen herum. Im Ort Butscha ist es besonders schlimm. Während der Westen in höchster Aufregung weitere strengste Sanktionen fordert, behauptet die russische Regierung, die Toten seien gestellt, so wie viele andere Szenarien der letzten Wochen Teil der ukrainischen Propaganda. Russland eröffnet seinerseits ein Strafverfahren gegen das ukrainische Militär, nachdem Hubschrauber ein Öllager bei der grenznahen russischen Stadt Belgorod in Brand gesetzt haben…

In Panik haben in der vierten Kriegswoche die russischen Soldaten die Region rund um das Katastrophen-Kraftwerk Tschernobyl verlassen. Als sie sich befehlsgemäß rund um den havarierten Atommeiler in den verseuchten Boden eingruben, erlitten sie Strahlenschäden. Ein halbes Dutzend russischer Generäle sind inzwischen gefallen. Der Frust in der Truppe ist hoch: Ein Verband hat den eigenen Kommandeur mit dem Panzer überfahren, nachdem die Brigade hohe Verluste erlitten hatte. Die Soldaten plündern Lebensmittelgeschäfte und vergewaltigen systematisch Frauen.

Der Handel der Ukraine ist durch die Blockade der Häfen durch Russland massiv eingeschränkt. Die Angreifer haben außerdem das Asowsche Meer vermint. Mehrere treibende Seeminen sind vor der Küste der Türkei aufgetaucht. Korridore für die Handelsschiffe werden nicht freigegeben. Da die Frühjahrsaussaat in weiten Teilen des Landes nicht ausgebracht werden kann, drohen nun Hungersnöte vor allem in ärmeren Staaten Afrikas, die von günstigen Weizen-Einfuhren abhängig sind.

Die EU und die USA haben massive Finanzsanktionen gegen Russland ausgesprochen. Das Auslandsvermögen in Höhe von etwa der Hälfte der Staatsreserven ist eingefroren, das Land ist so weit von Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen, dass es gerade noch möglich ist, Öl- und Gasimporte zu bezahlen, die noch den ganzen März über unverändert fließen. Putin versucht, mit Gegenmaßnahmen den wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Dann verlangt Putin die Zahlung der Energieimporte in Rubel, was die EU geschlossen ablehnt. Die Energieimporte werden rückwirkend bezahlt, so dass zu befürchten war, dass Öl und Gas nicht weiter fließen. Der deutsche Wirtschaftsminister Habeck rief also die erste von mehreren Warnstufen für den Gas-Notfallplan aus, und die deutsche Wirtschaft reagierte höchst alarmiert. Ein plötzlicher Stopp der Gas-Lieferungen, so eine DIW-Studie, würde Deutschland in eine zehnjährige Rezession treiben. Schon jetzt haben Hamsterkäufe dafür gesorgt, dass in den Supermärkten seit Wochen weder Sonnenblumenöl, noch Mehl zu finden ist.

Die Inflation in Deutschland hat im März die 7 Prozent-Grenze überschritten. Die Lebensmittelpreise steigen, der Handel erwartet Erhöhungen um bis zu 50 Prozent. Die Chemieunternehmen weisen darauf hin, dass, falls sie im Notfall kein Gas bekommen, sich dies an zahlreichen Produkten des Alltags zeigen werde, wie beispielsweise Shampoo. Die Bauern schlagen Alarm, weil auch russische Düngemittel von den Sanktionen betroffen sind. Das Problem ist so groß, dass die USA, die weltweit allen anderen Ländern mit Konsequenzen drohen, falls sie die Sanktionen umgehen, ihrerseits klammheimlich den russischen Dünger von der Liste nehmen. Um die Bevölkerung von völlig ungewohnt steigenden Preisen an den Tankstellen zu entlasten, entscheidet Präsident Biden außerdem, in der nächsten Zeit täglich eine Milliarde Barrel Öl aus der strategischen Reserve freizugeben.

Öl erreicht am Welt markt Preise von zeitweise 130 Dollar pro Barrel, die Dieselpreise an deutschen Tankstellen steigen bis auf 2,40€ pro Liter; haben sich damit gegenüber den Jahresbeginn verdoppelt. Die europäischen Regierungen reagieren schnell, die deutsche wie immer sehr langsam und viel zu schwach: Während die Gaspreise sich inzwischen verdreifacht haben, will die deutsche Regierung ein Energiegeld von 300 Euro pro Person und 100 Euro pro Kind auszahlen, das zu versteuern ist. Rentner bekommen nichts. Dazu soll es – aber nicht sofort – drei Monate lang ein ÖPNV-Ticket für 9 €/Monat geben – das auf dem Land so gut wie gar nichts nützt. Benzin und Diesel sollen drei Monate lang subventioniert werden, Benzin etwa doppelt so hoch wie Diesel.

Robert Habeck ist krisendiplomatisch in Arabien unterwegs, um neue Lieferanten für Öl und Gas zu finden, denn der Druck auf Europa, Energieimporte aus Russland zu kappen, steigt. Immer wieder wird jetzt wieder ein „vorübergehendes“ Tempolimit gefordert. Die Grünen betonen, dass der dauerhafte Ausweg ohnehin nur die erneuerbaren Energien seien. Die EU diskutiert, gemeinsam neue Einkaufsmöglichkeiten für Öl und Gas zu finden. Deutschland und wenige andere Staaten blockieren einen gemeinsamen Einkaufsstopp von Öl und Gas in Russland – mit Mühe einigt man sich auf den Importstopp von Kohle.

Mit Spannung wird erwartet, ob die EZB nun endlich ihre Geldpolitik ändert. Aber es besteht nur eine geringe Aussicht auf Änderung; zu sehr brauchen einige Staaten billiges Geld, das sie in der Vergangenheit freigiebig unter’s Volks gebracht haben: Italien beispielsweise hat damit der Bevölkerung völlig kostenfreie energetische Sanierungen ihrer Häuser spendiert.

Das Vorgehen der russischen Armee bei der Zivilbevölkerung der Ukraine und die wahllose Erschießung unbewaffneter Menschen werden mit dem Völkermord vom Srebrenica verglichen. Rufe nach einem internationalen Haftbefehl gegen Putin als Kriegsverbrecher werden laut. Für diesen ist es inzwischen kaum mehr möglich, seinen Angriff auf die Ukraine ohne Gesichtsverlust zu beenden – sofern er das überhaupt vor hat. Es kursieren Gerüchte, wonach der Präsident von seinen Beratern über den wahren Verlauf des Überfalls nicht informiert worden war, zu groß sei die Furcht vor seinen Wutausbrüchen. Seit Wochen werden Gespräche zu einem Waffenstillstand und/oder Bedingungen für ein Ende des Krieges gestellt – bisher ohne jedes Ergebnis. Der russische Präsident verlangt nicht nur dauerhafte Neutralität der Ukraine, zu der das Land inzwischen gegen Sicherheitsgarantien bereit wäre. Er fordert auch die Anerkennung des Donbas als eigenständig, was für die Ukraine nicht zur Debatte steht. Und eigentlich denkt er noch viel globaler, wie jetzt in aller Grausamkeit deutlich wird: Seit zehn Jahren propagiert Putin eine Freihandelszone von Portugal bis Wladiwostock. Ob es nur eine Freihandelszone sein soll, darf inzwischen bezweifelt werden.

Das kleine Moldawien, Polen, die baltischen Länder, Finnland und Schweden fürchten, dass Putins Aggression sich in Kürze auf sie richten könnte. Erstmals denken Finnland und Schweden an einen Beitritt zur Nato, obwohl Russland für diesen Fall mit ernsthaften wirtschaftlichen und militärischen Konsequenzen droht. Die Nato reagiert mit großflächiger Verlagerung von Truppen und Gerät an ihre Ostgrenze. Alle Verbindungen zwischen dem Westen und Russland scheinen dauerhaft gekappt. Wladimir Putin bleibt jedoch nicht untätig: Bei Besuchen in China und Indien werden Verträge über die Lieferung von Öl und preisgünstigem Gas abgeschlossen, zahlbar in den Landeswährungen, also unabhängig von den US-Sanktionen. Indien, das von Russland auch Waffen bezieht, hat sich, wie China, bei der UN-Vollversammlung geweigert, den russischen Überfall auf die Ukraine zu insgesamt verurteilen, hat allerdings nach den grauenhaften Bildern aus Butcha die Tötung von Zivilisten angeprangert. Beide Staaten, die zusammen immerhin für rund drei Milliarden Menschen stehen, rechnen sich Vorteile durch die Zusammenarbeit mit Russland aus.

So ist innerhalb weniger Wochen nicht nur ein neuer kalter Krieg entflammt, der jederzeit ein heißer werden könnte. Vielmehr ändert sich die bisherige Weltordnung in Riesenschritten. Die wirtschaftlich starken und aufstrebenden Länder Asiens verbünden sich mit Russland gegen Europa und die USA, vor allem aber auch gegen den Dollar. Wenn dieser als Welt-Leitwährung endgültig entmachtet wird, werden Sanktionsmaßnahmen zunehmend ihre Wirkung verlieren. China weitet seinen Einfluss unter anderem in Afrika kontinuierlich aus. Auch mit wenig Fantasie lässt sich leicht ausmalen, wohin diese Entwicklung führt: Der Westen muss darauf achten, nicht unter die Räder zu geraten. Allein die ständige Demonstration moralischer Überlegenheit wird ihn davor nicht retten.

Wohin die Reise führen könnte, zeigte sich diese Woche im Weltsicherheitsrat. Dort wurde, um der russischen Propaganda etwas entgegen zu setzen, Präsident Selensky per Video zugeschaltet. Dieser stellte den gesamten Sicherheitsrat in Frage: Wenn er nicht in der Lage sei, Sicherheit herzustellen, müsse er sich entweder dringend reformieren – oder sich selbst auflösen. Damit trifft der ukrainische Präsident einen Nerv: Da sowohl die USA, als auch Russland, bei Beschlüssen des Weltsicherheitsrates Vetorecht haben, können sie jeweils eine Verurteilung ihres eigenen Handelns verhindern. Jetzt versuchen die USA, Russland aus dem Weltsicherheitsrat zu werfen. Das wäre für die Vereinigten Staaten der beste Weg: Sie würden ihr Vetorecht behalten, und Russland könnte verurteilt werden. Sinnvoller wäre aber, im Rat Mehrheitsbeschlüsse möglich zu machen, die von keinem Veto verhindert werden können. Dann könnte sich der Rat auch anderen Kriegsverbrechen widmen – und die USA kämen nicht gut dabei weg.

Ganz besonders geht es hier um den völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA in den Irak vor fast 20 Jahren. Im Unterschied zum Ukrainekrieg bekam die Öffentlichkeit dazu so gut wie keine Bilder zu sehen und erfuhr auch kaum Einzelheiten, wie etwa zum Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung – dafür sorgten die US-Präsidenten höchstpersönlich. Umso ärgerlicher war es für das Land, das sich so gern als Vertreter der Menschenrechte inszeniert und den moralischen Zeigefinger zeigt, dass Wikileaks im Oktober 2010 fast 400 000 Geheimdokumente der Amerikaner zum Irak-Krieg veröffentlichte. Wenige Monate zuvor hatte die Enthüllungsplattform bereits 77 000 geheime US-Dokumente zur Lage in Afghanistan veröffentlicht und sich damit den Zorn der US-Regierung zugezogen. Nun wurden blutige Details des Irak-Krieges offenbar: Einer internen Aufstellung der Armee zufolge wurden zwischen der Invasion 2003 und Ende 2009 insgesamt etwa 109 000 Iraker getötet, 63 Prozent von ihnen Zivilisten.

Zusätzlich wurden Berichte über Folter und Erniedrigung veröffentlicht. Wikileaks zitierte Augenzeugen mit den Worten: „Die einzigen Grenzen, die es gab, waren die Grenzen der Vorstellungskraft.“ In der Mehrzahl der Fälle gehe es um Taten von Irakern gegen Iraker. Ausgebildet worden waren diese irakischen Foltertrupps von US-Amerikanern. Eine führende Rolle dabei soll der Texaner Jim Steele inne gehabt haben, involviert war auch General Petreus, der später wegen einer Liebesaffaire stürzte. Ein Skandal für sich wurden die Berichte über Folterungen und Demütigungen im US-Geheimgefängnis Abu Graib: Dort hatten US-Soldaten in mindestens 400 Fällen Männer und Frauen vergewaltigt, sexuell extrem misshandelt, mit Hunden bedroht, kopfüber aufgehängt und vieles mehr. Präsident Obama verbot die Veröffentlichung der Bilder aus dem Gefängnis, weil sie „den Anti-Amerikanismus stärken und Soldaten in Afghanistan gefährenden“ könnten. So wurde möglich, was im Ukraine-Krieg niemals gelingen wird: Während die Flut der Bilder geschundener Menschen und zerstörter Zivilgebäude aus der Ukraine sich auf Dauer ins kollektive Gedächtnis einprägen werden, geraten die Hässlichkeiten des Irak-Krieges so langsam in Vergessenheit. Jedenfalls im Westen – nicht jedoch im Nahen Osten und in Asien. Dort vergleicht man Putins Krieg sehr wohl mit denen der USA.

Wikileaks konnte so viel über den Irak-Krieg veröffentlichen, weil ein als Bradley Manning bekannt gewordener Soldat während der Stationierung im Irak Hunderttausende Armeedokumente sowie Depeschen der USA von Militärrechnern heruntergeladen hatte. Darunter waren auch zwei Schock-Videos: Kampfhubschrauber der Army hatten am 7. Juli 2007 Ziele in Nord-Baghdad angegriffen.

Beim ersten Angriff beschossen die beiden Apaches mit ihren 30mm-Bordkanonen eine Gruppe von neun bis elf Männern, die sich im Weg von herannahenden amerikanischen Bodenkräften befanden. Einige der Männer waren bewaffnet mit AK-47 und einer Panzerfaust; andere waren unbewaffnet. Zwei für die Nachrichtenagentur Reuters arbeitende irakische Kriegsberichterstatter Saeed Chmagh und Namir Noor-Eldeen, begleiteten die Gruppe. Noor-Eldeens Kamera wurde dabei ebenfalls für eine Waffe gehalten. Acht Männer, Noor-Eldeen eingeschlossen, wurden während dieses Angriffes getötet. Der zweite Angriff, bei dem auch die 30mm-Kanone zum Einsatz kam, galt dem verletzten Saeed Chmagh und zwei unbewaffneten Männern, die Chmagh helfen wollten: Kurz bevor die Bodentruppen eintrafen, versuchten sie ihn in ihren Van zu ziehen. Dabei wurden die drei Männer getötet und zwei im Wagen sitzende Kinder verletzt.

Bradley Manning, der Informant, der heute Chelsea Manning heißt, wurde in den USA wegen Geheimnisverrat 2013 zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, legte aber Berufung ein und kam wesentlich früher frei. Als Staatsfeind Nr. 1 betrachten die Vereinigten Staaten hingegen noch immer Julian Assange, einen der Gründer von Wilikeaks. Assange hatte für die Veröffentlichung gesorgt. Der 1971 in Australien geborene investigative Journalist wird seit dem Jahr 2010 gejagt. Zunächst stellte Schweden einen internationalen Haftbefehl wegen des Vorwurfs sexueller Nötigung aus, der inzwischen längst zurückgezogen ist. Großbritannien verhaftete Assange und bereitete sich auf die Überstellung in die USA vor. Der auf Kaution Freigelassene flüchtete sich in die Botschaft von Ecuador, wo er sieben Jahre lang ausharrte. Er erhielt sogar die ecuadorische Staatsbürgerschaft, konnte die Botschaft aber nicht verlassen, weil er sofort verhaftet worden wäre.

Nach einem Regierungswechsel in Ecuador wurde Assange 2019 die Staatsangehörigkeit wieder entzogen. Er wurde in der Botschaft verhaftet und sitzt seitdem in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis in Einzelhaft, bis über den Antrag der USA auf Auslieferung entschieden ist, der sich im Berufungsverfahren befindet. In den USA droht Assange lebenslange Haft unter extremen Bedingungen. Nachdem er inzwischen seit 12 Jahren eingesperrt ist, hat der Journalist seelisch erheblich Schaden genommen. Wäre seine Anwältin nicht, die er kürzlich geheiratet und mit der er zwei Kinder hat, würde er womöglich nicht mehr leben.

Diese Gegenüberstellung zweier Kriege dient nicht der Rechtfertigung einer oder der anderen Seite. Es geht darum, nicht mit zweierlei Maß zu messen. Unzählige Kriegsverbrechen sind nicht gesühnt – und das darf nicht sein. Von den Sünden Chinas in dieser Beziehung habe ich andernorts bereits berichtet. Seit 63 Jahren ist Tibet nun aus chinesischer Sicht „befreit“. Noch immer werden Klöster zerstört, Mönche inhaftiert und grausam gefoltert, bevor sie zum Sterben heimkehren. Der Besitz eines Fotos des Dalai Lama ist dem tiefgläubigen Volk unter Strafe verboten. Unterricht in tibetischer Sprache darf nicht mehr stattfinden. Sogar die Gebetsfahnen, mit denen Tibeter die heiligen Berge geschmückt haben, müssen „aus Gründen des Umweltschutzes“ entfernt werden. Von der Behandlung der muslimischen Uiguren war in letzter Zeit häufiger die Rede. Sie werden zu Zigtausenden in Umerziehungslager gesteckt. In China soll nichts existieren, das anders denkt, als es die Partei vorgibt. Der Weltsicherheitsrat weiß von all diesen Dingen, handelt aber nicht. Es darf auch nicht sein, dass die größten Kriegsführer dieser Welt nicht bereit sind, sich Kriegsverbrecher-Verfahren in Den Haag zu stellen, weil sie den Gerichtshof schon gar nicht anerkennen.

Saudi-Arabien führt zusammen mit einer Allianz arabischer Staaten, zu denen auch Katar, Kuweit und die Vereinigten Emirate gehören, seit sieben Jahren einen vernichtenden Stellvertreterkrieg gegen den Iran im Jemen. Er wird von den USA unterstützt. Jemen war schon vorher ein bettelarmes Land. Dort gibt es inzwischen eine der schwersten humanitären Katastrophen weltweit. Trotzdem wird dieser Krieg bei uns kaum beachtet. Warum? Weil wir kaum Bilder davon sehen. Inzwischen wurden mehr als 24 000 Luftangriffe auf Ziele im Jemen geflogen. Wer sich die Karte anschaut sieht, dass es so viele militärisch wichtigen Ziele dort gar nicht geben kann. Es geht also auch hier gegen Zivilisten. Seit 2014 sind mehr als 200 000 Menschen gestorben, rund die Hälfte davon an Hunger oder Krankheiten. Hilfstransporte erreichen die leidende Bevölkerung nur schwer.

Und was tun wir? Wir tauschen Energielieferungen vom Kriegsverbrecher Putin gegen Lieferungen aus Arabien, deren Regierungen sich keinen Deut weniger schuldig gemacht haben. Mal ganz abgesehen davon, dass weder in Katar, noch in Saudi-Arabien die Menschenrechte so geachtet werden, wie wir das immer einfordern. Erst kürzlich hat Saudi-Arabien an einem einzigen Tag 81 Menschen hingerichtet, einige davon allein wegen Teilnahme an Sitzstreiks und Protesten.

Auf dieser Welt sollte es überhaupt keine Kriege geben. Nahrung und Wasser müssten gerecht verteilt und das Zusammenleben geprägt sein von dem Bewusstsein, dass wir alle Brüder und Schwestern sind – egal wo wir leben und welche Hautfarbe wir haben. Leider wird das wohl niemals der Fall sein und die Menschheit sich irgendwann wohl selbst vernichten. Dann profitiert wenigstens der Planet, an dessen Zerstörung wir so erfolgreich arbeiten.

Siehe auch: Angriff auf die Ukraine: Putins aufgestauter Zorn entlädt sich

Ukraine: USA/NATO war spätestens 2008 klar, dass es Russland ernst war

Nach elf Tagen Ukraine-Krieg zählt der Westen bereits zwei Millionen Flüchtlinge. Russland greift inzwischen gezielt die Zivilbevölkerung an, denn das Land soll unter allen Umständen besiegt werden, koste es, was es wolle. In Den Haag und beim Bundesverfassungsgericht Karlsruhe werden jetzt Beweise für russische Kriegsverbrechen gesammelt.

Der ukrainische Präsident Selensky fordert mit Macht eine Flugverbotszone über seinem Land, sowie Kampfflugzeuge. Die Nato weigert sich, eine Flugverbotszone einzurichten, weil diese nur durch Eindringen in den ukrainischen Luftraum kontrolliert werden könnte, was gleichbedeutend mit einem Eintritt in den Krieg wäre. Nur Polen verfügt über Flugzeuge sowjetischer Bauart, die ukrainische Piloten fliegen können. Diese auf Bitten des US-Außenministers Blinken direkt zu übergeben, weigerte sich das Land allerdings und schickte sie nach Ramstein in Deutschland, damit die Amerikaner selbst handeln können. Das wollen die USA aber auch nicht; eines von vielen Dilemmas dieses Krieges.

Der Nato, und speziell den USA war dabei seit mindestens 14 Jahren absolut klar, wie sehr Russland gegen die Nato-Osterweiterung war. Speziell bei der Ukraine war eine klare rote Linie, wie vertrauliche Dokumente belegen, die Wikileaks jetzt veröffentlichte. Am 1. Februar 2008, nach einem Gipfel Ende Januar in Bukarest, notierte US-Botschafter William J. Burns, der russische Außenminister Lawrow habe sehr deutlich gemacht, dass sein Land die Osterweiterung des atlantischen Militärbündnisses als potentielle militärische Bedrohung werte. Besonders die Ukraine (die 2008 einen Beitrittsantrag gestellt hatte), bleibe für Russland ein hoch emotionales, neuralgisches Thema. Man fürchte, das Land könne in zwei Teile zerfallen, dass es innere Unruhen gebe, vielleicht sogar einen Bürgerkrieg, in dem Russland dann gezwungen sei, zu intervenieren.

Ein Beitritt der Ukraine zur Nato, so habe Lawrow erklärt, habe massive Auswirkungen auf die russische Verteidigungsindustrie, auf russisch-ukrainische Familienbeziehungen und auf das gesamte bilaterale Verhältnis. In Georgien, das ebenfalls der Nato beitreten wollte, fürchte man dauerhafte Instabilität und Provokationen durch Separatisten.

Auch wenn man vielleicht westlichen Behauptungen Glauben schenken könnte, dass sich die Nato-Osterweiterung nicht gegen Russland richte, sagte Lawrow, so spreche doch die militärische Aktivität, besonders die amerikanische, nach vorn schauende, eine andere Sprache. Man stelle außerdem fest, dass neue Nato-Mitglieder denken, sie könnten „sagen und tun, was immer sie wollten“, weil sie ja nun unter dem Nato-Schutzschirm stehen. Es gebe Versuche, die Geschichte umzuschreiben und den Faschismus zu glorifizieren.

In einer Pressekonferenz vor der Konferenz in Bukarest, so das Schreiben des Botschafters weiter, habe ein Sprecher darauf hingewiesen, dass Russland und die Ukraine an einen bilateralen Vertrag über Freundschaft, Kooperation und Partnerschaft aus 1997 gebunden seien, in dem auch gegenseitige Unterstützung vereinbart sei, sobald die Sicherheit eines der Partner bedroht sei. Nun habe man aber zunehmend den Eindruck, die Ukraine betrachte den Beitritt der Nato als Alternative zu den gutnachbarschaftlichen Beziehungen mit der russischen Föderation. In diesem Fall müsse Russland aber „angemessene Maßnahmen“ ergreifen.

Russland nehme eine Einkreisung wahr, vermerkt der Botschafter, sowie Versuche, den russischen Einfluss in der Region zu unterminieren. Besonders Widerstände in Regionen mit einem hohen Anteil an russischen Einwohnern könnten zu Gewalt und schlimmstenfalls zu einem Bürgerkrieg führen, in den Russland dann eingreifen müsse. Dmitriy Trenin, Direktor vom Carnegie-Zentrum Moskau, fürchte, dass aufgrund der hoch emotionalen russischen Reaktion besonders die Ukraine eine sehr destabilisierende Wirkung auf die amerikanisch-russischen Beziehungen haben könnte, da sich beide dann in einer klassisch konfrontativen Position direkt gegenüber stehen würden.

Ein weiteres Problemthema, so das Papier des Botschafters sei, dass sich Russland und die Ukraine mehrere Produktionsstandorte für russische Waffen teilen. Man sei zwar dabei, die Produktion nach Russland zu verlagern, außerdem die Schwarzmeerflotte schon vor der Deadline 2017 von Sewastopol nach Noworossiysk zu verlagern, dennoch würde ein Nato-Beitritt der Ukraine für Russland hohe Kosten in der Verteidigungsindustrie mit sich bringen.

Schließlich, so Aleksandr Konowalov, Direktor des Instituts für strategische Ausrüstung, gebe es tausende von Berufspendlern zwischen beiden Ländern. Würde dies unterbunden, wäre das eine Quelle ständigen Ärgers in der lokalen Bevölkerung.

Russland habe damit gedroht, ein Nato-Beitritt von Ukraine und Georgien werde massive Auswirkungen auf Energie und Wirtschaft, auch für andere Nato-Staaten haben, außerdem müsse man sich aus Abrüstungsverträgen zurückziehen und den amerikanischen Missile-Verteidigungsplänen direkter entgegen treten.

Obwohl die Nato-Staaten die russischen Drohungen 2008 nicht wirklich ernst nahmen, wie aus dem Papier ebenfalls hervor geht, wurde der Nato-Beitritt der Ukraine danach immer wieder von der Nato selbst verzögert, während die Aufrüstung in den östlichen Mitgliedsländern immer weiter voran schritt. Nach der Annektierung der Krim 2014 sorgte Russland dann für kriegerische Auseinandersetzungen der ukrainischen Armee mit Separatisten in den beiden südöstlichen Provinzen. Auch so ein Konflikt ist ein direkter Hinderungsgrund für einen Nato-Beitritt.

Siehe auch:

USA/NATO war spätestens 2008 klar, dass es Putin ernst war – Wikileaks

Stell dir vor, es gibt keine Grenzen – nichts wofür man sterben muss…

Er ist nun schon länger tot, als er lebte: John Lennon war erst 40 Jahre alt, als er seinen Mörder traf. Aber sein Traum von Frieden, Freiheit und Einheit lebt.

stell dir vor, da ist kein himmel

ist ganz einfach, wenn du es versuchst

keine Hölle unter uns

über uns einfach weite freiheit

.

stell dir vor, alle leute

leben nur für heute

ah

.

stell dir vor es gibt keine staaten

ist gar nicht schwer

nichts, wofür man tötet oder stirbt

und auch keine religion

.

stell dir vor alle leute

leben ihr leben in frieden

du

.

vielleicht wirst du sagen, ich bin ein träumer

aber ich bin nicht der einzige

ich hoffe, eines tages wirst du dich uns anschließen

und die welt wird  eins sein

.

stell dir vor, es gibt keinen besitz

ich frage mich, ob du das kannst

keine notwendigkeit für gier oder hunger

eine bruderschaft der menschheit

.

stell dir vor all die leute

teilen sich die ganze welt

du

.

du wirst vielleicht sagen, ich bin ein Träumer

aber ich bin nicht der einzige

ich hoffe, eines tages wirst du dich uns anschließen

und die welt wird  eins sein

Die Ukraine-Krise ist in Wahrheit ein lange geplanter Finanzkrieg

Die Märkte der Welt sind nicht politisch. Sie folgen „nur“ der Spur des Geldes. Um das tun zu können, beobachten sie die Welt- und Geldpolitik aber sehr genau. Deshalb sind Analysen aus Trading-Perspektiven oft um ein vielfaches ehrlicher als die der Politik. Alasdair Macleod vom kanadischen Konzern Goldmoney hat am 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarsches Russlands in die Ukraine, den Ukraine-Krieg, seine Gründe und seine Auswirkungen auf die Geldmärkte in Europa und in den USA analysiert. Sein Ergebnis ist mehr als bedenklich, denn er führt auf: Die hohe Verschuldung der EZB und die enorme Ausweitung der Geldmenge hat die Währung Euro an ihre Grenzen gebracht. Sie kann jederzeit kippen, wenn sie unter Druck gerät. Genau das könnte passieren, wenn jetzt die falschen Entscheidungen getroffen werden.

Deshalb möchte ich die Analyse Macleods leicht gekürzt übersetzen und hier festhalten.
GoldMoney Inc. ist ein kanadisches Edelmetall-Finanzdienstleistungs- und Technologieunternehmen. Über seine Tochtergesellschaften ist das Unternehmen im An- und Verkauf von Metallen, der Lagerung von Edelmetallen für seine Kunden und im Münzhandel tätig. Zu den Segmenten des Unternehmens gehören Goldmoney Holding, Schiff Gold, LBTH und Mene. Der im folgenden übersetzte Text drückt die persönliche Meinung des Autors aus.

Mit diesen Punkten setzt sich Alasdair Macleod ausführlich auseinander:

  • Die Ukraine ist Teil eines wesentlich größeren geopolitischen Bildes. Russland und China möchten hegemonische Einflüsse im eurasischen Kontinent marginalisieren. In der Folge von Niederlagen der US-Außenpolitik in Syrien und Afghanistan und dem Brexit treibt Putin einen Keil zwischen Amerika und dem nicht-angelsächsischen Teil der EU.
  • Bedingt durch das globale Wachstum der Geldmenge, profitiert Russland von steigenden Energiepreisen, und es kann es sich leisten, Deutschland und andere EU-Staaten, die von seinem Gas abhängig sind, zu erpressen. Das wird erst aufhören, wenn Amerika einspringt.
  • Die USA, die sich sehr bewusst sind, dass ihre dominante Rolle in der Nato bedroht ist, versuchen die Ukraine-Krise zu eskalieren, um Russland in eine unhaltbare Besatzung zu ziehen. Putin wird nicht darauf hereinfallen.
  • Die Gefahr für uns alle ist nicht ein tatsächlicher Krieg – das betrifft wahrscheinlich nur die jederzeit unterbrechbaren Attacken auf militärische Ziele, mit denen Putin in der Nacht zum 24. Februar begann – sondern ein Finanzkrieg. Für den ist Putin bestens vorbereitet.
  • Beide Seiten sind sich wahrscheinlich nicht darüber im Klaren, wie zerbrechlich das Bankensystem der Eurozone ist, in dem sowohl die EZB, als auch ihre Träger, die nationalen Zentralbanken jetzt schon mehr Schulden haben als Vermögenswerte. In anderen Worten: Steigende Zinsen zerbrechen das Euro-System. Eine wirtschaftliche und finanzielle Katastrophe an seiner Ostflanke wird wahrscheinlich seinen Kollaps auslösen.

Die These von Mackinders Welt-Insel

Die Spannungen zur Ukraine folgen einer größeren Perspektive – einem Kampf zwischen den USA und den beiden eurasischen Hegemonen Russland und China. Der Preis für den Sieger ist die ultimative Kontrolle über Mackinders Welt-Insel.

Halford Mackinder ist bekannt als der Begründer der Geopolitik: dem Studium von Faktoren wie Geografie, Geologie, Wirtschaft, Demographie, Politik, Außenpolitik und der Interaktion aller. Der berühmte Kernsatz dieser Theorie aus dem Jahr 1905 lautet: Wer Osteuropa beherrscht, herrscht über die Welt-Insel (Eurasien); wer die Welt-Insel regiert, beherrscht die Welt. Stalin soll sich sehr für diese Theorie interessiert haben, und auch wenn es nicht zugegeben wird, sind sich die Führer und Verwaltungen von Russland, China und den USA sicher der Theorie und ihrer Auswirkungen bewusst.

Wir können nicht wissen, on Russen und Chinesen begeisterte Mackinder Fans sind, aber ihre Partnerschaft in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) stimmt mit der Welt Insel-Theorie überein. Seit den Anfängen als post-sowjetisches und post-Mao Sicherheitsabkommen zwischen Russland und China 2001, gegründet, um dem islamischen Fundamentalismus etwas entgegen zu stellen, hat sich das SCO zu einer politisch und wirtschaftlich gemeinsamen Regierungsorganisation entwickelt, die mit ihren Mitgliedern, Beobachterstaaten und Dialogpartnern immerhin für 3,5 Milliarden Menschen zuständig ist, die Hälfte der Weltpopulation.

Die symbiotische Beziehung zwischen dem ressourcenreichen Russland und dem industriellen Teil Chinas hält die ganze Organisation zusammen. Chinas Entwicklung auf dem asiatischen Kontinent beinhaltet das Versprechen dramatischer Verbesserungen in jedermanns Lebensumständen. Und im Einklang mit der Welt-Insel-Theorie dominiert das chinesische Geld inzwischen die ganzen Sub-Sahara-Staaten in Afrika, den Nahen Osten (middle east) und die südöstlichen asiatischen Nationen, besonders solche, die von China kontrolliert und beeinflusst werden.

Während die sino-russische Partnerschaft die Welt-Insel wirtschaftlich dominiert, wurde Amerika allmählich aus den asiatischen Angelegenheiten verdrängt. Seine Kampagnen im Nahen Osten nach 9/11 haben die Region destabilisiert, haben Amerikas Feinden in die Hände gespielt und ihren europäischen Alliierten scheußliche Flüchtlings-Kalamitäten eingebracht. Ihr Rückzug vom ressourcenreichen Afghanistan war nur noch der letzte Domino-Stein, der fiel. Die USA haben politischen Einfluss nur noch in Westeuropa und Südostasien, obwohl ihre militärische und geheimdienstliche Präsenz noch immer weit verbreitet ist.

Heute ist das Verhalten der USA das eines Hegemons, dessen Zeit zuende geht. Durch den Brexit Großbritanniens hat sich der Einfluss der USA auf die europäische Union ohne die politische und Sicherheitspartnerschaft mit Großbritannien deutlich verringert. Ihr Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten wird zum Einen unterminiert von der Entschlossenheit der Türkei, einen neuen Schwerpunkt in Zentralasien zu setzen, zum Anderen durch die Entschlossenheit der EU, ihre eigene Verteidigung selbst zu organisieren. Die Irrelevanz der Nato für die künftige Verteidigung Europas wird den Russen jetzt bewusst, und es muss hart für sie sein, sich zu beherrschen, den Niedergang nicht noch zu beschleunigen.

Im kalten Krieg im Pazifik geht es vor allem darum, China etwas entgegen zu setzen. Während Taiwans Zukunft und die chinesischen Versuche, Marinebasen im südchinesischen Meer zu etablieren, die Überschriften dominieren, steigt Chinas Handelseinfluss in der Region stetig an. Nachdem Donald Trump sich für Amerika aus der geplanten transpazifischen Partnerschaft TTP zurückzog, wurde TTP ersetzt durch eine verständnisvolle und fortschrittliche Einigung für eine transpazifische Partnerschaft, die im Dezember 2018 in Kraft gesetzt wurde. Die elf Unterzeichner und ihre kombinierte Wirtschaftsleistung repräsentieren 13,4 Prozent der Welt-Wirtschaftsleitung. Sie ist damit eine der größten Freihandelszonen weltweit und schließt Australien und Neuseeland ein. Sogar Großbritannien hat formell den Beitritt beantragt, was es durch seine Commonwealth-Teile in der Region auch kann. So sind jetzt drei der US-Sicherheitsgruppe „Fünf Augen“ Teil der CPTPP.

China hat letzten September ebenfalls den Beitritt in CPTPP beantragt. Zurzeit ist seine Mitgliedschaft noch nicht sicher. US-Alliierte in der Partnerschaft, inclusive Japan, bestehen auf mehreren Bestimmungen, die blockierend wirken. Aber, wie das Sprichwort sagt, China ist der Elefant im Raum, und man wird das Land nicht dauerhaft aus der Partnerschaft heraushalten können. Zurzeit macht China statt dessen bilaterale Freihandelsabkommen mit ausgesuchten CPTTP-Mitgliedern.

Wo auch immer die USA politische und militärische Kontrolle über den Pazifik behalten wollen, werden möglicherweise Handelsbeziehungen diesen Einfluss verkleinern. Und während die Säbel über Taiwan und Pazifik-Atollen rasseln, macht Putin Europa am anderen Ende der Welt-Insel Druck, die von Amerikanern dominierten Verteidigungsarrangements zu beenden.

Beobachter des größten der großen Spiele sollten die Entwicklungen in der Ukraine im Kontext der Mackinder Herzland-Theorie betrachten. Einmal verstanden, und man versteht ein Stück von Putins Gedankenwelt. Den amerikanischen Einfluss aus Eurasien heraus zu drängen, war sein Ziel, seit sich Amerika nicht daran gehalten hatte, die Nato nicht weiter nach Osten auszubauen.

Ukraine in der Mitte eingeklemmt

Russland, wie auch die Angelsachsen, verschärfen ihre Rhetorik zur Ukraine. Bis vor kurzem hatte die Ukraine selbst wenig Beweise für die Wahrheit der westlichen Propaganda gesehen und darum gebeten, sie herunterzufahren, denn ständig über den Krieg zu reden, mache diesen zunehmend wahrscheinlicher und ruiniere die Wirtschaft. Der EU-Mainstream will einfach nur Frieden und Gas. Es gibt zunehmend Sorge, dass das ständige Kriegsgerede selbsterfüllend wirke, wie im Ersten Weltkrieg. Wäre das so, sind sich die Militärstrategen einig, dass Putin wild entschlossen wäre, die gesamte Ukraine zu übernehmen. Aber ein Land gegen den Willen der Bevölkerung zu besetzen, das außerdem eine extrem lange Grenze hat, über die Dissidenten mit Waffen und anti-russischer Propaganda versorgt werden können, ist eine ganz andere Sache.

Deshalb erscheint es wahrscheinlicher, dass die russische Besatzung sich am Ende auf Donbas und Luhansk beschränkt. Ohne einen Schuss abzufeuern hatte Russland mit der Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ die Grenze um über 50 Kilometer hinein auf ukrainisches Gebiet verschoben. Da sollte eine Besatzung eigentlich enden – was nicht zu verwechseln ist mit Präventivschlägen gegen militärische Ziele und Flughäfen.

Also was will Putin wirklich: Im Prinzip will er, dass Amerika sich aus Osteuropa zurückzieht. Und nach dem Brexit von „Amerikas Pudel“ sieht er auch keinen Grund, warum Großbritannien noch dort sein sollte. Mit dem Daumen auf verschiedenen Gas-Pipelines Richtung Europa will er Deutschland und andere EU Nato-Mitglieder zwingen, seine Sichtweise anzunehmen. Die Ukraine-Krise kommt kurz nach dem desaströsen Abzug der Amerikaner aus Afghanistan, die deren verfehlten Versuch, Assad in Syrien abzusetzen folgte. So ist aus Putins Sicht die amerikanische Politik gescheitert. Er ist dabei, Amerika in die Flucht zu schlagen und will aus dessen Rückzug Kapital schlagen. In der Zwischenzeit finden die USA, die Westeuropa über die Nato seit dem Zweiten Weltkrieg regiert haben, es schwierig, sich mit ihren Rückschlägen zu arrangieren und müssen wieder auf die Füße kommen. Vermutlich hoffte die Biden Administration, mit der Verbreitung von Ängsten vor einer russischen Invasion, Putin entweder zum Rückzug oder zum Angriff auf die Ukraine zu bringen. Hätte er sich zurückgezogen, wäre es ein diplomatischer Sieg gewesen, der es den USA gestattet hätte, ihre Präsenz in Kiew wieder aufzubauen. Im Fall von Invasion und Besatzung kann Amerika helfen, der Besatzungsmacht das Leben extrem schwer zu machen. Egal wie würde es das Ende der politischen Fehlschläge auf dem eurasischen Kontinent bedeuten.

Aber Putin ist nicht verrückt. Er zerstört die Wirtschaft der Ukraine und hat den Daumen auf Nordstream 1. Deutschland hat zu viele wirtschaftliche und finanzielle Interessen in Osteuropa und Russland, als dass das nicht schmerzen würde. In Deutschland liegt außerdem der Haupt-Endpunkt von Chinas neuer Seidenstraße. Wenn Deutschland sich den USA beugt: Werden diese dann auch Druck auf das Land ausüben, seine Geschäftsbeziehungen zu China aufzugeben?

Das ist die geopolitische Realität, der sich Deutschland und alle Europäer jetzt stellen müssen. Der neue deutsche Kanzler muss entscheiden: Steht er auf der Seite Amerikas, opfert das deutsche wirtschaftliche Potential und schaut zu, wie die Energiekosten in die Höhe schießen, oder erkennt er die wirtschaftlichen Realitäten der Partnerschaft zu Russland und China und deren langfristig enorme Möglichkeiten?

Russland, die USA und Deutschland sind die wichtigsten Akteure, deren Entscheidungen das Ergebnis der Ukraine-Situation festlegen werden. Eine Eskalation in einen nicht-nuklearen Konflikt und eine russische Besatzung der Ukraine nutzt ausschließlich den Amerikanern, denn sie beweist, dass ihre Gegenwart die Garantie für nationale Sicherheit ist.

Ukraine als virtuelles Schlachtfeld

Es war klar, dass die geographische Lage der Ukraine zwischen den freien zentraleuropäischen Staaten und Russland das Land zum Zentrum der steten Rivalität zwischen Russland und den USA machen würde. Seit dem Fall der Sowjetunion war die Ukraine entschlossen, ihren Weg unabhängig von Russland als souveräne Nation zu gehen. Aber der Anfang war schwierig, mit den östlichen Provinzen, die vorwiegend nach Russland orientiert waren, während die westlichen eher nach Zentraleuropa tendierten. Die Orange und die Maidan-Revolution 2004 und 2014 waren Stellvertreter-Kämpfe zwischen den USA und Russland. Während die USA Milliarden in ihre ukrainischen Interessen steckten, antwortete Russland mit der Annektierung der Krim und dem Schüren von Rebellionen in Luhansk und Donetsk. Damit hatte Putin diese territoriale Auseinandersetzung in einem fortgesetzten Krieg für sich entschieden.

Anders als diese östlichen Provinzen versuchten die meisten Ukrainer verzweifelt zu verhindern, dass ihr Land eine russische Kolonie wird. Sie wollten sich um eine Mitgliedschaft in der EU bemühen, was ihr von Russland unterstützter Ex-Präsident Janukowitch 2013 verhinderte. Das führte zur Maidan-Revolution und Janukowitchs Flucht nach Russland. Die Ukraine suchte auch den Schutz der Nato, was Putin dazu provozierte, dem ostwärts wandernden amerikanischen Einfluss ein Stoppschild entgegen zu stellen.

Während die Ukraine nie ganz aus den Überschriften verschwand, setzten später in 2014 die USA einen neuen Fokus auf Syrien. Das Scheitern des Versuchs, Assad zu verdrängen, der auf russische Hilfe setzte, war gefolgt von dem in Afghanistan. Jetzt ist die Ukraine auf Initative Russlands in den Schlagzeilen. Putin führt nun proaktiv in den Konflikt, statt in Ruhe Amerika all seine Fehler machen zu lassen und dabei mit den Augen zu rollen. Das bedeutet eine massive Änderung der russischen Strategie. Es bedeutet, dass Putin Amerika als aus dem Gleichgewicht gekommen wahrnimmt und daraus folgert, dass er gute Chancen auf den Gewinn hat.

Putin hat seine Verteidigung sorgfältig vorbereitet. Nach der Invasion der Krim hatten US-Politiker gefordert, Russland aus dem Swift-System auszuschließen. Seitdem hat das Land Mir entwickelt, ein elektronischen Zahlungssystem, und das Swift-Gegenstück, als SPFS bekannt. SPFS hat Schnittstellen zu China, Indien, dem Iran und anderen Mitgliedern der eurasischen Wirtschaftsunion. Die russische Zentralbank hat das kommerzielle Bankennetzwerk verstärkt und den Einfluss des Dollars so weit wie möglich reduziert, indem sie in Gold und Euro investierte. Heute hält sie deutlich weniger Finanzreserven im US Bankensystem oder in US-Bonds. Damit hat Putin signalisiert, dass er die Gefahr eines Finanzkrieges höher einschätzt als die eines physischen. Wie Präsident Biden sagte: Wenn Amerikaner direkt gegen Russen kämpfen, bedeutet das einen Weltkrieg, daher wird es nicht passieren. In diesem Sinne ist die Ukraine, die Russland im Energie-Würgegriff hält, ein virtuelles Schlachtfeld für einen Stellvertreterkrieg.

Finanzielle Betrachtungen

Die wichtigsten Parteien sind Russland, die USA und die EU. In der EU ist es vor allem Deutschland, aber alle Mitglieder werden betroffen sein.

Wie zuvor dargelegt, ist Russlands wichtigstes Ziel, Amerika aus Europa heraus zu bekommen. Seine Strategie ist es, einen Keil zwischen die USA und Europa zu treiben, hier besonders dessen industrielles Kraftzentrum Deutschland. Diese Pläne begannen schon mit der Konstruktion von Nordstream 1, mit der die Ukraine, die mit Gazprom im Streit lag, umgangen werden konnte. 2012 war die Pipeline fertig und konnte jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas liefern. Nordstream 2 verdoppelt diese Kapazität.

Der amerikanische Druck auf Deutschland, die Inbetriebnahme von Nordstream 2 zu verzögern, folgte der Entwertung des Dollars vor allem ab März 2020, als die Fed die Zinsen auf null senkte und die Geldausweitung um 120 Milliarden monatlich festlegte. Damit wurde die Kaufkraft des Dollars unterminiert. Die Kombination der Dollar-Entwertung, zusammen mit der Winter-Energienachfrage und der Verweigerung von Zusatzlieferungen aus Russland führte zu einer Energiekrise nicht nur für Deutschland, sondern die gesamte EU.

Deutschland ist besonders hart getroffen mit einem um 25 Prozent höheren Produktionspreis-Index Ende Januar. Deutschland kann sich keine Eskalation finanzieller Sanktionen gegen Russland leisten, während seine Industrie mit weiteren steigenden Produktionskosten kämpft. Nicht nur treibt Deutschland erheblichen Handel mit Russland; es hat auch finanzielle Interessen in Zentral-, Osteuropa und Russland, die durch US-geführte Versuche, Zahlungen zu begrenzen, destabilisiert werden könnten.

Trotz Kanzler Scholz‘ ursprünglicher Unterstützung von EU-Sanktionen wird Deutschland hin und her gezogen sein von rivalisierenden Bedürfnissen einer zusammenbrechenden Wirtschaft und dem Druck durch die Nato. Indem Scholz die Inbetriebnahme von Nordstream 2 verzögerte, hat er gezeigt, dass er dem Druck der Nato entgegen den Interessen seiner Wähler nachgegeben hat. Diese Schwäche von Scholz korreliert mit dem unentschlossenen Sozialismus seiner Sozialdemokratischen Partei und Deutschlands fortgesetztem Schuldgefühl nach zwei Weltkriegen.

Die Bedeutung Deutschlands und seiner vermutlichen Unentschlossenheit erkennend, ergriff der französische Präsident Macron die politische Gelegenheit, zwischen Russland und der EU zu vermitteln, was der russischen Sache entgegen kam. Er stellte einfach einen weiteren Nachrichtenkanal für Putins Nachricht an die Nato dar: Die USA sollen raus aus Europa, und die EU für ihre Verteidigung selbst verantwortlich sein. Da Macron große Ambitionen für Frankreichs Rolle in Europa hat, sieht er das sicher als eine Möglichkeit für Frankreich, die Führung der künftigen EU-Verteidigung zu übernehmen, nachdem die Ukraine-Krise vorbei ist. Zunächst aber steht die EU geschlossen hinter den Vorschlägen der USA und Großbritanniens zu den Sanktionen.

Sanktionen funktionieren nur selten. Sie sorgen nur dafür, dass die Sanktionierten sich darauf konzentrieren, sie zu umgehen. Russland wird sein Gas einfach anderswo verkaufen. Bei den derzeitigen hohen Preisen kann das Land es sich leisten, die Versorgung durch die Ukraine, die Yamal-Europa- und Turk-Stream-Pipeline zu verringern. Es könnte Sinn für Russland machen, die Versorgung durch Nordstream 1 vorerst aufrecht zu erhalten mit der Option, eine Verringerung anzudrohen. Die Gaspreise in Europa werden wahrscheinlich noch stärker steigen; für Russland ein Glücksfall. Im untenstehenden Tweet kündigt Ministerpräsident Medwedew an, dass sich die europäischen Gaspreise verdoppeln werden.

Das offensichtlich mangelnde Verständnis der wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen für die EU durch die Führungsriege der EU ist eine Gefahr. Die wirtschaftliche und finanzielle Exposition Deutschlands gegenüber seinen östlichen Nachbarn wurde schon erwähnt, aber anderen EU-Mitgliedern geht es genauso. Außerdem hat die rücksichtslose inflationäre Politik der EZB die finanzielle Gesundheit des gesamten Euro-Systems unterminiert bis zu dem Punkt, dass beim gegenwärtigen Anstieg der Kapitalmarktzinsen die EZB und alle nationalen Zentralbanken (bei nur drei kleineren Ausnahmen) mehr Schulden haben als Gegenwerte. Die gesamte Eurozone ist ein Gebirge an finanziellen Katastrophen, die an einem Scheitelpunkt balancieren und jederzeit kippen können.

Wir können nicht sicher sagen, das die Ukraine den letzten Strohhalm für das Eurosystem darstellt, aber wir können die politische Ignoranz gegenüber diesem Thema aufzeigen. Jeder Zentralbanker, der mit der Linie nicht einverstanden ist (und das könnten einige sein, speziell bei der Bundesbank), hat auf der politischen Ebene keinerlei Einflussmöglichkeit. Wir müssen annehmen, dass keiner der politischen Player in dieser Tragödie sich über die finanzielle und wirtschaftliche Krise im Klaren ist, die jederzeit ausgelöst werden kann. Und wenn die Russen einen Fehler gemacht haben, dann war es der, Reserven in Euro anzuhäufen, die wertlos sein werden, wenn das Eurosystem zusammen bricht.

Finanzielle Sanktionen gegen bestimmte Oligarchen sind sehr wahrscheinlich erwartet worden, und die Betroffenen haben rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen: Oligarchen sind nicht dumm. Auch Sanktionen gegen russische Banken sind erwartet worden und werden wahrscheinlich bei den Russen weniger Probleme auslösen als bei ihren Gegenübern im europäischen Bankensystem, besonders wenn Swift unter Druck kommt, den russischen Zugang abzubrechen. Nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte EU, deren Gasversorgung zu 40 Prozent von Russland abhängt, werden erpresst. Wir können sicher sein, dass Russland diese Situation in seine Kriegsrechnung im voraus eingeplant hat. (Anmerkung: Inzwischen hat Olaf Scholz erreicht, dass das Sperren Russlands von SWIFT einige Banken nicht einbezieht, so dass Energie-Rechnungen weiter bezahlt werden können).

Inflation, Gold und unerwartete Konsequenzen

Die Situation heute ist mit den massiv gestiegenen Staatsschulden sehr verschieden zu der von 2014 zur Zeit der Maidan Revolution. Zur Zeit der Krim-Übernahme gingen die Rohstoffpreise von ihrem Höhepunkt seit 2011 zurück, und nach der Annektierung fielen sie scharf, mit entsprechend negativen Konsequenzen für die russische Wirtschaft. Die weltweite Ausweitung der Geldmenge zieht jetzt die Rohstoff- und Energiepreise in die Höhe, weil die Kaufkraft der Währungen abnimmt.

Untenstehende Kurve zeigt, wie ein Warenkorb an Rohstoffen im Preis gestiegen ist, seit die Fed die Zinsen auf null senkte und die Geldausweitung auf 120 Milliarden monatlich festlegte. In diesen 22 Monaten sind durch diese Maßnahmen die Rohstoffpreise um 127 Prozent gestiegen.

Wenn alle Rohstoffpreise gleichzeitig steigen, liegt das an der Ausweitung der Geldmenge, und das ist hier passiert. Im größeren Zusammenhang waren die Rohstoffpreiserhöhungen besonders stark, wovon Russland mit einem Riesen-Plus in seiner Handelsbilanz besonders profitierte.

Es war ein Langzeit-Ziel der russisch-chinesischen Partnerschaft, nicht nur die USA von der Welt-Insel zu werfen, sondern auch die Abhängigkeit vom Dollar zu reduzieren. Während der Handel zwischen Russland und China zunehmend in deren eigener Währung durchgeführt wird, behält der Dollar aber seine Glaubwürdigkeit bei internationalen Transaktionen und wird weiter den Handel bei den anderen Nationen der eurasischen Landmasse dominieren. Die Fiat-Alternative für Russland war der Euro, was teilweise erklärt, warum Russland ihn in seiner Finanzreserve angehäuft hat. Aber seit 2014 ist die Stabilität des Euro derart gesunken, dass die Währung nicht länger eine glaubwürdige Alternative zum Dollar darstellt. Wir können nicht sicher sein, ob das im Kreml erkannt wurde. Aber es gibt immer den Plan B, und das ist physisches Gold.

Es gibt Beweise dafür, dass die Goldreserven in China und Russland deutlich höher sind als die offziellen Bekanntgaben. Seit Beginn der Regulationen 1983, als die Bank des Volkes allein verantwortlich wurde für Chinas Ankäufe von Gold und Silber, schätze ich, dass der Staat mindesten 20 000 Tonnen Gold angesammelt hatte, bevor der Öffentlichkeit erlaubt wurde, Gold zu kaufen. Dafür wurde 2002 die Goldbörse in Shanghai eröffnet. Seitdem hat die SGU weitere 20 000 Tonnen in öffentliche Hände geliefert.

Der chinesische Staat hat das Exklusivrecht auf Goldminen und die Verfeinerung von Gold, sogar auf das Importieren allen Goldes aus dem Ausland. China ist jetzt der bei weiten größte Goldminen-Produzent weltweit, und fügt seinem Schatz jedes Jahr viele Tonnen hinzu (der Rückgang auf 350 Tonnen letztes Jahr lag an Covid), die alle in China bleiben. Diese Politik, ebenso wie anekdotische Beweise legen den Schluss nahe, dass meine Schätzung von 20 000 Tonnen Gold im Staatsbesitz realistisch sind.

Russland hat relativ spät damit begonnen, seine Goldreserven zu steigern und offiziell 2 298 Tonnen angesammelt. Aber als zweitgrößter Goldminenproduzent nach China mit 330 Tonnen ist es wahrscheinlich, dass in der Folge früherer Sanktionen Russland ebenfalls unveröffentlichte Goldreserven angesammelt hat. Außerdem können wir sehen, dass alle SCO-Mitglieder und ihre Partner ihre deklarierten Goldreserven seit 2014 um 75 Prozent gesteigert haben. Plan B scheint daher zu sein, im Falle des Zusammenbruchs westlicher Währungen goldgedeckte Rubel und Renminbi einzuführen.

Im Westen gibt es keinerlei Pläne dieser Art. Amerikas 51jährige Ablehnung und Demontage von Gold als ultimatives Geld scheint seine Vorräte versiegen zu lassen – sonst hätten sie Deutschlands Gold sofort zurückgeben können, statt die Rückgabe über mehrere Jahre zu verteilen. Weiterhin es es Routine bei den Zentralbanken, ihr Gold zu verleihen und auszulagern, was dazu führt, dass Reserven doppelt gezählt werden und es oft keine Klarheit über die Besitzverhältnisse gibt. Wir können sicher sein, dass weder Russland, noch China so etwas tun.

Die Konsequenz dieser Unterschiede ist, in einem Finanzkrieg den Geldstatus von Gold als Waffe zu benutzen. Wenn beispielsweise in einem Nato-geführten Versuch, den Rubel zu destabilisieren, Russland gezwungen wäre, weitere 6 000 Tonnen Gold zu deklarieren, um Amerikas ungeprüften Zahlungen zu entsprechen, und wenn China seine Reserven mobilisieren müsste, um den Renminbi zu stabilisieren, würde das wahrscheinlich auf einen Kampf gegen den Dollar hinauslaufen. Es wäre ein todsicherer Weg für die asiatischen Hegemone, die wirtschaftliche und militärische Macht der USA zu zerstören.

Aus all diesen Gründen könnten die USA und ihre Fünf Augen-Alliierten keinen Finanzkrieg gewinnen. Als China und Russland ihre finanzielle Verteidigung planten, machte dieser goldene Schirm Sinn, und die amerikanischen Sicherheitsdienste hätten ihn bemerken können, wenn auch vielleicht nicht gleich seine vollen Auswirkungen. Aber die Dinge haben sich geändert, besonders durch die Entwertung aller wichtigen Währungen, inclusive des Renminbi. China hat regelmäßig Probleme mit Eigentumsdelikten und druckt sich dann den Weg frei. Zusammen mit der Fed, der EZB und der Bank von Japan hat die Bank des Volkes rücksichtslos die Geldmenge ausgeweitet. Alle zusammen haben sich vom Äquivalent von 5 Milliarden Dollar in 2007 auf über 31 Billionen Dollar heute gesteigert, mit einer besonders hohen Quote seit März 2020.

Die Konsequenzen für die Kaufkraft ihrer Währungen werden jetzt deutlich und zu einem Turbo hinsichtlich der russischen Energieversorgung Europas. Was sich die wenigsten Politiker bewusst machen – und wir sollten hier Putin mit einbeziehen – ist der zerbrechliche Zustand der wichtigsten Zentralbanken. Ihre Bilanzen sind voll mit festverzinslichen Staatsanleihen, deren fallender Marktwert die Spanne an Vermögenswerten gegenüber ihren Schulden immer weiter verkleinern. Während die Fed, die Bank von Japan und die Bank von England sich über ihre Regierungen refinanzieren können, hat die EZB diese Möglichkeit nicht. Die nationalen Zentralbanken sind die Anteilseigner der Fed. Und sie alle, außer Irland, Malta und Slowenien, haben Schulden, die ihre Vermögenswerte bei weitem übersteigen. Das Eurosystem ist jetzt schon insolvent, und wenn Russland jetzt mit den Energielieferungen spielt, könnte das ganze System kippen. In Bezug auf die russische Währungsreserve kann man das eine unbeabsichtigte Konsequenz nennen.

Siehe dazu auch: https://www.goldmoney.com/research/goldmoney-insights/central-banks-are-now-insolvent

Siehe auch: Angriff auf die Ukraine: Putins aufgestauter Zorn über die Nato-Osterweiterung entlädt sich

Mission Rettung des Euro: EU fährt mit vollem Risiko

Angriff auf die Ukraine: Putins aufgestauter Zorn über die Osterweiterung der NATO entlädt sich

Russland hat es getan. Nach fast einjährigem Zusammenziehen von Truppen und Angriffswaffen rund um die Ukraine hat Präsident Putin erst die beiden Republiken Donezk und Luhansk in der Ukraine als eigenständig anerkannt, und jetzt in der Nacht zum 24. Februar 2022 großflächig die gesamte Ukraine angegriffen. Beginnend in den Hafenstädten Odessa, Mariupol und der Stadt Charkow nahe der russischen Grenze ziehen sich inzwischen die Angriffe über das ganze Land, auch auf Kiew. Zehntausende Ukrainer sind auf der Flucht Richtung Polen. Nach eigenen Angaben hat das russische Militär die Luftabwehr der Ukraine mit präzisionsgelenkter Munition „komplett unschädlich“ gemacht. Es laufen Raketenangriffe auf strategisch wichtige Ziele.

In Europa und der Nato herrscht helle Aufregung. Die Börsen brechen weltweit ein, und der Ölpreis überspringt die magische Marke von 100 Dollar. Die Preise von Getreide und Gold steigen.

Die Ukraine ist von Russland und Belarus aus umstellt

Die Ukraine hat die diplomatischen Beziehungen mit Russland abgebrochen, das Kriegsrecht ausgerufen, alle Bürger aufgerufen, sich zu verteidigen und ihren Luftraum geschlossen. Die Barabhebungen bei Banken wurden eingeschränkt. Auch das benachbarte Belarus schließt seinen Luftraum für zivile Flüge. Die Nato hat ihren Verteidigungsplan aktiviert und verstärkt ihre Präsenz in ihren östlichen Mitgliedsstaaten, die sich bedroht fühlen und um Hilfe gebeten haben. Europa und die Nato summen wie ein Bienenkorb. Es hagelt Verurteilungen der russischen Angriffspolitik und Ankündigungen „schwerer Sanktionen“.

Militärisch steht der Ukraine allerdings niemand zur Seite, denn das Land ist kein Nato-Mitglied. Sowohl Präsident Selensky, als auch sein Botschafter in Deutschland, Dr. Andrij Melnyk haben geradezu flehentlich um militärische Hilfe gebeten, um der haushoch überlegenen, hoch modernen russischen Armee etwas entgegen stellen zu können. Andrij Melnyk, hat heute erneut einen flammenden Appell an Deutschland gerichtet, endlich und sofort umzudenken. Wladimir Putin hat angekündigt, dass, falls die Nato ins Geschehen eingreife, sie eine Antwort sehen werde, wie sie sie noch nie erlebt habe.

Bisher wurden vor allem finanzielle Sanktionen gegen enge Freunde Wladimir Putins und Mitglieder der Duma ausgesprochen, die die Aggressionen beschlossen haben. Jetzt stehen deutlich massivere Sanktionen im Raum, wie etwa den Ausschluss Russlands aus dem Swift-System, mit dem Banken international untereinander arbeiten.

Die Gaspipeline Nordstream 2 ist trotz extremer Proteste aus den USA fertig und im Genehmigungsprozess. Bundeskanzler Olaf Scholz wollte die Inbetriebnahme bis zuletzt retten, während sein grüner Wirtschaftsminister Habeck schon wochenlang den Stopp des Zertifizierungsprozesses plante. Nun kam der Kanzler US-Präsident Biden zuvor und erklärte, dass Nordstream 2 ab sofort auf Eis liege. Der amerikanische Präsident hatte bereits vor kurzem öffentlich getönt, dass, die Pipeline Geschichte sei, falls Russland in die Ukraine einmarschiere. Bisher setzt Gazprom die Versorgung über die übrigen Pipelines fort.

Ich werde hier versuchen, die Hintergründe dieses Angriffs aufzuarbeiten und betrachte die Bedeutung der russischen Energielieferungen, die gemeinsame Geschichte Russlands und der Ukraine, die Zeit des kalten Krieges, die Wiedervereinigung Deutschlands und ihre Folgen, das Ende des Warschauer Paktes, die Nato-Osterweiterung und die Versprechen an Russland, kriegerische Aktivitäten der USA und Russland seit 1945, sowie Putin als Mensch.

Erdgas hat mittlerweile einen Anteil von über einem Viertel am deutschen Primärenergieverbrauch. Importe aus Russland wiederum decken den Erdgasverbrauch mittlerweile etwa zur Hälfte, Tendenz steigend. Nachdem Deutschland fast gleichzeitig aus der Kernenergie und der Kohle zugunsten erneuerbarer Energien aussteigen will, hat die Versorgung mit Gas als Brückentechnologie zunehmende Bedeutung. „Bereiten Sie sich schonmal auf eine Verdoppelung des Preises vor,“ tönte es dazu gehässig aus Russland.

Bisher läuft ein großer Teil der russischen Erdgasexporte über Pipelines, die alle durch die Ukraine führen. Die dortige Regierung wird von Russland aber spätestens seit 2014 als Feind angesehen, was bereits zu Lieferstopps führte. Nordstream 2 soll aus russischer Sicht vor allem dazu dienen, das Land künftig zu umgehen.

Deutschland ist zu abhängig von russischem Gas, das ist eine Tatsache. Eine Tatsache ist aber auch, dass die USA, die diese Abhängigkeit immer kritisieren und Handel mit Russland in den letzten Jahren zunehmend mit Sanktionen belegt haben, ihre eigenen Interessen dabei nie aus dem Auge verlieren. So ist ungeachtet der Sanktionen Russland der Staat, aus dem die USA die höchsten Importe von Öl beziehen. 2020 hat Russland fast 27 Millionen Tonnen Rohöl und -derivate in die USA exportiert. Pro Tag sind das 538.000 Fass, 63 Prozent mehr als 2014. Darüber hinaus waren amerikanische Unternehmen 2019 mit Abstand die größten Investoren in Russland. Gleichzeitig exportieren die USA im großen Ausmaß ihre eigenen Fracking-Produkte und drängen Europa, sie zu kaufen.

Seit dem Herbst letzten Jahres steigen die Preise für Öl und Gas stark an. Die Gründe liegen einerseits in wachsender Nachfrage, vor allem aus Asien, in den Sanktionen der USA unter anderem gegen Venezuela und den Iran, und in der Weigerung der OPEC-Staaten, die Förderung auszuweiten. Im noch jungen Jahr 2022 setzte sich der Preisanstieg ungebremst fort, verbunden mit einer ebenfalls ungewohnt stark steigenden Inflationsquote. Die jetzt zu erwartenden Sanktionen gegen die Ukraine werden dieses Problem auf die Spitze treiben und besonders Deutschland schaden, während die USA nicht betroffen sind. Weltweit fahren die Börsen seit Wochen Karussel – nach der neusten Entwicklung sinkt unter anderem der DAX auf einen neuen Tiefstand.

Die Ausrichtung der Ukraine nach Westen und ihr Wunsch, der Nato beizutreten, haben beim russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Fass zum Überlaufen gebracht. Die kontinuierliche Osterweiterung der Nato seit den 1990er Jahren, verbunden mit der Stationierung von Waffen vor Russlands „Haustür“ hat das Land, das im Bewusstsein lebt, eine Supermacht zu sein, zunehmend aufgebracht und bereits 2014 zur Annektierung der Halbinsel Krim geführt. Beim jetzigen Einmarsch in die beiden Republiken scheint es auch darum zu gehen, mindestens das Festland gegenüber der Krim, wahrscheinlich aber das ganze Land „zurück“ in russische Hand zu bringen – zumal Wladiminir Putin ohnehin der Überzeugung ist, dass die Ukraine ein „untrennbarer Teil von Russland“ ist.

Geschichte Russlands und der Ukraine

Die Ukraine hat eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich, die immer mit der Russlands verbunden war. Hier eine sehr knappe Zusammenfassung:

Einst war ihre heutige Staatsfläche Teil des historischen Reiches der Kiewer Rus (980 1240), gegründet von den Rjurikiden (den „Ruderern“), das vom schwarzen Meer bis zur Ostsee reichte. 988-989 nahm dieses Reich das Christentum von Byzanz an. Dann kamen die goldene Horde der Mongolen und eine litauisch-polnische Herrschaft, bis die Ukraine 1569 Teil des polnischen Königreiches wurde.

Mit dem Ende des Mongolenreiches 1480 konsolidierte sich die nördliche Rus rund um das Großfürstentum Moskau und begann eine kontinuierliche Expansion, genannt „Sammlung russischer Erde.“ Man wollte die Kiewer Rus wieder herstellen und bekriegte unter anderem Litauen-Polen und das Osmanische Reich, das zeitweise das Territorium der heutigen Ukraine besetzte. Zar Peter I. (Peter der Große) modernisierte das seit 1721 bestehende imperiale russische Reich und führte es näher an den Westen heran. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts festigte das russische Reich seinen Großmachtstatus und nach der Niederlage Napoleons im Russlandfeldzug 1812 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft auf dem europäischen Festland.

Das vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Reich konnte mit den schnell wachsenden Industriestaaten nicht mithalten, bis Zar Alexander II. Reformen anschob. Er hob 1862 auch die Leibeigenschaft auf. Vorausgegangen war ein verlorener Krimkrieg (1853 – 1856), in dem Russland versucht hatte, den Osmanen die Krim abzunehmen, von den westeuropäischen Ländern aber daran gehindert worden war. Es folgten weitere Kriege im Osten und Süden Russlands und der Erste Weltkrieg. Im März 1917 stürzte die Februarrevolution die Monarchie in Russland. Im Herbst des selben Jahres führte die Oktoberrevolution zur Übernahme des Landes durch die kommunistischen Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin.

Bei der Gründung der Sowjetunion 1922 wurde die Ukraine ein Teil davon. Im Gegensatz zum Zarenreich erkannte die UDSSR die Ukraine als eigene Nation an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der polnische Teil der Bevölkerung umgesiedelt oder vertrieben, Ukrainer in Polen mussten in die Ukraine ziehen, die als Land Teil der Sowjetunion blieb. Deren Führer Nikita Chruschtschow schenkte der Ukrainischen Sowjetrepublik 1954 beim Fest zum 300-jährigen Bestehen der Russisch-Ukrainischen Einheit die Halbinsel Krim. Er soll betrunken gewesen sein.

Kiev
Kiew

Nach dem Fall der Sowjetunion wurde die Ukraine 1991 wieder ein unabhängiger Staat.  176 strategische und über 2500 taktische Atomraketen, die noch dort stationiert waren, wurden bis 1996 von Russland entfernt. Dafür erhielt die Regierung in Kiew finanzielle Hilfe aus den USA, günstige Energielieferungen aus Russland und Sicherheitsgarantien, die im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 festgehalten wurden. Darin verpflichteten sich die USA, Russland und Großbritannien, die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Ukraine weder durch Gewalt, noch durch deren Androhung zu verletzen, keinen wirtschaftlichen Zwang auszuüben, auf jegliche militärische Besetzung zu verzichten und eine solche keinesfalls anzuerkennen.

Machtmissbrauch, Korruption und innere Kämpfe machten den ukrainischen Bürgern das Leben schwer. So entwickelten sich 2004 die Orangene Revolution und 2013 erneut Aufstände, diesmal mit dem Schwerpunkt auf dem Maidan in Kiew. Nach Unruhen auf der Krim und einem Referendum, bei dem die dortige Bevölkerung für den Anschluss an Russland stimmte, annektierte Russland 2014 die Halbinsel, auf der die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Es hatte immer wieder Streit darüber gegeben, ob die Flotte unter ukrainischem oder russischem Oberkommando stehen sollte. Im selben Jahr organisierten pro-russische Kräfte in zwei Regionen der östlichen Ukraine ebenfalls ein Referendum über den Anschluss an Russland. Seitdem sehen diese sich als unabhängig. Diese beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk wurden am 21.2.2022 von Putin anerkannt, der sogleich verkündete, Truppen zu schicken, um die russischen Teile der Bevölkerung „vor Aggressionen und Völkermord“ zu schützen.

Blick auf die Krim

Der lange Kalte Krieg

Nach dem Zerfall der Sowjetunion knüpfte die Russische Föderation an die Zeit vor der Oktoberrevolution an. Allerdings entsprachen die Grenzen Russlands nicht denen des Kaiserreichs vor 1917, sondern denen des ethnisch relativ einheitlichen russischen Zarentums im 17. Jahrhundert. Es begann eine Zeit der wirtschaftlichen Krise und extremen Versorgungsknappheit, verbunden mit inneren Unruhen. Erst Wladimir Putin gelang es, das Land wieder zu stabilisieren und Selbstbewusstsein zurück zu gewinnen. Außenpolitisch wendete sich Russland nach einigen Jahren der Annäherung mehr und mehr vom Westen ab, in der Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 kam Putins Einschätzung der USA als „gegnerische Weltmacht“ zum Ausdruck.

Von 1947 bis 1989 herrschte zwischen dem „Ostblock“ und dem Westen der Kalte Krieg. Der Konflikt nahm in dieser Zeit dreimal äußerst bedrohlichen Charakter an: Die erste Krise war die Berlin-Blockade vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949. Vorausgegangen war die Währungsreform am 21. Juni 1948, die Westdeutschland die D-Mark brachte. Während der Blockade der Stadt, deren Ziel es war, die Enklave Westberlin in die sowjetische Einflusszone einzuordnen, musste Berlin per Luftbrücke versorgt werden. Im Februar 2022 erst starb der berühmte „Candy-Bomber“ Gail S. Halvorsen, der immer kleine Portionen an Süßigkeiten, an Taschentuch-Fallschirme gebunden, über Berlin abgeworfen hatte, im Alter von 101 Jahren.

Candy-Bomber Gail S. Halvorsen

Die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen auf Kuba führte 1962 zur Kubakrise. 1959 hatte Fidel Castro den Diktator Batista gestürzt. Danach wurden die lukrativen US-amerikanischen Unternehmen auf Kuba ohne Entschädigung verstaatlicht. Das führte zur wirtschaftlichen Blockade der Insel durch die USA. Im April 1961 versuchten die USA, mittels einer Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht, wieder die Kontrolle zu übernehmen, was in einem Fiasko endete. 1960 nahm die Sowjetunion unter Chruschtschow diplomatische Beziehungen mit Kuba auf unterstützte das Land wirtschaftlich gegen die Folgen des US-Embargos. Nachdem es durch die Stationierung russischer Atomwaffen auf der Insel fast zu einem Atomkrieg gekommen wäre, begannen Ost-West-Gespräche zur besseren Kommunikation und Begrenzung von Atomwaffen.

Fidel Castro mit Nikita Chruschtschow
Fidel Castro mit Chruschtschow

In den 1960er Jahren erreichte die Sowjetunion mit ihren Interkontinentalraketen und Wasserstoffbomben ein annäherndes atomares Gleichgewicht mit den USA. Danach begann eine neue Form der Aufrüstung. Die seit 1970 entwickelten Pershing II und Cruise Missiles galten als die ersten Waffensysteme, deren Treffgenauigkeit und Reichweite die angestrebte flexible Zielauswahl ermöglichten. Daraufhin begann die Sowjetunion ihre älteren gegen Westeuropa gerichteten R-12– und R-14-Raketen allmählich gegen modernere RSD-10-Raketen (im Westen SS-20 genannt) auszutauschen. Sie hatten eine Reichweite bis 5000 Kilometer und hohe Zielgenauigkeit, waren auf mobilen Abschussrampen montiert und wurden mit je drei atomaren Mehrfachsprengköpfen bestückt. Von 1979 bis 1982/83 kulminierte der Streit.

Seit 12. Dezember 1979 gab es den Nato-Doppelbeschluss. Er bestand aus zwei Teilen:

  1. Die Nato kündigte die Aufstellung neuer mit Atomsprengköpfen  bestückter Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und Marschflugkörper vom Typ BGM-109G Gryphon in Westeuropa  an. Sie begründete diesen Schritt als Modernisierung und Ausgleich einer Lücke in der atomaren Abschreckung, die die Stationierung der sowjetischen SS-20 bewirkt habe.
  2. Sie verlangte bilaterale Verhandlungen der Supermächte über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen (Intermediate Nuclear Forces – INF mit einer Reichweite zwischen 1000 und 5500 km) in Europa. Dabei blieben die französischen und ein Teil der britischen Atomraketen ausgeklammert. Beide Teile, Raketenaufstellung und Rüstungskontrolle, sollten einander ergänzen und parallel vollzogen werden.

Daraufhin entwickelte sich in Europa und Deutschland eine breite Friedensbewegung, die gegen Atomwaffen demonstrierte. Ab 1985 bot die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow weitreichende atomare Abrüstung an. 1987 vereinbarten die USA und die Sowjetunion im INF-Vertrag Rückzug, Vernichtung und Produktionsverbot all ihrer atomar bestückbaren, landgestützten Flugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 km und ihrer Trägersysteme. Bis Mai 1991 erfüllten sie diesen Vertrag (Informationen aus Wikipedia).

Deutsche Wiedervereinigung und Folgen

Und dann, grade, als die Kräfte einigermaßen ausgewogen verteilt schienen, änderte sich die Geschichte schlagartig. In einem vergleichsweise winzigen, günstigen Zeitfenster erreichten der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zusammen mit einem ganz kleinen Kreis der Eingeweihten, dass das geteilte Deutschland sich wieder vereinigen konnte. Am 9. November 1989 fiel die Mauer – am 3. Oktober 1990 war die Wiedervereinigung vollzogen und die DDR nach 41 Jahren Geschichte.

Die Nacht, in der die Mauer fiel

Grundlage der Wiedervereinigung war der „Zwei plus Vier-Vertrag„, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet waren. Darin gaben die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs Deutschland frei. Der Vertrag gilt als die endgültige Friedensregelung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies geschah, obwohl alle außer den USA Bedenken hatten, dass Deutschland wieder zu selbstbewusst werden könnte. Michael Gorbatschow forderte dabei kategorisch, dass Deutschland auf keinen Fall Teil der Nato werden dürfe. Helmut Kohl schaffte es, Gorbatschow umzustimmen, indem er einen bilateralen Vertrag zu einer engen Zusammenarbeit auf vielen Gebieten und einen gegenseitigen Gewaltverzicht anbot.

Am 31. Mai schlossen die USA und die Sowjetunion bei Gorbatschows Staatsbesuch in Camp David ein Handelsabkommen ab. Die Bundesregierung organisierte einen Kredit in Höhe von fünf Milliarden DM für die Sowjetunion, für den sie die Bürgschaft übernahm. So konnte der Versorgungsnotstand in Russland gelindert werden. Am 6. Juli 1990 verabschiedete der Nato-Gipfel in London eine Erklärung, wonach der Warschauer Pakt „nicht mehr als Gegner“ angesehen wurde; die versammelten Staats- und Regierungschefs kündigten eine Reduzierung ihrer Kernwaffen und eine Abkehr von der Strategie der Flexible Response und der Vorneverteidigung an; auch sollte die NATO von einer militärischen in eine politische Organisation Allianz umgeformt und die KSZE aufgewertet werden. Bereits im Juni hatten die NATO-Außenminister bei ihrem Treffen im schottischen Turnberry erklärt, man wolle keinen einseitigen Vorteil aus der deutschen Wiedervereinigung ziehen, vielmehr sei man bereit, die sowjetischen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Damit konnte sich Gorbatschow gegen zahlreiche innenpolitische Gegner durchsetzen.

Polen, das befürchtet hatte, Deutschland wolle seine ehemaligen Gebiete wieder haben, wurde die Oder-Neiße-Linie als Grenze verbindlich zugesagt. Unter dem Titel „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ verzichteten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, auf ihr Vorbehaltsrecht in Bezug auf Deutschland. Hier die vollständigen Regelungen des zwei plus Vier-Vertrages:

  • Das Staatsgebiet  des vereinten Deutschlands umfasst die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins.
  • Die bestehenden Grenzen sind endgültig. Das vereinigte Deutschland verpflichtet sich, keine Gebietsansprüche zu erheben.
  • Das vereinigte Deutschland bekräftigt sein Bekenntnis zum Frieden und verzichtet auf atomare, biologische und chemische Waffen.
  • Die Truppenstärke der deutschen Streitkräfte wird von weit über 500.000 auf 370.000 Mann reduziert und beschränkt.
  • Die sowjetische Westgruppe der Truppen (GSTD) wird vom Gebiet der ehemaligen DDR und des Landes Berlin bis spätestens 1994 abgezogen.
  • Kernwaffen und ausländische Truppen dürfen auf ostdeutschem Gebiet nicht stationiert oder dorthin verlegt werden.
  • Die Viermächte-Verantwortung in Bezug Berlin und Deutschland insgesamt wird beendet.
  • Der Vertrag stellt die volle innere und äußere Souveränität des vereinigten Deutschland her.
  • „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik werden sicherstellen, dass die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind.
  • „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ 

Nato-Osterweiterung und Versprechungen

Im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung trieb Michail Gorbatschow immer wieder die Sorge um, dass sich die Nato nach Osten ausdehnen könnte. Immer wieder wurde ihm von verschiedenen Nato-Mitgliedern versichert, dass das auf keinen Fall geplant sei. Ein verbindliches Dokument dazu wurde jedoch nicht erstellt. Ab 1999 wurden die russischen Befürchtungen Wirklichkeit: Die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn traten der Nato bei. Inzwischen sind alle 14 Gründungsstaaten des Warschauer Paktes (außer Russland, der Nachfolgestaat der UdSSR) dem einst gegnerischen NATO-Bündnis beigetreten, ebenso wie die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Estland und Litauen.

Die Nato hat immer wieder abgestritten, Russland irgend etwas versprochen zu haben. Das sei schon allein deshalb nicht möglich gewesen, da es sich um freie Staaten und deren freie Entscheidung handele. Außerdem habe sich das Thema damals gar nicht gestellt, weil es ja den Warschauer Pakt gab. Im Februar 2022 taucht jedoch im britischen Nationalarchiv ein Dokument auf, das das Gegenteil beweist: Bei einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschland in Bonn am 6. März 1991 stimmten Briten, Amerikaner, Deutsche und Franzosen überein, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer ‚inakzeptabel‘ sei. US-Außenminister James Baker hat bei einem Treffen mit Gorbatschow am 9. Februar 1990 versprochen, die Nato werde sich „keinen Inch weiter nach Osten“ erweitern. Baker schrieb in einem Brief an Helmut Kohl, wonach Gorbatschow dulden könne, dass Deutschland in der Nato bleibt, dass aber „jede Erweiterung der Nato-Zone inakzeptabel“ sei. Kohl wiederum versprach am 10. Februar Gorbatschow: „Wir glauben, die Nato sollte ihren Aktivitätsgebiet nicht erweitern.“

Gorbatschow bezahlte seine West-freundliche Politik und sein naives Vertrauen in mündliche Versprechungen im eigenen Land später teuer.

Wladimir Putin (seit 2000 im Amt) hat den „Betrug“ an Russland nicht nur nie verwunden: Jede Aktivität der Nato, und besonders der Führungsnation USA nahe den Grenzen Russlands hat ihn neu und bis auf’s Blut gereizt.

Ende des Warschauer Pakts

Der Warschauer Pakt war ein von 1955 bis 1991 bestehender militärischer Beistandspakt des sogenannten Ostblocks unter der Führung der Sowjetunion und im Kalten Krieg das Gegenstück zum Nordatlantikpakt der NATO. Wirtschaftlich waren die Ostblockstaaten bereits seit 1949 im  Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammengeschlossen.

Der Warschauer Pakt diente als Stützpfeiler der offiziellen Politik der Sowjetunion durch die Bündnispartner. Die Stationierung sowjetischer Truppen in fast allen Mitgliedstaaten und das Vereinte Oberkommando unter sowjetischer Kontrolle sorgten dafür, dass die Herrschaft der jeweiligen kommunistischen Partei und die Treue gegenüber der Sowjetunion nicht in Frage gestellt werden konnten.

In Fällen, bei denen einzelne Teilnehmerstaaten den von Moskau vorgegebenen Kurs verlassen wollten, wurde dies als Angriff von außen auf das sozialistische  Staatensystem ausgelegt und mit einer militärischen Intervention geahndet: Beispielsweise beim ungarischen Volksaufstand 1956 und im Prager Frühling der ČSSR 1968 schlugen Truppen des Warschauer Pakts nationale Aufstände nieder. Auch der Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde von der Sowjetarmee niedergeschlagen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs erodierten die strengen Strukturen des Warschauer Paktes zunehmend, woraufhin sich dieser 1991 offiziell auflöste. Damit war auch formell der kalte Krieg beendet.

Fortgesetzte Demütigung Russlands

Ebenfalls im Jahr 1990 begannen die sowjetischen Truppen, aus den Staaten des Warschauer Paktes abzuziehen. 1994 verließen die letzten, jetzt russischen Truppen das wiedervereinigte Deutschland. 2008 beschloss die Nato: Georgien und Ukraine sollen „in der Zukunft“ Mitglieder werden. Die Ukraine wird seitdem von den Nato-Staaten und vorneweg Deutschland massiv mit Geld gefördert, bekommt teilweise auch Waffen. Die Nato kommentierte lautstark Russlands Eingreifen in Georgien, im Kaukasus und in der Ukraine. Die Russen wurden aus allen wichtigen internationalen Gesprächen verdrängt.

So fühlte sich Russland, die einstige Führungsmacht im Osten, durch die Nato und deren Führungsmacht USA fortgesetzt betrogen und gedemütigt. Die Demütigung gipfelte darin, dass 2014 US-Präsident Obama Russland eine „Regionalmacht“ nannte. Den Versuch Boris Jelzins, Gorbatschows Nachfolger 1991, Russland als Beitrittskandidat für die Nato ins Gespräch zu bringen, quittierte die Nato mit Schweigen – genau wie Versuche, doch noch schriftliche Sicherheitsgarantien zu bekommen. Statt dessen wurde ein so genannter Kooperationsrat etabliert, in dessen Rahmen sich die Außenminister aller Staaten jährlich, die Botschafter alle zwei Monate austauschen sollen.

Nato-Osterweiterung seit 1999

Seit deren Beitritt zur Nato begannen die USA, in den östlichen Staaten Waffen zu stationieren, und zwar ohne die übrigen Nato-Mitglieder groß nach ihrer Meinung zu fragen. Als die Bush-Administration bereits mit Polen und Tschechien über die Stationierung einer Raketenbasis und einer Radaranlage verhandelte, waren die anderen Nato-Partner über Einzelheiten kaum informiert. Es wurde klar: Die USA würden das kontroverse Vorhaben durchziehen, ob mit oder ohne die Nato. Die „russische Dimension“ der Nato-Politik der US-Administration unter Bill Clinton wie unter George W. Bush bestand im Wesentlichen darin, Moskau auf Distanz zu allen wichtigen europäischen Sicherheitsfragen zu halten. 

Wladimir Putin hat genug

Nachdem Putin 2022 fast ein Jahr lang weit über 100 000 Soldaten und alle Arten von Angriffswaffen rund um die Ukraine positioniert hat, teilt er der Nato und ihrer Führungsmacht mit, was er erwartet: Die Nato soll zurück in ihre Grenzen von 1997. Die Ukraine soll auf keinen Fall Nato-Mitglied werden, Schweden und Finnland auch nicht. Und die baltischen Staaten sollen aus der Nato wieder ausscheiden. Die Nato und die USA, so Putin, haben Russland immer wieder betrogen. Inzwischen sei die Sicherheit des Landes nicht mehr gewährleistet.

Im Januar 2022 verfasst die Nato ein langes Papier, das alle russischen Vorwürfe entkräften soll. Darin wird unter anderem behauptet, die Nato habe über drei Jahrzehnte lang versucht, eine kooperative Zusammenarbeit mit Russland aufzubauen, könne diese Bemühungen aufgrund der russischen Aggressivität jetzt aber nicht mehr fortsetzen. Erst als die Ukraine schon bedrohlich im Norden und Osten umstellt ist, beginnt eine hektische Reisediplomatie. Die westlichen Führer, die Russland vorher weitgehend ignoriert haben, stellen sich bei Wladimir Putin in Moskau ein und beschwören ihn, die Ukraine nicht anzugreifen. Immer wieder wird er gebeten, das Minsker Abkommen von 2015 einzuhalten.

Aber es ist zu spät. Am 21. Februar 2022 verkündet der russische Präsident mit hassverzerrtem Gesicht, dass das Minsker Abkommen doch schon lange tot sei. Die Ukraine sei ein untrennbarer Teil Russlands, sagt der Präsident, und nimmt Bezug auf die Zeit, als die Fläche des Landes noch ohne eigenen Namen Teil des russischen Territoriums war. Die Ukraine habe nie eine „echte Staatlichkeit“ gehabt, sondern vielmehr Modelle kopiert, sagte Putin. Dort hätten heute Radikale und Nationalisten das Sagen – unter den Kuratoren des Westens, die das Land in die Sackgasse geführt hätten. Korruption und Machtkämpfe von Oligarchen würden verhindern, dass es den Menschen in der Ex-Sowjetrepublik besser gehe. In der Historie seien zudem Teile russischer Gebiete ohne Erlaubnis übernommen worden. Dazu gehöre auch die Donbass-Region. Tatsächlich ist die Ukraine das einzige Nicht-Mitglied, das an drei von der NATO geführten Militäroperationen (ISAF, KFOR und OAE) teilnimmt und als erster „Partner-Staat“ an einer NATO Response Force beteiligt war.

„Wir wissen, dass es bereits Berichte gab, die Ukraine wolle ihre eigenen Atomwaffen herstellen. Das ist keine leere Prahlerei“, sagte Putin. „Die Ukraine verfügt tatsächlich immer noch über sowjetische Nukleartechnologien und Trägersysteme für solche Waffen.“ Der Westen mit seiner „anti-russischen“ Ausrichtung unterstütze die Ukraine dabei. Die Nato treibe ihre Osterweiterung immer weiter voran, trotz zahlloser Versprechen, dies nicht zu tun. Auch der Eintritt der Ukraine sei bereits beschlossen. Trotz fehlender Beweise sprach der Präsident zudem von einem Massenverbrechen am russischstämmigen Volk in der Ostukraine. „Die sogenannte zivilisierte Welt zieht es vor, den von Kiew begangenen Genozid im Donbass zu ignorieren“, sagte er. Wikileaks publiziert einen Tag später US-Protokolle aus dem Jahr 2009, die beweisen, wie intensiv sich die Vereinigten Staaten bereits da mit dem Land beschäftigten.

Wladimir Wladimirowitsch Putin hat sich entschieden: Nachdem bei aller Reisediplomatie der Westen keinen Millimeter weit auf Russlands Sicherheitsbedürfnisse eingegangen ist, beendet er die Gespräche.

Ukrainischer Panzer und Soldat

Kriegerische Aktivitäten Ost/West seit 1945

Oft führen Verteidiger Russlands an, dass das Land im Gegensatz zu den USA nie Angriffskriege geführt habe. Wikipedia führt eine Liste der sowjetischen Militäroperationen. In Staaten, die nach der bei der Konferenz von Jalta beschlossenen Abgrenzung der Machtsphären unter sowjetischen Einfluss gekommen waren, wurden kommunistische Regierungen durchgesetzt. Dies war in den meisten Ländern nur mit Hilfe der Roten Armee möglich (siehe zum Beispiel „Geschichte Polens“). Die Konsolidierung des sowjetischen Einflusses in dieser Region war etwa 1948 abgeschlossen. Danach ging es um die Konsolidierung der russischen Einflusszone. Oft standen und stehen sich in den folgenden Jahrzehnten russische und amerikanische Truppen in Stellvertreterkriegen gegenüber. Hier ein Auszug der Jahre 1945–1948:

NATO-Flaggen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA in zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt und führten mehrere Angriffskriege, wie eine Liste auf Wikipedia aufzeigt:

Da war die Verteidigung Südkoreas gegen den Norden, der Korea-Krieg von 1950 bis 1953. Es folgten Krisen am Suezkanal und in Ägypten, der Bürgerkrieg in Laos von 1964 bis 1970, der Vietnam-Krieg von 1964 bis 1975. 1965 intervenierten die USA im Bürgerkrieg in der Dominikanischen Republik, ebenfalls 1965 bombardierten sie kambodschanische Grenzdörfer zu Vietnam und zogen das Land in den Vietnamkrieg. 1967 spürten die USA Che Guevara in Bolivien auf und töteten ihn. 1970 griffen die USA Kambodscha an, um den Rückzug ihrer Truppen aus Vietnam zu sichern. Nach Interventionen in Jordanien und Angola unterstützen sie von 1977 bis 1992 die Regierung von El Salvador gegen marxistische Rebellen. Ab 1979 unterstützten die USA die Mujahedin in Afghanistan gegen die dortige kommunistische Regierung.

1980 scheiterte der Versuch, amerikanische Geiseln aus der Botschaft im Iran zu befreien. Ab 1982 wurden Contras, von Honduras aus operierende Gegner der Sandinisten in Nicaragua, von den USA unterstützt. 1983 bis 1986 gab es Interventionen im Libanon, auf Grenada und in Syrien. Am 3. Juli 1988 wurde der Flug Iran-Air-655, ein Passagierflugzeug vom Typ Airbus A300 der Iran Air, über der Straße von Hormus vom Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes (CG-49) abgeschossen. 1990 wurde die Besatzung Kuwaits durch den Irak beendet. Schon ab 1990 bereiteten die USA ihren Einmarsch in den Irak vor, der am 20. März 2003 erfolgte. Dazwischen lagen Aktionen wie die Einrichtung einer Flugverbotszone für den Irak und der Angriff von amerikanischen Kriegsschiffen auf Baghdad. US-Soldaten beteiligten sich am 1992 und 1999 am Jugoslawienkrieg gegen die Serben, versuchten von 1990 bis 1992, den somalischen Bürgerkrieg zu beenden, intervenierten 1994 in Haiti und bombardierten 1998 im Sudan eine vermeintliche Giftgasfabrik, die jedoch tatsächlich Arzneimittel herstellte.

Im November 2001 marschierten die USA in Afghanistan ein, von wo sie sich erst 2021 unrühmlich zurückzogen. 2003 folgte die Invasion in den Irak, wo Saddam Hussein aus dem Amt entfernt wurde. 2004 gab es Interventionen in Somalia und Haiti. Im Frühjahr 2011 marschierten die USA in Lybien ein, um den Muammar al-Gaddafi zu entmachten. 2014 beteiligten sie sich in Uganda an der Suche nach dem Kriegsverbrecher Joseph Kony, 2014 waren sie in Liberia an der Bekämpfung der Ebola-Epidemie in Westafrika aktiv. Ebenfalls seit 2014 bekämpften amerikanische Soldaten im Nahen Osten die islamische Miliz, seit 2015 sind sie im Jemen-Krieg aktiv. 2017 und 2018 wurden Luftangriffe auf Syrien geflogen, am 2. Januar 2020 wird der iranische General Quassem Soleimani mit einer Drohne getötet.

„Staatsfeinde“ beseitigen beide Mächte auf ihre Art: Russland bevorzugt die Vergiftung eigener Bürger, auch auf dem Boden fremder Staaten. Die USA drangen beispielsweise mit Spezialtruppen in Pakistan ein, ohne die dortige Regierung zu informieren, und töteten Osama bin Laden. Auch andere unliebsame Personen fielen Drohnenangriffen zum Opfer. Drohnenangriffe und drohnengestützte Kriege werden vielfach über Ramstein in Deutschland koordiniert, was zu Protesten der deutschen Bevölkerung führt. Die deutsche Regierung hat diese Aktivitäten noch nie kommentiert. Die amerikanischen Truppen sind weder nach dem Zweiten Weltkrieg, noch nach dem Zwei plus Vier-Vertrag aus Deutschland abgezogen. Noch immer sind hier Atomwaffen stationiert. Inzwischen wird von den USA, ebenso wie von den Europäern von Deutschland eine stärkere Aufrüstung und aktivere Rolle bei Kriegseinsätzen erwartet.

Der Mensch Wladimir Putin

Wladimir Wladimirowitsch Putin wurde am 7. Oktober 1952 in Leningrad (heute wieder St. Petersburg) als jüngster von drei Brüdern geboren. Seine beiden älteren Brüder waren da schon gestorben. Der schmächtige, schüchterne Junge wuchs in der Hinterhofatmosphäre eines einfachen Hauses auf und wollte schon als Kind Geheimagent werden. Um gegen die größeren Jungen zu bestehen, lernte Putin schon in seiner Jugend Judo. Er trägt den schwarzen Gürtel.

Nach dem Abitur studierte der junge Mann Jura und wurde noch während des Studiums vom KGB angeworben. Am Tag als die Mauer fiel und die Bürger der DDR die Stasi-Zentrale stürmten, hatte der 37jährige, knapp 1,70 Meter große Oberstleutnant Putin Nachtschicht als diensthabender Offizier im Gebäude des russischen Geheimdienstes in Dresden. Er schaffte es, die Menschen am Eindringen ins Haus zu hindern, indem er unmissverständlich mit Waffengewalt drohte. In dieser Nacht bat der Offizier in Moskau um Hilfe – aber es kam keine Antwort. Das schockierte ihn zutiefst.

Putin spricht fließend deutsch und mag die deutsche Kulturgeschichte. Aber als die Mauer fiel und nach massiven Versorgungsnotständen die Sowjetunion zerbrach, war das für ihn persönlich ein Supergau. Alles, woran er geglaubt hatte, das System, dessen Teil er war, gab es nicht mehr; das war, als ob der den Boden unter den Füßen verlor. Das Verhalten der Moskauer Regierung beim Mauerfall diagnostizierte er für sich selbst als Krankheit, als eine Lähmung der Macht. Wachsam, stark und immer misstrauisch zu sein wurde zu seinem Lebensmotto. Der Film Mensch Putin! des ZDF aus dem Jahr 2015 schildert das sehr eindringlich.

Der Umgang des KGB-Offiziers mit Frauen war hölzern und linkisch. Als er seiner Frau Ljudmila Schkrebnewa den Heiratsantrag machte, dachte diese zuerst, er wolle sich von ihr trennen. Später schlug und betrog er sie regelmäßig, trank außerdem viel, wie die Stasi-Akten Dresden festgehalten haben. Dennoch hielt die Ehe 30 Jahre lang und endete erst kurz vor der Annektierung der Krim. Die beiden haben zwei Töchter, Maria Vorontsova und Katerina Tikhonova. Zurück in Russland fand Waldimir Putin in einem reichen, gut vernetzten Oligarchen und Präsident Boris Jelzin einen Förderer. 1998 ernannte ihn dieser zum Chef des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB (Inlandsgeheimdienst), und später, als es ihm schon sichtlich schlecht ging, als seinen Nachfolger. Nach etlichen Jahren als Ministerpräsident wurde Putin im Jahr 2000 erstmals Präsident Russlands. Inzwischen hat er das Gesetz ändern lassen und kann jetzt bis 2036 weiter regieren.

Seine Jugenderfahrungen und die beim Zusammenbruch der Sowjetunion haben Wladimir Putin gelehrt, an das Recht des Stärkeren zu glauben. Dazu gehört, dass er sich selbst gern als stark präsentiert, etwa mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, aber auch seine absolute Kontrollsucht. Logische Folge ist, dass er auf Staatswirtschaft setzt. Zur Demonstration der Stärke gehört auch, dass der Präsident Staatsgäste gern warten lässt. Mehrere Stunden sind keine Seltenheit. Der Präsident schläft schlecht und steht morgens spät auf. Nach dem Frühstück (er liebt Hüttenkäse) geht er schwimmen, danach ins Fitness-Studio (in dem amerikanische Geräte stehen). Je älter er wird, desto mehr Sport treibt er.

Mindestens fünf Attentatsversuche auf den Präsidenten wurden von westlichen Geheimdiensten registriert. Diese Bedrohungslage intensivierte Putins Kontrollwut weiter. Auf Reisen hat er stets einen eigenen Koch dabei, der dafür sorgen soll, dass er nicht vergiftet wird. Er stilisiert sich als wehrhaften einsamen Wolf, der er, so der Kommentator im ZDF-Film, auch ist. Macht und Stärke will er nicht nur für sich selbst, sondern auch für sein Land. Der Präsident rüstet die Armee von Grund auf neu aus mit modernsten Geräten. Er sucht Respekt und Augenhöhe im Umgang mit den Amerikanern. Er bewundert gleichermaßen Stalin und das Zarenreich. Seine Führungsriege ist rein männlich, besteht zur Hälfte aus Personen mit KGB-Hintergrund. Der innere Kreis besteht aus weniger als zehn Männern. Trotzdem weiß kaum jemand, was Wladimir Putin vor hat. Er ist geheimnistuerisch und ein Taktiker, variiert sein Handeln notfalls von Tag zu Tag.

Belege für das Privatvermögen des Präsidenten gibt es nicht. Er selbst stilisiert sich gern als einfachen Mann, während die Opposition ihn als Multimilliardär und Großaktionär mit mehreren großen Anwesen sieht. Proekta will errechnet haben, dass sich das Vermögen des Präsidenten auf 186 Milliarden Euro beläuft. So gehört ihm angeblich die rund 33 Millionen Euro teure Yacht „Olympia“, eine Flotte von Privat-Jets sowie unzählige Luxus-Autos. Auch in Immobilien habe er kräftig investiert. Seit 2008 ist Wladimir Putin mit der Ex-Athletin Alina Kabaeva liiert (geboren 12. Mai 1983). Diese soll 2015 ein erstes Kind zur Welt gebracht haben und ist seit 2018 aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie soll Zwillinge zur Welt gebracht haben und in der Schweiz leben. Der Präsident legt größten Wert darauf, sein Privatleben geheim zu halten. Angeblich zahlt er einen Unterhalt von neun Millionen Euro jährlich nicht nur an Kabaeva, sondern auch an eine ehemalige Putzfrau namens Svetlana Krivonogikh, deren 18jährige Tochter inzwischen ein eigenes Modelabel hat und als DJ arbeitet.

In seiner bemerkenswerten Karriere hat Wladimir Wladimirowitsch Putin alles erreicht, was er erreichen wollte. Außer einem Punkt: Dem Respekt und der Anerkennung als gleichwertigen Führer einer Supermarkt durch die USA. Das und die Tatsache, mit zweierlei Maß gemessen zu werden, sitzt wie ein giftiger Stachel in seinem Herzen. So kommentierte er zum Thema Krim, dass der Westen das Völkerrecht grundsätzlich auslege, wie es ihm passe. Wenn es in Ordnung war, völkerrechtswidrig in den Irak einzumarschieren, warum sollte es dann verurteilt werden, die Krim zu annektieren?

Der Präsident meint es todernst mit der Ansicht, dass die Ukraine ein Teil Russlands sei – ebenso mit dem zunehmenden Gefühl der Bedrohung durch die Nato-Osterweiterung. Außerdem hat der fast 70jährige – ähnlich wie ein pubertierender Jugendlicher – entschieden: Wenn der Westen ihn nicht liebt, dann soll er ihn eben hassen. Aber er wird lernen, Wladimir Putin zu respektieren.

Lehren aus der Entwicklung

Deutschland hat im kollektiven Unterbewusstsein seine Rolle als mit großer Schuld beladener Verlierer zweier Weltkriege tief verankert. Über Jahrzehnte haben die Nation und ihre Führung, egal welcher Couleur, alle militärische Verantwortung an die Schutzmacht USA und im Zweifel auch an wehrhafte Nachbarstaaten wie Frankreich abgegeben. Die Beschränkung auf passive Verantwortung bei Einsätzen führte immer wieder zu der bitteren Erkenntnis, alleine absolut nichts ausrichten zu können. Das wird zunehmend peinlich, wie die Beispiele des Abzugs aus Afghanistan oder aktuell aus Mali deutlich machen. Seit Jahren fordern die Verbündeten Deutschland auf, mehr Geld in eine bessere Ausstattung der Bundeswehr zu stecken, was eher halbherzig getan wird. So musste die neue Verteidigungsministerin Lambrecht erst vor wenigen Tagen zugeben, dass die Bundesrepublik nicht über genügend Vorräte verfügt, um der Hilfe suchenden Ukraine die gewünschten Mengen an Ausrüstung zu schicken. Die Ausrüstung reiche gerade eben, um die Auslandseinsätze mitmachen zu können.

Es ist Zeit für eine Veränderung. Deutschland muss aufrüsten. Wir brauchen eine europäische Streitmacht. Nur wenn Europa in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, kann verhindert werden, dass wie zur Zeit die USA und Russland über eine „Sicherheitsstruktur Europas“ streiten, ohne die Europäer auch nur zu fragen, oder dass die USA ein Wirtschaftsabkommen Deutschlands mit einem anderen Staat einfach als beendet erklären. Anmaßungen wie diese können sich die Amerikaner leisten; wissen sie doch, dass Europa und Deutschland ihre Hilfe brauchen, um ihre Freiheit zu gewährleisten.

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ (Schiller), ist ein Sprichwort, dessen Wahrheit gerade peinlich aktuell ist. Deutschland muss raus aus seiner pazifistischen Grundhaltung und hinein in ein gesundes Misstrauen. Es muss eine wehrhafte Verteidigungs-Mentalität entwickeln. Wer ernst genommen werden will, muss sich erwachsen verhalten.

Die USA haben etwa 330 Millionen Einwohner, Russland rund 145 Millionen. Auch ohne Großbritannien zählt Europa noch 446 Millionen Einwohner. Europa hat eine starke Wirtschaft und Innovationskraft. Das Ziel muss jetzt sein, nicht ständig neue Mitglieder aufzunehmen und zu finanzieren, sondern die jetzigen so zu einen, dass eine gemeinsame (Verteidigungs-)politik ohne ständige Störfeuer möglich wird. Dazu gehört, dass es keine Mitglieder geben darf, die zwar von finanzieller Förderung profitieren wollen, aber die Grundwerte Europas nicht oder nur teilweise teilen. Wir brauchen eine andere Mentalität: Man kann Dissonanzen endlos diskutieren, bis die ungeliebten Fakten nicht mehr umkehrbar sind. Man kann aber auch Regeln aufstellen, die gemeinsames Handeln sichern. Das ist kein fehlendes demokratisches Bewusstsein, sondern eine Notwendigkeit, wenn sich Europa nicht selbst lähmen will.

Es ist an der Zeit.

JETZT.

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Updates:

Am Ende von Tag eins der Invasion zeigt sich die Lage noch unübersichtlich. Es gibt offenbar nur wenige Angriffe auf private Gebäude, statt dessen geht es den Russen darum, die zivile und militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören. Es gab heftige Kämpfe um die Ruine des Atomkraftwerks Tschernobyl, die von den Angreifern erobert wurde. 137 Ukrainer sind tot.

In Russland selbst gab es trotz Verbots und der Androhung von Gefängnis in vielen Städten Demonstrationen gegen den Krieg. Bisher wurden rund 1700 Demonstranten inhaftiert. Wladimir Putin hat erklärt, dass er die Ukraine demilitarisieren und die „Marionettenregierung des Westens“ vor Gericht stellen werde. Das weckte Besorgnis um das Leben von Präsident Selensky. Die ukrainische Armee kämpft mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln weiter gegen die Aggressoren, steht jedoch auch weiterhin allein da. Der Westen versichert wortreich seine Solidarität, rührt aber keinen Finger.

Die USA schicken weitere 7 000 Soldaten nach Deutschland. Die Nato verstärkt ihre Ostflanke mit Soldaten und Material. Allerdings hat sie nicht rechtzeitig daran gedacht, auch die Küsten des Schwarzen Meeres zu sichern, das von der russischen Flotte beherrscht wird. Die EU und die USA haben in einer konzertierten Aktion eine neue Welle von Sanktionen verkündet, die darauf abzielen, russischen Banken Handel und Refinanzierung im Ausland zu verwehren, den Export technischer Bauteile nach Russland zu verbieten, die Visa-Bedingungen einzuschränken und die Vermögen weiterer ausgesuchter Einzelpersonen einzufrieren. Bisher wurde auf Wunsch Deutschlands Russlands nicht vom SWIFT-Bankenverkehr ausgeschlossen. Gazprom liefert weiterhin 40 Prozent des in Europa benötigten Gases.

Das Bitcoin Wallet eines ukrainischen Wohlfahrtverbandes erhielt eine Spende im Wert von 700 000 Dollar. Russland darf weiterhin am Grand Prix d’Eurovision in Italien teilnehmen. Als ein russischer Öltanker seine Ladung nicht verkaufen konnte, weil die Trader Sanktionen fürchteten, wurde das Öl zum Discountpreis auf den Markt geworfen. Zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine sind inzwischen in den westlichen Nachbarländern angekommen. Aus Polen, das sich bisher geweigert hat, zusammen mit der EU Flüchtlinge aufzunehmen, verlautete jetzt, dass man selbstverständlich alle benötigte Hilfe leisten werde. Ein amerikanischer Historiker deutet den Angriff Putins als „Verzweiflungsakt“, damit der Westen endlich Russlands Sicherheitsängste angesichts der steten Nato-Osterweiterung ernst nimmt.

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Am Ende von Tag zwei sitzt Präsident Volodymyr Selensky in einem Bunker irgendwo in Kiew und erwartet den Untergang seines Landes. Inzwischen ist ihm klar, dass er selbst eins der wichtigsten Ziele ist, die mit diesem Krieg zumindest aus dem Amt, vielleicht auch aus dem Leben eliminiert werden sollen. In der Nacht kommt er mit weiteren Regierungsmitgliedern heraus, um ein Video für die sozialen Medien aufzunehmen. Man stehe zum ukrainischen Volk und werde es nicht verlassen, ist die Botschaft. Selensky erwartet, dass Russland heute nacht Kiew stürmt. Noch immer gibt es weder einen rechten Überblick über die Kämpfe und kaum Bilder. Die Einwohner der 2,3 Millionen-Stadt, die nicht geflüchtet sind, suchen mangels Bunkern in der U-Bahn Schutz.

Der IWF will der Ukraine keine Kredite mehr geben, weil Moskau in Kiew steht. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tritt auf Antrag der Amerikaner zusammen. Es soll eine Resolution gefasst werden, die den russischen Angriff auf die Ukraine verdammt. Russland als ständiges Mitglied legt sein Veto ein. China, Indien und die Emirate enthalten sich. Das bedeutet: Russland steht alleine da. Die EU und die USA konferieren erneut und verabschieden ein zweites Maßnahmenpaket an Sanktionen, nicht jedoch den Ausschluss aus Swift. Dieser wird heftig diskutiert. Aber da er bedeutet, dass dann wohl auch Gas und Öl aus Russland nicht mehr kommen, zögern alle.

Immerhin ist man stolz, jetzt auch Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergei Lavrov persönlich zu sanktionieren. Putin hat wegen der Sanktionen „asymmetrische Gegenmaßnahmen“ angekündigt. Außenministerin Annalena Baerbock glaubt, dass die Sanktionen Russland ruinieren werden. Ein Banker aus Österreich, der dem ZDF ein Interview gibt, lächelt und sagt: „Die Maßnahmen bewirken gar nichts“. Das Magazin Forbes fragt: „Und was passiert, wenn China jetzt Taiwan annektiert?“

Die USA wollen jetzt Hilfe im Wert von 6,8 Milliarden Dollar schicken. Über 50 000 Flüchtlinge haben die westlichen Nachbarn erreicht. Eine der zahlreichen polnischen Helferinnen sagt: „Natürlich helfen wir. Wer weiß, wann wir an der Reihe sind…“. Präsident Selensky hat Putin um neue Gespräche gebeten. Nachdem dieser erst abgesagt hat, sagt er jetzt zu. Nun wird um Termin und Ort verhandelt. Belarus hat sich angeboten. Der Westen ist alarmiert über die Rolle Belarus‘ in diesem Krieg.

Die Nato hat ihre schnelle Eingreiftruppe aktiviert, um Russland abzuschrecken. Dazu gehören bis zu 40 000 Soldaten, davon 13 500 aus Deutschland. Vorerst soll aber nur die „besonders schnelle Eingreiftruppe“ in die östlichen Nato-Länder geschickt werden. Die sogenannte Nato-Speerspitze wird zurzeit von Frankreich befehligt. Ihr gehören 750 deutsche Soldaten an. In Deutschland wird diskutiert, ob die Bundeswehr im Angriffsfall das Land verteidigen könnte. Die Antwort ist ein klares Nein. Es hapert an allem, sogar an warmer Unterwäsche und Winterjacken. Geplant ist, deutsche „Patriot“-Flugabwehrsysteme in die Slowakei zu bringen. Am Samstag sollen das Aufklärungsschiff „Alster“ der Marine auslaufen, außerdem eine Corvette und eine Fregatte. Deutsche Flugzeuge helfen bereits beim Betanken der Kampfjets in der Luft. Auch die deutsche Präsenz in Litauen wird erneut verstärkt.

Russland droht Finnland und Schweden mit ernsten politischen und militärischen Konsequenzen, sollten sie der Nato beitreten. Alle wichtigen Großveranstaltungen wurden dem Land inzwischen entzogen. Es darf nun auch nicht mehr beim Grand Prix d’Eurovision teilnehmen. Ukrainische Männer bis 60 Jahre dürfen nicht mehr ausreisen, sie sollen ihr Land verteidigen. Auslands-Ukrainer kehren heim, um zu kämpfen. Angeblich fällt es den russischen Soldaten schwer, gegen ihre „Brüder“ zu kämpfen. Ein kompletter Zug soll sich geweigert haben. Das ukrainische Militär will über 1000 russische Soldaten getötet haben. Wladimir Putin hat sich wiederholt an das ukrainische Militär gewendet und an die Soldaten appelliert, aufzugeben. Der chinesische Außenminister sagt, man respektiere sowohl die Souveränität der Ukraine, als auch Russlands Sicherheitsbedenken.

Tag drei ist von Erstaunen geprägt. Darüber, wie intensiv und hoch motiviert die Ukraine Widerstand leistet. Darüber, wie der Präsident, eigentlich Komiker von Beruf, sich zum echten Landesvater entwickelt hat, der sich mit Selfies der russischen Propaganda entgegenstellt und seinen Landsleuten immer wieder Mut macht. In Deutschland war es ein Tag des Erwachens. Es war eine Fehleinschätzung, zu glauben, dass man Russland mit Diplomatie Einhalt gebieten kann, gibt Kanzler Scholz zu. Die Regierung handelt folgerichtig: 1000 Panzerfäuste und 500 Stinger-Raketen werden zusammen mit 10 000 Tonnen Treibstoff zur Ukraine geschickt. Den Niederlanden und Estland wird außerdem erlaubt, deutsche Waffen weiter zu reichen. Botschafter Andrij Melnyk, der in den letzten Tagen unermüdlich um Waffen gebeten hatte, nennt das einen „historischen Schritt“.

Russlands Platz im Europarat wurde vorläufig suspendiert; die Regierung schäumt. Laut Ministerpräsident Dmitry Medvedev denke man darüber nach, die diplomatischen Beziehungen zur EU und zu den USA abzubrechen und die Todesstrafe wieder einzuführen. Die Ukraine behauptet, ihre Streitkräfte hätten bislang 3500 russische Soldaten getötet und 200 gefangen genommen. Zudem seien 14 Flugzeuge, acht Hubschrauber, 102 Panzer und mehr als 530 weitere Militärfahrzeuge zerstört worden. Zahlen, die sich nicht überprüfen lassen. Laut Ministerpräsident Dmitry Medvedev denkt Russland darüber nach, die diplomatischen Beziehungen zur EU und zu den USA abzubrechen und die Todesstrafe wieder einzuführen.

Russische Soldaten haben offenbar Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen der Lage vor Ort und der Propaganda ihrer Regierung einzuordnen und sind überrascht von dem heftigen Widerstand. Putin behauptet, die gesamte Ukraine und am besten ganz Europa müsse „entnazifiziert“ werden. Vor dem Hintergrund, dass der ukrainische Präsident ein Jude ist, wirkt das nicht nur zynisch, sondern auch widersinnig. Anonymous-Hacker haben russische Regierungsseiten lahmgelegt. Weltweit protestieren Zehntausende gegen den Angriffskrieg. Zumindest teilweise wurde heute nach der Meinungsänderung Deutschlands von der EU auch beschlossen, Russland vom Zahlungssystem Swift abzukoppeln. Vorerst betrifft das aber nur die Banken, die bereits sanktioniert wurden. Das heißt, über andere russische Banken kann normal Zahlungsverkehr stattfinden. Als es Nacht wird, werden aus Kiew schwere Detonationen vermeldet. Eine Gas-Pipeline nahe Kiew soll getroffen sein.

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Tag vier: 352 Zivilisten in der Ukraine sind tot, darunter mindestens 16 Kinder. Wenn die Angaben der Ukraine zutreffen, sind das weniger als zehn Prozent der 4 300 russischenToten. Russland gab das heute erstmals Verluste öffentlich zu. 400 000 Ukrainer haben inzwischen die Grenzen zu Nachbarländern überschritten und werden überall engagiert betreut. Seit 24 Stunden brennt ein Öllager nahe Kiew. Seit zwei Tagen braut die Pravda-Brauerei in Lviv kein Bier mehr, sondern stellt Molotov-Coctails her. Damit sind auch zahlreiche Privatleute beschäftigt. Die Russen zerschießen gezielt die Infrastruktur des Landes. Nun stellt Elon Musk sein Starlink-System zur Verfügung, um das Internet zu sichern.

Wladimir Putin hat Stufe zwei eines Angriffskrieges ausgerufen und die „Abschreckungswaffen“ des Landes in Alarmbereitschaft versetzt. Dazu zählen ballistische Raketen mit konventionellen Sprengköpfen, moderne Marschflugkörper und Kurzstreckenraketen, Hyperschallraketen und Atomwaffen. Belarus hat ein Referendum abgehalten und erlaubt Russland nun, Atomwaffen auf seinem Staatsgebiet aufzustellen. 65,06 Prozent der Teilnehmenden waren dafür. Im Referendum wurde auch gleich über lebenslange Straffreiheit für Lukaschenko abgestimmt. Über 2000 Menschen in Russland wurden inzwischen wegen verbotener Demonstrationen inhaftiert. Meist stehen sie einfach auf Plätzen herum, auf denen niemand herumstehen soll. Über 100 000 Menschen haben heute in Berlin für den Frieden demonstriert. Europa hat seinen Luftraum für russische Airlines und Privatflugzeuge gesperrt.

Friedensdemonstration in Berlin

In Deutschland gab es eine geschichtsträchtige Zeitenwende, die in den internationalen Medien erheblichen Niederschlag gefunden hat: Bundeskanzler Olaf Schulz und seine Regierung haben öffentlich eingestanden, dass ihre Appeasement-Politik naiv war und machen eine Kehrtwendung um 180 Grad. Die Bundeswehr soll ab sofort gezielt ausgerüstet werden, wofür noch dieses Jahr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro gebildet wird. Künftig werde man die zwei Prozent-Regelung der Nato für den Wehretat nicht nur erfüllen, sondern noch mehr als das investieren, damit Deutschland verteidigt werden kann. Der ukrainische Botschafter, der sich so unglaublich für sein Land einsetzt, wird in der Sondersitzung des Bundestages mit langem, stehendem Applaus geehrt.

Aber noch immer lässt der Druck auf Deutschland nicht nach: Man müsse vollständig aus Swift aussteigen, auch wenn das sehr weh tue, fordern Stimmen im In- und Ausland. Deutschland bezieht nicht nur Öl und 50 Prozent seines Gasverbrauches aus Russland, sondern auch 50 Prozent der Kohle, die in den Kohlekraftwerken verbraucht werden. Bei einem vollständigen Ausstieg aus dem Zahlungssystem der Banken wird es unmöglich, die Energie zu bezahlen – man wird also auf sie verzichten müssen. Deshalb sollen nun so schnell wie möglich zwei neue Flüssiggas-Terminals gebaut werden. Die CDU/CSU unterstützt die Haltung der Bundesregierung, nur die Linken und die AfD sind dagegen. Die Reihen sind geschlossen wie selten.

Putin hat der Ukraine Friedensgespräche angeboten – in Belarus. Genau dorthin, so die umgehende Antwort von Landesvater Selensky, werde man auf keinen Fall kommen. Man einigt sich auf einen Ort unmittelbar an der Grenze. Aber die russische Delegation ist nur mittelklassig mit Putin-Gefolgsleuten besetzt, und Selensky erwartet keine Fortschritte. Die EU-Außenminister schicken 450 Millionen zum Kauf von Waffen. die anonymen Krypro-Spenden summieren sich inzwischen auf 12 Millionen Euro. Das Auslandsvermögen der russischen Zentralbank ist eingefroren. Im Gegenzug hat diese ausländischen Tradern verboten, russische Sicherheiten zu verkaufen. Die EU will die russischen Staatsmedien Sputnik und RT verbieten. Der Euro und der Rubel fallen an den Börsen. Die USA und Frankreich haben ihre Bürger aufgerufen, Russland zu verlassen.

Weltweite Verteilung der Atomwaffen

Tag 5: Rasante Auswirkungen der Sanktionen: Die russische Zentralbank kann an westlichen Finanzmärkten nicht mehr handeln. Der Rubel stürzt zeitweise um bis zu 40 Prozent ab. Die Zentralbank verdoppelt den Leitzins auf 20 Prozent, um den Geldabfluss zu stoppen. Etwa 15 Prozent der Einlagen in Russland wurden in Devisen getätigt. Die Ausfuhr von Devisen wird verboten. Das Bargeld an den Automaten wird knapp. Die russische Börse ist geschlossen. Kryptowährungen scheinen der letzte Ausweg zu sein. Ausländische Unternehmen ziehen sich in Rekordgeschwindigkeit aus Russland zurück. Sie verkaufen Anteile, kündigen Kooperationsverträge auf und machen sich Sorgen darüber, was aus ihren Mitarbeitern vor Ort wird. Der russischen Bevölkerung wird langsam bewusst, dass Zeiten des Mangels anbrechen. Die großen Gewinner der Kriege sind die Rüstungsunternehmen.

Nachdem EU-Kommissionspräsidentin gestern den EU-Beitritt der Ukraine befürwortete, folgte heute der schriftliche Beitrittsantrag von Präsident Selensky. Während der Rede des Präsidenten bricht eine Dolmetscherin im Fernsehsender Welt in Tränen aus und kann nicht weiter arbeiten. Russland hatte erwartet, die Ukraine viel schneller zu besiegen. Am Samstag veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur versehentlich einen Jubelbericht darüber, dass Russland seine Einheit wiederhergestellt habe, bevor dieser schnell wieder gelöscht wurde. Reuters schreibt, dass diese Krise Deutschland dazu gebracht habe, seine Rolle als globale Macht nun anzunehmen. Die Schweiz hat sich entschlossen, ihren neutralen Status aufzugeben und schließt sich den Sanktionen an. Die Türkei schließt den Bosporus und die Dardanellen. Kriegsschiffe dürfen nicht mehr passieren. Die USA entscheiden, russisches Öl nicht zu sanktionieren, da dies nur die amerikanischen Kunden treffe, nicht aber Putin. Russland vereinbart einen Riesendeal mit China über die Lieferung von Öl und Gas in den nächsten 25 Jahren im Wert von 100 Milliarden Euro.

Russland wird von allen sportlichen Großveranstaltungen ausgeschlossen, Sport-Sponsorenverträge mit russischen Unternehmen werden gekündigt. Sogar IOC-Chef Thomas Bach, der vor kurzem noch der chinesischen Regierung huldigte, kann sich nicht ausschließen. Nachdem der Kölner Rosenmontagszug eigentlich schon abgesagt war, entschlossen sich die Karnevalisten kurzfristig, einen Friedensumzug zu organisieren. 250 000 Menschen kamen, teilweise kostümiert, aber nicht in Alaaf-Laune. Vor wenigen Tagen konnte der Weltsicherheitsrat Russland nicht verurteilen, weil dieses sein Veto dagegen einlegte. Heute begann nun eine Vollversammlung der 193 Nationen, die zur UNO gehören. Wegen sehr vieler Redebeiträge wird sie mehrere Tage dauern. Mit Spannung wird die Abstimmung erwartet, auch wenn sie keine rechtlichen Auswirkungen hat.

Der Vertreter der Ukraine, Oksana Markarova hat in einer Wutrede Wladimir Putin empfohlen, sich wie Hitler selbst zu beseitigen. Russland habe eine Vakuum-Bombe benutzt, sagte er. Diese Bomben saugen Umgebungs-Sauerstoff an, um dann eine extrem heiße Explosion folgen zu lassen. Sie sind als „Vater aller Bomben“ von der Genfer Konvention verboten. Anonymous-Hacker greifen russische Regierungsseiten an. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag nimmt eine Klage gegen Putin wegen Verletzung der Menschenrechte und Kriegsverbrechen an. Es werden inzwischen mindestens 406 zivile Tote verzeichnet.

Russland attackiert die Ukraine immer aggressiver und nimmt kaum noch Rücksicht auf Zivilisten. Am stärksten umkämpft ist zurzeit Kharkiv an der Ostgrenze. Das erste Treffen zu Friedensgesprächen endete ohne Ergebnis. Putin erklärte, er erwarte, dass die Ukraine die Krim als russisch anerkenne und selbst entmilitarisiert werde. Das Verhalten des russischen Präsidenten erscheint zunehmend unberechenbar. Die Amerikaner vermeiden es deshalb, ihre eigenen Abschreckungswaffen ebenfalls in Alarm zu versetzen. Die Geheimdienste haben bisher keine Veränderungen an den Stellungen der russischen Atomwaffen bemerkt. Die Angriffe konzentrieren sich auf die Großstädte der Ukraine. Dort gibt es jetzt teilweise Probleme mit der Wasserversorgung und Nahrungsversorgung. In Deutschland werden Hilfssendungen gepackt. Viele Millionen Spenden für die ukrainische Bevölkerung sind bereits zusammen gekommen. Die Ukraine bietet russischen Soldaten 40 000 Euro pro Mann dafür an, dass sie nicht kämpfen.

Tag 6: Heftige Debatten in der UN-Vollversammlung über das Verhalten Russlands. Aber es scheint recht viele Nationen zu geben, die das Land nicht verurteilen wollen. Die ersten 1300 Flüchtlinge sind in Deutschland angekommen, mehr werden folgen. Es wird befürchtet, dass bis zu vier der 40 Millionen Ukrainer flüchten werden. Russland kommt mit seinem Krieg nicht wie gewünscht voran, entsprechend brutaler wird es. Nicht nur der Fernsehturm und die Holocaust-Gedenkstätte in Kiew werden zerstört, es geht auch immer öfter gegen Wohnblocks, in der Nacht sogar gegen ein Krankenhaus in Kharkiw. Die Landfläche gegenüber der Krim scheint gefallen und die Krim von Russland aus auf dem Landweg erreichbar. Liest man die Tweets der russischen Nachrichtenagentur Tass, fühlt man sich wie in einem völlig anderen Film, so unterschiedlich sind die „Informationen“. Da steht etwa: „Russland kann nicht anders als zu handeln, bevor die Ukraine eine Nuklearmacht wird,“ oder „Die Befreiung des Donbass macht Fortschritte.“ Da steht auch: „Die Ukrainische Armee verlässt ihre Posten und legt die Waffen nieder.“ Auf twitter tauchen bots auf, die die Ukraine diffamieren. Präsident Selensky beweist sich als extrem kluger Kommunikator: Über alle Social Media-Kanäle sendet er Selfies von sich und seinem Kabinett und widerlegt falsche Behauptungen.

Immer mehr Firmen kappen ihre Kontakte zu Russland. Es kommt auch zu Ausgrenzungen einzelner Personen in Deutschland: So darf die Opernsängerin Anna Netrebko in Bayern nicht wie geplant auftreten, und der weltweit als einer der besten Dirigenten bekannte Valery Gergiev wird an der bayrischen Staatsoper entlassen, jeweils wegen mangelnder Distanz zum russischen Verhalten. Supermarktketten boykottieren Vodka, was den vielen Russlanddeutschen nicht gefallen wird. Alle Mitarbeiter des Altkanzlers Gerhard Schröder haben gekündigt, weil er sich nicht von seinen russischen Ämtern und der Freundschaft zu Putin distanziert. Darunter ist auch sein langjähriger Redenschreiber.

400 Söldner der Gruppe Wagner suchen Präsident Selensky in Kiew, um ihn zu töten. Historiker und Militärs sagen, die massiven Waffenlieferungen der EU und anderer Nato-Staaten an die Ukraine könnten wirken wie ein erster Schritt eines Nato-Einsatzes gegen Russland, und die Grenze sei schmal. Ein 60 Kilometer langer Militärkonvoi der Russen steht kurz vor Kiew. Die Ernährungslage der Russen scheint schlecht zu sein; es kursiert ein Video, das eine Gruppe beim Plündern eines Lebensmittelmarktes zeigt. Elon Musk liefert die erste Hardware für sein Starlink-Internet. Nicht bekannt ist, ob er auch die Preise erlässt, denn billig ist Starlink nicht: Die einfache Antenne kostet schon 500 Dollar, dazu kommen monatlich weitere 100. Es macht so schrecklich müde: Die ständigen gegenseitigen Anschuldigungen, diese Gier nach Macht, diese steten Versuche, in Gut und Böse aufzuteilen, wohl wissend, dass es weder das reine Gute, noch das reine Böse gibt – zumindest in der Politik.

Tag 7: Sie macht so müde, diese Schwarzweiß-Malerei: Eine Seite nur gut, die andere nur böse – ein kleines Kind weiß schon, dass das nicht funktionieren kann. Umso bemerkenswerter die Abstimmung in der UN-Vollversammlung heute: Von 193 Nationen verurteilten 141 Russland für diesen Krieg. Nur insgesamt 5 taten es nicht: Russland selbst, Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea. Aber: 35 Nationen enthielten sich der Stimme, darunter China und Indien. Zusammen stehen allein diese beiden für mehr als ein Drittel der rund 7,9 Milliarden Erdbewohner. Gezeigt haben sich also ganz klar vier Blöcke: Die USA und die EU mit zusammen rund 800 Millionen Menschen, China mit rund 1,4 Milliarden, Indien mit 1,38 Milliarden und Russland (146), Belarus (9,4), Nordkorea (26), und Eritrea (3,6) mit zusammen 185 Millionen Einwohnern, alle fünf mit einer schwachen Wirtschaft. Nur eine Einigkeit, wie sie zurzeit besteht, wird der Westen seine Macht und seine Währungen sichern können. In den USA beginnt man zu erkennen, dass Russland und China zusammen „das Potential haben, die globale Politik neu auszurichten“ (Bloomberg).

Der Krieg, soviel steht inzwischen fest, wird wohl noch eine ganze Weile dauern. Seine schlimmste Fratze hat er bisher noch nicht gezeigt – aber man sieht, wo es hin führt: So wurde beispielsweise heute ein Heim für blinde Kinder getroffen. 900 000 Menschen sind inzwischen auf der Flucht. Die Kampfmoral in der Ukraine ist unverändert hoch: Immer wieder stellen sich große Gruppen unbewaffneter Einheimischer den russischen Panzern entgegen. Russland hat 498 tote Soldaten zugegeben, die Ukraine spricht von mehr als 7000. Der inhaftierte russiche Regimekritiker Alexey Nawalny hat dazu aufgerufen, ab sofort jeden Abend auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren. Die Oligarchen, denen es ans Geld geht, haben Putin offen kritisiert, der Bund der Soldatenmütter fordert Aufklärung über den Verbleib der Söhne und einzelne Stimmen der Kritik sind deutlich lauter, als sonst üblich. Das alles dürfte Putin noch aggressiver machen. Zwei der letzten ausgewogen berichtenden Medien wurden jetzt geschlossen.

Roman Abramowich, in England wohnhafter russischer Oligarch, will seinen Fußballclub Chelsea verkaufen und den erwarteten Erlös von vier Milliarden Euro für die ukrainischen Opfer des Krieges spenden. Die EU sucht nach Wegen zu verhindern, dass Geldströme von den Banken in Kryptobörsen abwandern. Die westlichen Staaten überlegen derzeit angestrengt, wo überall Besitz der sanktionierten Personen versteckt sein könnte und wie man dran kommt. Auch Monaco hat sich den Sanktionen angeschlossen und friert jetzt Geld reicher Russen ein. Aber die Karibik ist ja noch frei…

Béla Anda, langjähriger Sprecher von Altkanzler Schröder, hat den gemeinsamen wöchentlichen Podcast der beiden gecancelt. Der Ausschluss Schröders aus der SPD steht im Raum. Dieser hat sich weg geduckt und bleibt seinem alten Freund Putin genauso treu, wie den gut dotierten Posten in dessen Reich. US-Präsident Biden hat ein ausgeprägtes Inlands-Problem: Donald Trump und große Teile der Republikaner loben Putin für seine „kluge Strategie“ und versuchen so im Vorfeld der Midterms, das Land weiter zu spalten. Die USA haben jetzt ebenfalls ihren Luftraum für russische Maschinen gesperrt. Bisher hat Russland noch keine Gegenmaßnahmen gegen die Sanktionen verkündet. Der Ölpreis stieg auf 112 Dollar pro Barrel, und die OPEC hat beschlossen, die Fördermengen nicht zu erhöhen. Der Spritpreis ist auf 1,70 € für den günstigsten Diesel gestiegen. Die Ukraine hat inzwischen rund 52 Millionen Dollar in Kryptowährungen als Spenden erhalten. Alex Konanykhin, ein russischer Großunternehmer, der in den USA lebt, hat eine Million Kopfgeld für die Gefangennahme Putins ausgesetzt – tot oder lebendig.

Siehe auch:

USA/NATO war spätestens 2008 klar, dass es Putin ernst war – Wikileaks

Angriff auf die Ukraine ein lange geplanter Finanzkrieg

Russland verdient Augenhöhe

3000 Jahre Geschichte Europas im Zeitraffer

und Pandora II

Ein Mob von 15 000 Menschen als Waffe: Jahrestag der Erstürmung des US-Kapitols

Die Flaggen am Kapitol hängen am 6. Januar 2022 auf Halbmast. Vor einem Jahr gab es den bisher aggressivsten Angriff auf die Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika: Ein Mob von rund 15 000 Menschen, angestachelt vom Noch-Präsidenten Donald Trump, stürmte das ehrwürdige Haus mit dem Ziel, die Feststellung Joe Bidens als neuen Präsidenten zu verhindern.

Rund um den Globus ist die Geschichte dieses Tages unvergessen. Tausende von Stunden Videomaterials gibt es dazu. Eine Zusammenfassung der ARD (Video unten) zum Jahrestag zeigt weniger bekannte Szenen daraus auf. Sie beweisen, in welchem Ausmaß diejenigen lügen, die heute behaupten, es habe sich keineswegs um einen Umsturzversuch gehandelt. Man sieht zahlenmäßig turmhoch unterlegenes Sicherheitspersonal im verzweifelten Versuch, die Zugänge zum Haus gegen aggressive Menschenmassen zu verteidigen. Es war ein beinharter Nahkampf. Einer der Polizisten, Mike Fanone, wurde dabei von den anderen getrennt, in die Masse gezogen, in den Nacken getasert und verprügelt. Er erlitt einen Herzinfarkt und wäre fast gestorben. Im Video sieht man ihn verzweifelt schreien „Ich habe Kinder“… Es war pures Glück, dass ihn einzelne daraufhin retteten und zurück ließen.

Es war die schiere Masse von rund 15 000 Menschen, die sich gegen die Eingänge drückte und dort auf nur wenige Polizisten traf. Für mehr als einen wurde es lebensgefährlich. Im Video sieht man, wie einer der Eindringlinge dem jungen Polizisten David Hodges die Gasmaske vom Gesicht reißt. Er wird von der Masse gegen die Eingangstür gedrückt und um Haaresbreite zerquetscht. Ganz allein stand Officer Goodman in einem Gang, als die Aufrührer den Saal stürmen wollten, in dem sich verschreckte Senatoren zitternd unter Sitze duckten. Sie wären ausgeliefert gewesen, wenn der Officer nicht geistesgegenwärtig reagiert und, statt zu schießen, die Menge in das vom Saal abgewandte Treppenhaus gelockt hätte. Bis sie danach den richtigen Ort fanden, konnten die Abgeordneten in Sicherheit gebracht werden.

Teilnehmer am Sturm berichten, dass sie Donald Trump bedingungslos vertrauten. Sie glaubten, die Nation gegen einen Wahlbetrug verteidigen zu müssen und fühlten sich vom unterlegenen Trump ausgeschickt, die Situation zu korrigieren. Erst als dieser – viel zu spät – dazu aufrief, nun nach Hause zu gehen, hörte die Gewalt auf. Vier Tote waren am Tag des Sturms selbst zu beklagen. Vier der damaligen Sicherheitsbeamten haben in der Zeit danach Selbstmord begangen. Hunderte der Aggressoren und 140 Polizisten wurden verletzt, teilweise schwer.

Der Noch-Präsident, der dazu aufgerufen hatte, mit ihm gemeinsam zum Kapitol zu marschieren, saß derweil im Weißen Haus vor dem Fernseher, begeistert von seinen Anhängern und voller Hoffnung, sich wider jedes besseres Wissen im Amt halten zu können. Als das misslang, begab er sich auf einen beispiellosen Rachefeldzug, der dafür sorgt, dass die Demokratie in den USA ein Jahr später in viel größerer Gefahr ist, als beim Aufstand selbst.

60 Gerichte haben Klagen Donald Trumps abgewiesen, weil bei egal welchen Nachzählungen keinerlei Beweise für Manipulationen zutage traten. Dennoch hat dieser nie aufgehört, von Wahlbetrug zu sprechen. Die gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung hat sich in den Köpfen der Amerikaner, besonders der Republikaner, festgesetzt. 62 Prozent der Republikaner glauben noch immer, dass Joe Biden unrechtmäßig im Amt ist, berichtet die Newsweek.

Der rabiate Immobilienunternehmer hat seine Partei bis heute fest im Griff. Wer sich seiner Meinung nicht anschließt, wird gnadenlos gemobbt. Dazu gehören beispielsweise sein damaliger Vize, Mike Pence, Oppositionsführer Mitch McConnel, sowie Liz Cheney, die infolge ihrer Kritik am Verhalten des Präsidenten ihre Position als Fraktionsführerin im Abgeordnetenhaus verlor. Donald Trump hatte vor dem Aufstand in seiner Partei eine Zustimmungsrate von 83 Prozent. Ende Dezember 2021 lag sie noch immer bei 78 Prozent. Mike Pence hingegen fiel direkt nach seiner Kritik an Trumps Rolle von 78 auf 40, und zum Jahresende 2021 auf 28 Prozent Zustimmung. Mitch McConnels Zustimmungsrate in der Partei sank von 58 auf nur noch 26 Prozent, nachdem er den Sieg Joe Bidens anerkannt und anschließend von Trump gemobbt worden war. Die Rache des Ex-Präsidenten verfolgte auch alle Parteimitglieder, die beim zweiten Versuch, ihn des Amtes zu entheben, mit Ja gestimmt hatten.

So „dumm“, wie es ein republikanischer Abgeordneter im Nachhinein ausdrückte, wird der nächste Umsturzversuch wohl nicht ablaufen. Die Trump-Anhänger werden es tunlichst vermeiden, sich erneut derart plump und brutal selbst ins Unrecht zu setzen. Aber wer denkt, die Gefahr für die Demokratie sei vorbei, irrt gründlich:

Insgesamt 163 Republikaner kandidieren zurzeit für neue Ämter. Alle vertreten Trumps These, dass er bei der Präsidentschaftswahl betrogen wurde. 69 davon bemühen sich um Gouverneursposten in insgesamt 30 Bundesstaaten, 13 um Ämter als Staatsanwälte und weitere 18 wollen Staatssekretäre in Bereichen werden, die direkt für die Organisation von Wahlen verantwortlich sind. Sollten sie Erfolg haben, kann die Demokratie von innen unterwandert werden.

In Bundesstaaten, wo die Republikaner bereits großen Einfluss haben, wurden Wahlgesetze geändert. Besondere Empörung hat dabei Georgia hervorgerufen. Die Zahl der Wahllokale wurde hier in Gegenden, die traditionell die Demokraten wählen, massiv verringert. Gleichzeitig wurde es verboten, Menschen, die in langen Schlangen darauf warten, ihre Stimme abgeben zu können, mit Speisen und Getränken zu beliefern. Solche und ähnliche Maßnahmen sollen in Zukunft verhindern, dass Donald Trump an der Meinung der Wähler scheitert, oder an Behörden, die sich an Tatsachen halten. Wer seine Auffassung von Wahlbetrug nicht vertrete, so verriet ein Insider der Newsweek, werde von ihm als Kandidat verhindert.

Insgesamt rund 700 Verfahren wurden nach dem Sturm des Kapitols gegen die Täter aufgenommen. Darunter sind auch welche gegen den Ex-Präsidenten selbst. Der gibt freiwillig keinerlei Auskunft und verzögert die Herausgabe von Unterlagen und Protokollen mit allen Mitteln.

Jacob Chansley, der als „Schamane“ mit seiner Aufmachung aus der Masse heraus stach, wurde inzwischen zu 41 Monaten Gefängnis verurteilt, wo er sich gleich zu Beginn bitterlich darüber beklagte, nicht das gewünschte vegetarische Essen serviert zu bekommen. Reuters zählt eine Reihe weiterer Verurteilungen auf. Unter ihnen sind verwirrte Rechtsradikale ebenso wie Spitzensportler, ehemalige Soldaten und Marines.

Dick Cheney, ein früherer Vizepräsident, und seine Tochter Liz waren am Jahrestag die einzigen Republikaner, die sich zur Gedenkminute im Senat einfanden. Zum ersten Mal seit dem Aufstand nahm Präsident Joe Biden kein Blatt vor den Mund und bezeichnete seinen Vorgänger als „geschlagenen Präsidenten“, als Aufrührer, der die Demokratie in Gefahr bringt. Dieser reagierte prompt: Biden führe ein politisches Theater auf und spalte das amerikanische Volk. Eigentlich hatte Trump selbst eine Rede halten wollen, sagte diese jedoch kurz vor dem Jahrestag ab. Statt dessen sprachen die höchst umstrittenen Abgeordneten Matt Gaetz und Marjorie Taylor Green. Letztere wurde vor wenigen Tagen dauerhaft von Twitter verbannt, weil sie zum Sprachrohr Donald Trumps geworden war.

Der nächste Kampf zwischen Demokraten und Republikanern steht bevor: Erklärtes Ziel der Trump-Anhänger ist es, bei den anstehenden Midterm-Wahlen die Mehrheit im Senat zu erreichen, um Bidens Pläne möglichst effizient aushebeln zu können. Die Aussichten stehen gut. Der amtierende Präsident wurde nicht gewählt, weil das Volk ihn so liebt, sondern weil er die einzige Alternative zu Donald Trump darstellte. Seine Umfrageergebnisse und auch die seiner Vizepräsidentin sinken seitdem stetig. Der überstürzte Afghanistan-Rückzug und der Image-Verlust für die USA werden Biden in der Öffentlichkeitsmeinung ebenfalls zugerechnet, obwohl es Donald Trump gewesen war, der den Abzug ohne jegliche Bedingungen mit den Taliban vereinbart hatte. Keine guten Aussichten für eine Nation, die so gern alle anderen kritisiert, wenn sie ihrem Bild von Freiheit und Menschenrechten nicht entsprechen…

Siehe auch:

Wahlfeststellung im Kongress vom Aufstand der Trump-Anhänger gebremst

Donald Trump zu unterschätzen, wäre ein tödlicher Fehler

Narzisstische Wut will vernichten – H.G.T Tudor und Donald Trump

Updates:

Trump muss Dokumente aushändigen, die seine Schuld bestätigen

Donald Trumps wilde Drohungen: Den USA droht der nächste Sturm

Untersuchungsausschuss setzt Trump unter Druck

Trump wusste, dass sein Versuch, im Amt zu bleiben, illegal war

Mob jagte Mike Pence; Wahlergebnis sollte nicht zertifiziert werden

Auf unseren Körpern haben wir die gleichen Narben

what is love but the strangest of feelings

a sin you swallow for the rest of your life?

you’ve been looking for someone to believe in

to love you, until your eyes run dry

she lives by disillusion‘s glow

we go where the wild blood flows

on our bodies we share the same scar

love me, wherever you are

how do you love with a faith full of rust?

how do you turn what the savage take?

you’ve been looking for someone you can trust

to love you, again and again

how do you love in a house without feelings?

how do you turn what the savage takes?

I’ve been looking for someone to believe in

love me, again and again

she lives by disillusion’s glow

we go where our wild blood flows

on our bodies we share the same scar

love me, wherever you are

how do you love on a night without feelings

she says love, I hear sound, I see fury

she says love‘s not a hostile condition

love me, wherever you are

Abschied von Kanzlerin Angela Merkel – ein außergewöhnliches Leben

Sie hat diese norddeutschen Augen: meist grau, in mancher Stimmung blau, manchmal wolkenverhangen, auf den ersten Blick kühl; solche, die sich in sich selbst zurück ziehen können. Wer sich in ihnen täuschte, musste lernen, dass fehlendes öffentliches Feuer nicht Wehr- oder Tatenlosigkeit bedeuten muss. Sie hatte ein wildes, bewegtes Leben, das heute in ein neues Stadium eingetreten ist: Dr. Angela Merkel wurde nach 16 Jahren als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines großen Zapfenstreiches in den Ruhestand verabschiedet.

Die drei Musikstücke, die sie sich zum Abschied vom Orchester der Bundeswehr wünschte, erregten je nach persönlicher Einstellung teils Spott, teils Verachtung, teils Rührung: Die sonst so zurückhaltende Kanzlerin habe einen Blick in ihr Herz erlaubt, hieß es beim ZDF. Letzteres mag wohl so stimmen: Es war ein ganz persönlicher Rückblick auf ein ungewöhnliches Leben mit plötzlichen Umbrüchen, harten Kämpfen, tiefen Krisen und vielen Höhepunkten. Geboren am 17. Juli 1954 im Sternzeichen Krebs, wuchs Angela Dorothea Kasner der DDR auf, wo sie 1973 Abitur machte. Ihre jungen Jahre waren wie die aller anderen jungen Menschen, und so war Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen„, 1974 veröffentlicht, für sie genau wie den großen Teil der DDR-Jugend ein Lied mit Kult-Status, das scheinbar harmlos den ständigen Mangel und das quälende Gefühl der fehlenden Freiheit besang. „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef war Wunsch zwei. Die Knef, dreimal verheiratet, führte ein äußerst bewegtes Leben und lernte dabei ganz ähnlich wie Merkel, große Höhen kennen, aber auch schwarze Tiefen voller Spott, Hass und Verachtung. Auch Angela Merkel wurde 1982 nach fünfjähriger Ehe von ihrem Mann Ulrich geschieden. 1984 lernte sie an der Akademie der Wissenschaftler den fünf Jahre älteren Quantenchemiker Joachim Sauer kennen. Der zweifache Vater wurde 1985 geschieden; im selben Jahr erwarb das Paar ein Wochenendhaus in der Uckermark. 1998 heirateten die beiden. Viel mehr weiß man nicht über sie: Beide Eheleute halten die Medien aus ihrem Leben strikt heraus.

Großer Gott, wir loben dich„, ein Kirchenlied aus dem Jahr 1771, war das dritte Wunschlied der scheidenden 66jährigen. Sie ist nicht nur die Tochter eines Pfarrers, sondern hat auch selbst christliche Werte verinnerlicht. Vor diesem Hintergrund mag ihr spontaner Entschluss, einem Flüchtlingsstrom 2015 die Grenzen zu öffnen, verständlicher erscheinen. „Wir schaffen das“ sagte eine Frau, die zwei politische Systeme von innen heraus kennen gelernt und das Potential Deutschlands am eigenen Leib erfahren hat.

Als 1989 die Mauer fiel, war Angela Dorothea Merkel 35 Jahre alt. Schon in der Schulzeit war ihre überdurchschnittliche Intelligenz aufgefallen. Sie war Klassenbeste in russisch und Mathematik. 1973, nach dem Abitur, begann sie ein Studium der Physik in Leipzig und jobte nebenher als Bedienung in Diskotheken. Ihre Diplomarbeit vom Juni 1978 mit dem Titel „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“ wurde mit „sehr gut“ bewertet. Die Arbeit war zugleich ein Beitrag zum Forschungsthema „Statistische und Chemische Physik von Systemen der Isotopen- und Strahlenforschung im Bereich statistische und physikalische Chemie“ am Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Dort setzte sie ihr Berufsleben in der Abteilung Theoretische Chemie fort. Ihre Doktorarbeit  dem Thema „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ dort wurde mit magna cum laude bewertet.

Außer ihrem Engagement in einer FDJ-Gruppe während ihrer Zeit in Berlin war Angela Merkel in der DDR nicht politisch aktiv. Mit der Wende änderte sich das radikal. Eigentlich hatte sie in die SPD eintreten wollen; das Verfahren, erstmal einem Ortsverein beitreten und sich von dort aus hoch arbeiten zu müssen, war ihr aber zu umständlich. So landete Angela Merkel bei der CDU, wo sie schon 1990 ihre erstes Bundestagsmandat erreichte. Wahlsieger Helmut Kohl nominierte sie überraschend als Frauenministerin. Der Förderung Kohls verdankte sie die darauf folgende Karriere, die sie über das Ministeramt für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf den mächtigen Posten der CDU-Generalsekretärin führte. 1999 wurden die Spendenaffaire und die Rolle Helmut Kohls öffentlich. Im Herbst des selben Jahres brach Angela Merkel öffentlich mit ihrem langjährigen Förderer. Danach war ihr Weg nach oben offen: 2005 wurde sie die erste Bundeskanzlerin Deutschlands.

Ein herausragendes Kennzeichen Merkels ist ihr bescheidenes, ruhiges Auftreten. Während die Wirtschaft dies als sachlichen Führungsstil lobte, schätzten es einige ihrer innerparteilichen Konkurrenten als Schwäche ein – und mussten bittere Lektionen lernen. Leise, fast unhörbar verschwanden ehrgeizige Männer von der politischen Bühne, darunter Roland Koch, Karl-Theodor zu Guttenberg, Norbert Röttgen und Friedrich Merz. Die beiden letzteren haben die Niederlage noch immer nicht überwunden und suchen jetzt erneut ihre Chance. „Wer Merkel unterschätzt, hat schon verloren“, urteilte lächelnd Innenminister Seehofer, der sich mit ihr so manche Auseinandersetzung geliefert hat. Im Ausland wurden die uneitle Art und der Sinn für Gleichberechtigung Merkels hoch geschätzt. „Sie reihte sich in den Kreis ein – und überragte ihn“ sagte der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean Paul Juncker zu ihrem Abschied und hob hervor, dass Merkels Erfolge vor allem darauf beruhten, dass sie die kleinen Staaten mit der gleichen Aufmerksamkeit behandelte wie die großen.

„Merkel ist Physikerin. Sie denkt die Dinge vom Ende her. Was mich oft genervt hat, war die Zeit, die sie brauchte, um bis zum Anfang vorzudringen,“ ist ein anderes Statement Junckers zu ihrem Abschied. Damit trifft er ein Kernproblem der Kanzlerin. Oft, vielleicht zu oft, dauerte es einfach zu lange, bis sie sich endlich zu Wort meldete. Allerdings gab es auch Spontanentscheidungen -die wurden noch heftiger kritisiert. Eine davon entstand nach der Umweltkatastrophe, verursacht durch das Kernkraftwerk Fukushima. Merkel rief ohne Rücksprache das Ende der Kernkraftwerke für Deutschland aus und leitete damit eine bis heute ausgesprochen schwierige, weil unvorbereitete Energiewende ein. Genauso plötzlich und ohne Rücksprache öffnete sie 2015 die deutschen Grenzen. Zigtausende Migranten standen an den Außengrenzen Europas und drohten Länder wie Ungarn und Österreich einfach zu überrollen. Für die Nachbarn verhinderte die Entscheidung mit dem berühmten „Wir schaffen das“ eine Katastrophe. Innerhalb Deutschlands beförderte sie das Wachsen der äußerten Rechten und der AFD. Noch immer hallt die „Einladung“ nach: Viele Migranten an Europas Grenzen wollen nach Deutschland – wo sie inzwischen weit weniger willkommen sind als vor sechs Jahren. Als der Druck deswegen zunahm, wurde die Kanzlerin mit ihrer leisen Diplomatie aktiv. Die Transit- und die Heimatländer der Migranten sollten gegen viele Milliarden Euro den Strom aufhalten.

Mit den Jahren wurde die Kanzlerin auf internationaler Ebene als besonnene Verhandlerin mit langem Atem immer wichtiger. Umso mehr vernachlässigte sie aber dringende Probleme im eigenen Land. Das wurde während der Covid 19-Pandemie, die ihre letzten beiden Amtsjahre überschattete, besonders deutlich. Sie duldete einen durch und durch unfähigen Gesundheitsminister Spahn, der es nicht einmal in der Krise nötig fand, die 18 Ehrenamtlichen in der Stiko (ständigen Impfkommission) durch Hauptamtliche zu ergänzen. Nur die Aussagen dieser Kommission werden aber von der Ärzteschaft akzeptiert. Auch im Robert-Koch-Institut (RKI), zuständig für eine ziemlich unübersichtliche Datenlage über Zahl und Art der Infektionen bekamen drei hauptamtlich Angestellte keine weitere Unterstützung. Millionen wurden in Maskendeals verschwendet, Impfstoffe wurden zu spät und in zu kleiner Menge bestellt – und vieles mehr. Merkel schritt nicht ein. Als ähnlich unfähig erwies sich Verkehrsminister Scheuer, der Unmengen an Geld unter anderem in die Organisation einer Maut verschwendete, die schließlich nicht kam. Und dann Europa: Da Angela Merkel es versäumt hatte, mit den anderen Ländern über eine Aufnahme von Migranten zu verhandeln, bevor sie die Schleusen öffnete, bekam sie danach keinen Fuß mehr auf den Boden. Einige Mitgliedsstaaten lehnen bis heute die Aufnahme von Einwanderern ab. Auch das harte Eintreten für deutsche Interessen rief immer wieder Ärger bei den anderen Staaten hervor.

Die CDU unter Merkels Führung verhinderte erfolgreich ein Einwanderungsgesetz, mit dem sich die Zuwanderung hätte regeln lassen. Sie förderte konsequent Banken und Großindustrie, aber nicht den kleinen Mann. Sie versäumte konsequent den Ausbau eines Glasfasernetzes und die Digitalisierung der Behörden. Auch das hatte während der Pandemie katastrophale Auswirkungen; unter anderem die, dass bis heute niemand genau weiß, wie viele Deutsche nun wirklich geimpft sind. Noch schlimmer: Während die Großindustrie mit Milliarden gefördert wurde, gingen in den Lockdowns kleine Selbstständige unter, weil sie durch das Netz der ohnehin niedrigen Unterstützungsleistungen fielen. Die Schulen mit Luftreinigern auszurüsten, war allen Beteiligten zu teuer. So müssen viele Kinder jetzt schon im zweiten Winter bei ständig zur Lüftung geöffneten Fenstern frieren. Mit diesen und ähnlichen Nicht-Aktivitäten hat das für seine Gründlichkeit bekannte Deutschland während der Pandemie ein derart chaotisches Bild abgeliefert, dass es internationalen Spott erntete.

Angela Merkel ist kein charismatischer Mensch. Ihre Reden sind nüchtern, ihr Auftreten zurückhaltend. Aber sie verfolgte in den Anliegen, die ihr wichtig waren, mit langem Atem klare Pläne. Zum Beispiel beim Thema Frauen in hohen Ämtern. Sie, die sich durch männliche Netzwerke hatte hindurch kämpfen müssen, arbeitete daran, ähnliche Netzwerke für und mit Frauen zu etablieren. Sie förderte Frauen und sorgte immer wieder dafür, dass sie in Spitzenämter kamen; so wurde etwa Ursula von der Leyen, die als Verteidigungsministerin kein gutes Bild abgegeben hatte, auf ihre Initiative hin Präsidentin der EU-Kommission. Annegret Kamp-Karrenbauer scheiterte zwar als CDU-Vorsitzende. Aber als Verteidigungsministerin arbeitete sie lautlos – ihre Verbindung zu den Soldaten war stimmig. Auch ihre politische Karriere endete mit dem Zapfenstreich: Kramp-Karrenbauer zieht sich aus der Politik zurück. Angela Merkel und AKK verbindet eine empathische Persönlichkeit und leises Auftreten. Die Beziehung zur sehr ehrgeizigen, lauten Julia Klöckner, die Merkel ins Amt der Landwirtschaftsministerin hievte, schien mit der Zeit zu erkalten. Dennoch durfte sich auch Klöckner große Fehler leisten, ohne dass Merkel einschritt.

Im letzten halben Jahr ihrer Amtszeit war die 66jährige innenpolitisch kaum noch wahrnehmbar, dafür außenpolitisch umso aktiver. So konnte es geschehen, dass ihre noch im Amt befindliche Ministerriege, statt sich bis zum Regierungswechsel mit der innenpolitischen Pandemiekrise zu beschäftigen, auf Opposition umschaltete und der noch nicht gebildeten Ampel-Regierung lauthals Versäumnisse vorwarf, die sie selbst verschuldet hatte.

Dieser Missklang wird im Laufe der Zeit sicherlich in Vergessenheit geraten. „Wir werden sie noch vermissen“, kommentierte die ARD zum Abschied der Bundeskanzlerin. Das kann sehr gut schnell so werden. „Mutti“ stand für Verlässlichkeit, wenig Experimente und damit im Auge der Mehrheit der Bevölkerung für Sicherheit. Die neue Regierung will andere Wege einschlagen. Wie erfolgreich sie sein werden, wird man abwarten müssen.

Wie versteinert wirkte das ungewöhnlich stark geschminkte Gesicht der scheidenden Kanzlerin, während Gäste und Soldaten ihr die Ehre erwiesen. Nur bei den selbst ausgesuchten Musikstücken wurden ihre Augen ein wenig feucht – es mag Bedauern gewesen sein über eine lange vergangene Jugend in einem untergegangenen politischen System, Erinnerung an große innere und äußere Kämpfe – und Dankbarkeit für ein außergewöhnliches Leben. Rundlicher ist sie geworden in den Jahren. Fast zur Uniform mutierten ihre unzähligen, alle gleich geschnittenen Blazer über Hosen in allen denkbaren Farben – zum Jahreswechsel gern schimmernd. Immer gleich auch die Kanzlerinnenfrisur mit den gezähmten, glatten Haaren. Tief in ihre Züge eingeschnitten haben sich die Anstrengungen des Amtes, die vielen Reisen und nächtlichen Konferenzen, die Müdigkeit nach elend langen Tagen. Aber eins ist geblieben: Ihr strahlend schönes Lächeln. Mit genau dem entnahm sie am Ende der Zeremonie den beiden Behältern mit wundervollen, langstieligen Rosen, die das Rednerpult umrahmten, genau eine für sich selbst – und eine weitere für AKK. Dann stieg sie in die Limousine und entschwand in der Dunkelheit.

Isegrims Familienleben: Zu Gast beim Wolfsrudel Kempfeld

Was macht Wölfe so faszinierend?

Es ist die Intensität. Sie liegt in ihrem Blick und bestimmt ihr gesamtes Verhalten. Es ist die Wachsamkeit. Sie ist unglaublich – intensiv. Es ist ihr Rudelverhalten. Es ist achtsam, autoritär und gleichzeitig sehr liebevoll. Kein Mitglied im Rudel bleibt allein – auch nicht das Omega-Tier. Es wird erst kräftig dominiert – und dann beschmust. Intensiv. Und trotz der Bindung ans Rudel ist es die Freiheit. Sie lebt in ihrem Wesen. Wölfe sind selbstbestimmt. Sie ordnen sich in ihr Rudel ein – aber nicht dem Menschen unter.

Hawk heißt der Anführer des inzwischen sechsjährigen Rudels europäischer Wölfe im Hochwildschutzpark Kempfeld. Hawk wie Habicht – ein Name, der wunderbar zu dem Rüden mit den scharfen, ausdrucksstarken Augen passt. Drei Stunden lang hatten wir am Sonntag Zeit, ihn und sein Rudel ganz in Ruhe zu beobachten und zu fotografieren. Timber, Odin und Lady vervollständigen die Wolfsfamilie, die in großer Harmonie zusammen lebt.

Nur der obere Teil ihres Reviers ist einsehbar. Wenn die Tiere ruhen wollen, können sie sich völlig ungestört weiter unten im Unterholz der hohen Bäume niederlassen. Es gibt eine Höhle, verschieden hohe Hügel, eine Wasserstelle mit Frischwasser und eine Art Badewanne. Damit wir bei gutem Licht fotografieren können, wird die Fütterung vorgezogen. Sie ruft die Tiere in Sekundenschnelle nach oben, und dann gibt es was zum Staunen. Zuerst werden deutlich Zähne gefletscht, dann verzehrt der Leitwolf in aller Ruhe einen Vogel, der vor allem aus Federn besteht. Er hat ihn unter einem Steinhaufen hervorgeholt. „Von gestern aufbewahrt,“ kommentiert grinsend ein Pfleger. Federn, Füße – egal: Alles wird runtergewürgt.

Nach dem Essen ist eine Runde ausführliches Schmusen angesagt – jede(r) mit jedem. Nur einer findet nicht die richtige Ruhe: Hawk ist abwechselnd damit beschäftigt, den anderen zu zeigen, dass er der Chef ist, und auf alles aufzupassen, was das Rudel bedrohen könnte. Am entspanntesten ist Lady, die einzige Fähe der Gruppe. Sie ist vergleichsweise zierlich, elegant und vor allem entspannt. Ganz klar, sie gehört zu Hawk. Aber das hindert sie nicht daran, das Omega-Tier mit ihrer Zärtlichkeit glücklich zu machen, und auch nicht daran, die Zaungäste genau unter die Lupe zu nehmen. Sie spaziert vor ihnen auf und ab, scheint zu lächeln, zum Spiel einzuladen.

Angesagt ist so ein Spielversuch jedoch nicht. Auch wenn die Jungwölfe einst von Hand aufgezogen wurden, sind sie heute so wild, wie es ein geschlossenes Gatter möglich macht. So wird dringend davon abgeraten, etwa die Hand durch den Zaun zu stecken.

Nachdem die vier in allen möglichen Konstellationen geruht, geschmust haben und patrouilliert sind, ziehen sie sich zurück: Der volle Magen fordert seinen Tribut. Zeit für unsere siebenköpfige Gruppe, ein wenig über Kameras und Objektive zu fachsimpeln. Lange dauert die Ruhe nicht: Immer wieder ziehen Zaungäste die Aufmerksamkeit der Wölfe auf sich. Schon um 16 Uhr beginnt das sanfte Licht des letzten Oktobertages zu schwinden. Nach der Sommerzeit, die soeben geendet hat, wäre es ja auch schon 17 Uhr. Wie schnell die Stunden vergangen sind!

Auf dem Rückweg zum Auto hören wir sie: Von vier verschiedenen Standorten aus heulen sie ihre Liebe und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl aus vollem Herzen in den aufziehenden Nebel. Schließlich sehen wir ihn. Auch mit dem Teleobjektiv nur ganz klein einzufangen, wacht Hawk auf einem der Hügel über seine Familie. Er hat uns alle scharf im Blick. Der mystische Gesang der verschworenen Gemeinschaft begleitet uns noch lange und verankert sich tief im Herzen. Was für ein schöner Tag…

Siehe auch: Faszinierende Wölfe: Lady und ihre Brüder

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt

und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Transzendieren in) „Stufen“ von Hermann Hesse

Sami Sadat: „Wir haben sehr wohl gekämpft – aber wir wurden verlassen und verraten“

In der New York Times steht der Bericht eines Mannes, der anhand unzähliger Belege zusammenfasst, wie es aussieht, wenn die USA ihr Interesse an einem Land verlieren, hier an Afghanistan. Es ist ein schreckliches Zeugnis einer Geschichte des Verrats, die im Februar 2020 von Donald Trump in die Wege geleitet und im Sommer 2021 von Präsident Joe Biden umgesetzt wurde. Es belegt die widerliche Lüge, dass die afghanischen Soldaten nicht für ihr Land gekämpft hätten und zeigt auf, wie von ganz oben geplant, der Armee Schritt für Schritt die Handlungsmöglichkeiten genommen wurden – zum Vorteil der Taliban. Er zeigt auch das ebenso erschreckende Maß an Korruption im Lande selbst auf, zuvörderst beim gewählten Präsidenten und dessen hemmungsloser Vetternwirtschaft.

In den Links finden sich diverse Dokumente, wie etwa der Vertrag der USA mit den Taliban im Wortlaut, außerdem Berichte der New York Times, die belegen, dass der Mann die Wahrheit sagt. Leider kann man es jetzt nur noch aufschreiben und sich gut merken: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.

Sami Sadat ist General in der afghanischen Armee, die angeblich das Land kampflos den Taliban überlassen hat.

In der New York Times veröffentlicht er seine und die Sicht seiner Soldaten: „Wir wurden verraten“.

„In den letzten dreieinhalb Monaten habe ich Tag und Nacht nonstop in der südafghanischen Provinz Helmand gegen eine eskalierende, blutige Taliban-Offensive gekämpft. Obwohl die Attacken ständig zunahmen, hielten wir die Taliban zurück und konnten eine hohe Zahl von Gefallenen verhindern. Dann wurde ich nach Kabul gerufen, um die Spezialkräfte der afghanischen Armee anzuführen. Aber die Taliban kamen schon in die Stadt; es war zu spät.

Ich bin erschöpft. Ich bin frustriert. Und ich bin wütend.

Präsident Biden sagte letzte Woche, dass Amerikaner nicht in einem Krieg kämpfen und sterben sollten, in dem die afghanischen Kräfte nicht für sich selbst einstehen. Es ist richtig, dass die afghanische Armee ihren Kampfwillen verloren hat. Der Grund dafür war das zunehmende Gefühl, von unseren amerikanischen Partnern verlassen worden zu sein, dazu Respektlosigkeit und Illoyalität, die aus Herrn Bidens Ton und seinen Aussagen der letzten Monate sprach. Die afghanische Armee ist nicht fehlerfrei. Sie hatte ihre Probleme – Vetternwirtschaft, Bürokratie – aber wir haben endgültig aufgehört zu kämpfen, weil unsere Partner schon längst damit aufgehört hatten.

Es tut mir weh, zu sehen, wie Herr Biden und der gesamte Westen der afghanischen Armee die Schuld zuweisen, ohne die Gründe zu erwähnen, aus denen sie aufgab. Politische Meinungsverschiedenheiten in Washington und Kabul erstickten unsere Armee und begrenzten die Möglichkeiten, unsere Aufgaben zu erfüllen. Die logistische Unterstützung der Amerikaner im Kampf zu verlieren, lähmte uns ebenso wie die fehlende klare Führung durch die USA und die afghanische Regierung.

Ich bin ein drei-Sterne-General in der afghanischen Armee. Ich habe elf Monate lang 15 000 Männer im Kampf gegen die Taliban im Südwesten des Landes angeführt. Ich habe hunderte Offiziere und Soldaten verloren. Deshalb, so erschöpft und frustriert wie ich bin, will ich die Perspektive aus der Praxis aufzeigen und die Ehre der afghanischen Armee verteidigen. Ich bin nicht hier, um die afghanische Armee von allen Fehlern frei zu sprechen. Aber Tatsache ist: Viele von uns haben tapfer und ehrenhaft gekämpft, nur um dann von den Amerikanern und der afghanischen Regierung im Stich gelassen zu werden.

Vor zwei Wochen, während wir um die Stadt Lashkar Gah im Süden gegen die Taliban kämpften, ernannte mich Präsident Ashraf Ghani zum Kommandeur der afghanischen Spezialkräfte, der am besten ausgebildeten Elitesoldaten. Widerstrebend habe ich meine Truppen verlassen und kam in Kabul am 15. August an, bereit zu kämpfen, aber nicht darüber aufgeklärt, wie die Situation inzwischen schon war. Dann übertrug mit Herr Ghani zusätzlich die Aufgabe, für die Sicherheit in Kabul zu sorgen. Aber ich hatte zu keinem Zeitpunkt eine Chance mehr: Die Taliban marschierten ein und Herr Ghani floh aus dem Land.

Hier herrscht ein enormes Gefühl, verraten worden zu sein. Herrn Ghanis übereilte Flucht beendete die Möglichkeit, mit den Taliban ein Interimabkommen für die Zeit des Übergangs zu verhandeln, das uns in die Lage verletzt hätte, Kabul zu halten und bei der Organisation der Evakuierungen zu helfen. Statt dessen entstand Chaos, das zu den verzweifelten Szenen am Kabuler Airport führte. Als Antwort auf diese Szenen sagte Herr Biden am 16. August, die afghanische Armee sei zusammengebrochen, „manchmal ohne den Versuch, zu kämpfen.“ Aber wir haben gekämpft, und zwar tapfer, bis zum Ende. Wir haben in 20 Jahren 66 000 Männer verloren. Das ist ein Viertel unserer geschätzten Kampfkraft.

Also warum ist die afghanische Armee zusammengebrochen? Die Antwort besteht aus drei Teilen:

  1. Der Friedens-Deal des früheren Präsidenten Trump im Februar 2020 mit den Taliban in Doha gab uns verloren. Es setzte ein Abzugsdatum, das im amerikanischen Interesse lag.
  2. Wir verloren die Kampf-Logistik und die Unterstützung bei der Wartung, beide unerlässlich für unsere Kampfeinsätze.
  3. Die endemische Korruption in Herrn Ghanis Regierung floss über in die militärische Führungsebene, lähmte unsere Streitkräfte und war eine irreparable Fußfessel für uns.

Das Trump-Taliban-Abkommen schrieb die Umstände der gegenwärtigen Situation fest und beschnitt die Optionen des Angriffskampfes für die Truppen der USA und der Alliierten. Die Vorgaben für die US-Luftunterstützung der afghanischen Truppen änderten sich über Nacht, und die Taliban wurden gestärkt. Sie konnten den Sieg schon riechen und wussten, sie mussten nur noch warten, bis die Amerikaner verschwinden. Vor diesem Vertrag hatten die Taliban keinen einzigen wichtigen Kampf gegen die afghanische Armee gewonnen. Und danach? Wir verloren Dutzende von Soldaten täglich.

Dennoch kämpften wir weiter. Aber dann bestätigte Herr Biden im April, dass er Herrn Trumps Plan beibehalten würde und setzte ein Datum für den Abzug. Das war der Moment, ab dem es nur noch abwärts ging.

Die afghanischen Kräfte waren von den USA auf das amerikanische Militärmodell trainiert worden, das auf hochtechnisierten Aufklärungsmodellen, Hubschraubern und Luftangriffen basiert. Wir verloren unsere Überlegenheit, als die Unterstützung aus der Luft austrocknete und unsere Munition zuende ging. Subunternehmer warteten unsere Bomber, Angriffs- und Transportflugzeuge. Als es Juli wurde, waren die meisten der 17 000 Wartungskräfte verschwunden. Jedes technische Problem kostete nun Fluggerät: Black Hawk helicopter, C-130 Transporter, Überwachungsdronen blieben am Boden.

Das Wartungspersonal nahm Software und Waffensysteme mit. Sie nahmen unser Helikopter-Bombenabwehrsystem mit. Wir hatten keinen Zugang mehr zur Software, die wir brauchten, um unsere Fahrzeuge und das Personal zu orten. Auch die Echtzeitinformationen über unsere Ziele waren weg.

Die Taliban kämpften mit Scharfschützen und improvisierten Bomben, während wir Luft- und Laser-gestützte Waffenfähigkeit verloren. Und da wir unsere Basen ohne Luftunterstützung nicht versorgen konnten, fehlten den Soldaten oft die nötigen Tools, um zu kämpfen. Die Taliban überrannten viele Standorte, ganze Einheiten ergaben sich.

Herr Bidens totaler und beschleunigter Rückzug verschlimmerte die Situation noch. Die Situation am Boden wurde ignoriert. Die Taliban hatten ein sicheres Enddatum und fürchteten in der Zwischenzeit keine militärische Vergeltung; sie spürten den fehlenden Willen der USA dazu. Und so liefen die Taliban zur Hochform auf. Meine Soldaten und ich überstanden bis zu sieben Bombenanschläge am Tag auf unsere Fahrzeuge den ganzen Juli hindurch und die erste Augustwoche in der Provinz Helmand und standen trotzdem mit beiden Füßen fest auf dem Boden.

Ich kann aber auch den dritten Faktor nicht ignorieren. Alles, was die Amerikaner tun konnten, war begrenzt durch die sehr gut dokumentierte Korruption, die unsere Regierung und das Militär verrotten ließ. Das ist wirklich unsere nationale Tragödie. So viele unserer Anführer – das Militär eingeschlossen – kamen aufgrund von Beziehungen an ihr Amt, nicht wegen ihrer Referenzen. Diese Vereinbarungen hatten einen zerstörerischen Effekt auf die Armee, weil die Anführer nicht die militärische Erfahrung hatten, um effizient zu sein oder das Vertrauen der Männer zu wecken, von denen sie erwarteten, dass sie ihr Leben einsetzen. Unterbrechungen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Treibstoff, ein Resultat der korrupten, den Rahm abschöpfenden Vertragsbedingungen, zerstörten die Moral meiner Truppen.

Die letzten Tage des Kampfes waren surreal. Wir waren in intensiven Feuergefechten am Boden gegen die Taliban, und über uns kreisten US-Kampfjets, die der Situation zusahen. Nur die Frustration der US-Soldaten, die gezwungen waren, uns zuzusehen ohne zu helfen, und die sie an uns weiterleiteten, war vergleichbar mit unserem eigenen Gefühl, verlassen und verraten worden zu sein. Im Feuersturm der Taliban hörten unsere Soldaten die Jets und fragten, warum sie uns nicht halfen. Die Moral war zerstört. Überall in Afghanistan hörten Soldaten auf zu kämpfen. Wir konnten Lashkar Gah in harten Kämpfen halten, aber als der Rest des Landes fiel, hatten wir keinerlei Unterstützung mehr und zogen uns auf die Basis zurück. Mein Korps, das auch die Stellung gehalten hatte, nachdem ich nach Kabul gerufen worden war, war eins der letzten, das aufgab – und das erst, nachdem die Hauptstadt gefallen war.

Wir sind verraten worden: von der Politik, von den Militärs.

Das war nicht nur ein afghanischer Krieg; er war international, und unzählige Armeen waren daran beteiligt. Für eine einzige Armee wie die unsrige wäre es unmöglich gewesen, die Aufgabe zu übernehmen und zu kämpfen. Es war eine militärische Niederlage, aber ihr Ursprung war politisches Versagen.“

Siehe auch: Blamables Ende der Mission Afghanistan – die Pseudo-Moral des Westens ist eine Schande

Blamables Ende der Mission Afghanistan: Die Pseudo-Moral des Westens ist eine Schande

Der Westen hat seine Ehre verloren, und Deutschland ist ganz vorn dabei.

Der Westen und Deutschland haben in Afghanistan so viel Vertrauen verspielt, dass es noch über Jahrzehnte nachklingen wird. Er ist in Afghanistan einmarschiert, obwohl ihn niemand darum gebeten hatte und wollte dort eine Demokratie einführen, die ebenfalls niemand haben wollte. Nach 20 Jahren Besatzung eines Landes hatte keiner der Entscheidungsträger eine Ahnung, wie dieses Volk wirklich tickt, was die Menschen wollen und was nicht.

Als am 15. August „ganz plötzlich“ die Taliban in Kabul einmarschierten, fielen sämtliche Regierungen aus allen Wolken; hatten sie doch gedacht, es würde viele Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis die Steinzeit-Muslime das Land zurück erobern. Ja, sie hatten eigentlich auch erwartet, dass die von ihnen aufgebaute Armee das Land gegen sie verteidigen würde. Ein erbärmlicher, planloser Rückzug, nach dem tausende einheimischer Mitarbeiter kaum eine Chance haben, noch ausgeflogen zu werden, sorgte für Schock und Wut rund um den Globus. Auch eine Woche später bleiben noch geschätzt 60 000 Angehörige zahlreicher Nationen und deren einheimische Helfer auszufliegen. Und das wird täglich schwieriger.

Staaten, die sich so verhalten, können sich des Spotts ihrer Feinde sicher sein. Besonders China zeigt offen seine Schadenfreude und seine Absicht, das entstandene Vakuum künftig „freundschaftlich“ auszufüllen. Staaten, die auftreten wie der Westen in Afghanistan, verlieren jeden Anspruch moralischer Überlegenheit. Regierungen wie die deutsche, die ihre Wähler gezielt belügen, die täuschen, die Wahrheit verschleiern und schwarze Peter wie kleine Kinder hin und her schieben, haben auch im eigenen Land kein Vertrauen mehr verdient.

Am 7. Oktober 2001, gut drei Wochen nach dem noch immer umstrittenen Angriff auf das World Trade Center, hatten die USA Afghanistan als Hort muslimischer Terroristen ausgemacht und marschierten in das Land ein. Ihre Alliierten, vorn dabei Deutschland, folgten wenig später. Tatsächlich hielten sich Al Kaida-Führer Osama bin Laden und seine Anhänger, denen der Anschlag zugeschrieben wurde, auch immer wieder in Afghanistan auf. Im Mai 2011 wurden er und seine Familie von Elitesoldaten der USA im Nachbarland Pakistan getötet. Der offizielle Grund für die Besatzung Afghanistans war damit weg gefallen. Aber die erklärte Absicht, eine stabile Demokratie einzuführen, wollte partout nicht gelingen. In einem Land, das traditionell von regionalen Stämmen regiert worden war, hatte der Westen eine Zentralregierung eingesetzt, die unter anderem nach Gutdünken ausgesuchte Gouverneure in die Regionen entsandte.

Die Zentralregierung sollte das Land verteidigen können. Also musste eine Armee her. Während die Deutschen die Soldaten vorwiegend schulten, rüsteten die Amerikaner sie mit modernstem Material aus: Allradfahrzeuge, moderne Hubschrauber, Flugzeuge und jede Menge Waffen. Den Besatzern war bekannt, dass die Bauern in Afghanistan vor allem vom Opiumanbau leben. Von Haschisch bis Heroin und in höchster Qualität werden jede Menge Drogen exportiert. Daran verdienen die Bauern, die Taliban, die Regierung – und es gab immer wieder Gerüchte, dass die US-Geheimdienste mit verdienten. Wikileaks-Gründer Julian Assange bezeichnete im Jahr 2011 den wahren Grund des Afghanistan-Krieges als riesige Geld-Waschmaschine, vorbei an allen westlichen Steuersystemen. Wie dem auch sei: Der Westen unternahm kaum Anstrengungen, dem Opium-Anbau entgegen zu wirken, etwa mit alternativen Anbaumöglichkeiten für Bauern.

Gelungen schien in weiten Bereichen dafür das Durchsetzen der Grundrechte für Frauen. Sie hatten fast 20 Jahre lang endlich Zugang zu Bildung und Arbeit. Sie durften ohne männliche Begleitung das Haus verlassen, mussten keine Burka mehr tragen und konnten die massiven Schikanen der Taliban-Herrschaft hinter sich lassen, wenn sie auch nicht so frei wurden, wie noch in den 1960er Jahren. Damals, als Afghanistan noch einen König hatte, trugen die Frauen Minirock und moderne westliche Kurzhaarfrisuren. Auch die Fortschritte der Besatzungszeit sind jetzt wieder verloren. Es wird bereits von der Ermordung von Frauen berichtet, die nach Ansicht der neuen Herrscher nicht genügend bedeckt waren. Der Burka-Verkauf in der Hauptstadt ist in unerwartete Höhen geschnellt.

Während der gesamten Besatzungszeit verübten die Taliban immer wieder Anschläge und verhinderten den Aufbau der Infrastruktur, die benötigt worden wäre, um die Bodenschätze des Landes abzubauen. Zuletzt waren im Rahmen der Mission „Resolute Support“ rund 10.000 Soldatinnen und Soldaten aus 36 NATO-Mitgliedstaaten und Partnerländern in Afghanistan im Einsatz gewesen, darunter zeitgleich etwa 1.100 deutsche Soldatinnen und Soldaten. Die meisten Deutschen waren im internationalen Feldlager in Masar-i-Scharif im Norden des Landes stationiert.

Zeitweilig waren mehr als 5.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten gleichzeitig in Afghanistan; insgesamt dienten 150 000 dort. 59 von ihnen verloren ihr Leben. Die Bundeswehr sollte unter anderem die Sicherheitskräfte Regierung beraten und ausbilden sowie ihre afghanischen und internationalen Verbündeten bei der Luftaufklärung, der Versorgung von Verwundeten und dem Schutz von Objekten unterstützen. Dabei wurde sie auch in Gefechte verwickelt. Mehr als zwölf Milliarden Euro kostete Deutschland der Afghanistaneinsatz von 2001 bis Ende 2020. Diese „einsatzbedingten Zusatzkosten“ enthalten weder die Gehälter der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten noch die Kosten für die Beschaffung von auch für den normalen Bundeswehrbetrieb genutztem Material. Seit 2009 sind nach UN-Angaben über 39.000 Menschen aus der Zivilbevölkerung getötet und über 73.500 verletzt worden. Die USA gaben im selben Zeitraum mehr als zwei Billionen Dollar für den Einsatz vor Ort und die Versorgung der afghanischen Armee mit Waffen und Fahrzeugen aus und verloren rund 2 400 Soldaten.

Um überhaupt zurecht zu kommen, heuerten die Besatzer tausende von örtlichen Hilfskräften an, die übersetzten, Situationen auskundschafteten und vieles mehr. Teilweise wurden sie direkt von der Bundeswehr angestellt, teilweise von Subunternehmen. Allen wurde versprochen, dass man sie, falls es nötig werde, schützen und ausfliegen werde. In Deutschland wurde das währenddessen still und heimlich anders geregelt: Nur die zuletzt beschäftigten und nur die direkt von der Bundeswehr angestellten Menschen sollten Visa bekommen – insgesamt so wenig Menschen wie möglich. Überhaupt war der Regierung sehr daran gelegen, den öffentlichen Blick auf den Afghanistan-Einsatz klein zu halten.

Die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ bietet jetzt Ortskräften, die in Afghanistan bleiben, ein Jahresgehalt als Bleibeprämie an. Ex-Ortskräfte kritisieren die mangelnde Hilfe der Organisation. Laut einer Rundmail des Afghanistan-Büroleiters Heinrich-Jürgen Schilling können nur jene den Antrag auf Ausreise stellen, die in den vergangenen zwei Jahren für die GIZ gearbeitet haben. Hunderte, die in der Zeit vor 2019 für die Organisation tätig waren, sind davon ausgeschlossen – egal, wie gefährdet sie sind.

Die Bundesregierung, so Vizekanzler Olaf Scholz, sei zurzeit zusammen mit den Amerikanern im Gespräch mit den Taliban über sichere Ausreisen auch nach dem 31. August. Diese lehnen ein Bleiben der ausländischen Soldaten über den 31. August hinaus kategorisch ab und drohen bei so einer „Fortsetzung der Besatzung“ mit Konsequenzen.

In den USA machte sich mit den Jahren und mehreren weiteren Angriffskriegen im Nahen Osten Kriegsmüdigkeit breit. Unter Präsident Donald Trump nahm man im Herbst 2020 in Doha/Katar Verhandlungen mit den Taliban über einen Abzug der Truppen auf – die Regierung Afghanistans war nicht dabei. Auch über Bildung oder Frauenrechte wurde nicht gesprochen. Einzige Bedingung Trumps für den Abzug: Die Taliban sollten die Soldaten der USA und ihre Verbündeten dabei nicht angreifen. Präsident Joe Biden erbte das Abkommen und kündigte wenige Wochen nach seiner Amtseinführung den Abzug der US-Truppen bis spätestens 11. September 2021 an. Damit waren die übrigen Länder ebenfalls gezwungen, ihren Abzug vorzubereiten. Bereits Ende April war der Abzug in vollem Gang. Die USA setzten auf Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, um die Situation nach dem Abzug vorzubereiten. Die traten jedoch auf der Stelle, nachdem klar war, dass die Besatzer ohne weitere Bedingungen abziehen würden. Er habe Vertrauen in die afghanischen Streitkräfte, erklärte Biden dennoch. Die Ziele in Afghanistan seien erfüllt.

Der Abzug der Bundeswehr war bereits am 16. Juli 2021 abgeschlossen. Für die Ortskräfte war bis dahin kein Finger krumm gemacht worden. Ein Antrag der Grünen im Juni, diese jetzt zügig auszufliegen, wurde von der Groko mit den Stimmen der AFD abgelehnt. Die FDP enthielt sich. Anfang August war der US-Abzug zu 95 Prozent abgeschlossen. Am 31. August soll er beendet sein. Seit Beginn des internationalen Abzugs hatten die Taliban in immer schnellerer Folge immer mehr Gebiete im Land unter ihre Kontrolle gebracht. Währenddessen stockte auch in den USA der Ausflug der Ortskräfte. Die Erteilung der nötigen Visa zog und zog sich.

Die Geheimdienste warnten die US-Regierung deutlich, dass es einen plötzlichen Zusammenbruch Kabuls geben könnte, da die dortige Regierung auf die Gewalt der Taliban nicht vorbereitet und das Risiko, dass die Verteidigung durch die Armee zusammenbrechen würde, groß sei. Aber Präsident Biden bestand darauf, dass man der afghanischen Regierung und der Armee vertraue und nicht damit rechne, dass Kabul in nächster Zeit fallen könnte. Fast die gleichen Worte verwendete der deutsche Außenminister Heiko Maas, als er sagte: „Wir alle, die Geheimdienste und die internationale Gemeinschaft haben uns geirrt.“

Es kam noch schlimmer als befürchtet. In Windeseile zogen gut organisierte Taliban-Kämpfer ins Land, nahmen innerhalb weniger Tage alle größeren Städte ein. Armee und Gouverneure händigten ihnen Waffen und Material der Nato kampflos aus, und der Marsch auf Kabul begann. In den letzten Tagen und Wochen hatte auch die deutsche Botschaft eindringlich gewarnt, dass die Zeit dränge und man sich vorbereiten müsse, sowohl die Botschaft zu evakuieren, als auch die vielen einheimischen Hilfskräfte in Sicherheit zu bringen.

Aber in Deutschland geschah – wie so oft – NICHTS. Kein einziges Visum wurde für die Ortskräfte ausgestellt, man berief sich darauf, dass die afghanische Regierung angeblich niemand ohne Reisepass ausreisen lassen wolle und das eben seine Zeit brauche. CSU-Innenminister Seehofer war noch Tage vor dem Ende der Meinung, Afghanen ohne Aufenthaltserlaubnis in ihr Heimatland abschieben zu können. Am Samstag, 15. August marschierten die Taliban in Kabul ein und verloren keine Zeit: Sie kontrollierten die Häuser, sammelten die Waffen der Bevölkerung ein, da ja nun der Krieg zuende sei, und erklärten die Islamische Republik Afghanistan.

Wenige Stunden zuvor hatte der amtierende Präsident Mohammad Aschraf Ghani Ahmadsai eine Rede ans Volk gehalten, die beruhigend wirken sollte. Danach flüchtete der Mann in die Vereinigten Emirate und hatte dabei laut Zeugen ungewöhnliche Probleme: Er hatte offenbar derart viel Bargeld dabei, dass es nicht gelang, alles in einen Helikopter zu stopfen. Aus den Emiraten dementierte er, Bargeld mitgenommen zu haben und kündigte an, in sein Land zurück kehren zu wollen.

Am Abend saßen die Taliban auf dem Platz, von dem morgens der Präsident gesprochen hatte. Einer ihrer Führer: Abdul Ghani Baradar, der auf Wunsch Donald Trumps 2018 nach acht Jahren aus einem Gefängnis in Pakistan entlassen wurde. Dabei auch Gholam Ruhani, der sechs Jahre in Quantanamo verbracht hat. Alle verhielten sich demonstrativ gelassen, betonten, keine Rache zu suchen, sprachen eine Amnestie für die Mitarbeiter der bisherigen Regierung aus und versprachen auch den Ortskräften, dass ihnen nichts geschehen werde. Sogar Frauen dürften arbeiten und zur Schule gehen, hieß es, solange sie die Gesetze der Scharia befolgen. Gleichzeitig richteten die Taliban allerdings auch ein Gefängnis ein, in dem 24 Stunden später bereits einige hundert Personen eingesessen haben sollen.

Nun brach in Kabul Panik aus. Am Sonntag morgen ging auf den Straßen nichts mehr: Sie waren restlos verstopft, teils auch von Wagen, deren Besitzern zu Fuß weiter Richtung Flughafen liefen. Dort wurde die Lage zunehmend unübersichtlich: US-Soldaten mussten Waffen einsetzen, um wenigstens den militärischen Teil des Airports verteidigen zu können. Der private Flugverkehr wurde ausgesetzt, und tausende Einheimische trafen ein, um auszufliegen, egal wie, wohin und mit wem. Einige kletterten auf ein großes US-Transportflugzeug, andere hielten sich an den Seiten fest. Hubschrauber stiegen auf, um die Menschen von diesen todbringenden Plätzen zu vertreiben, aber drei von ihnen hielten sich weiter an den Seiten fest. Entsetzt sah man am Boden, wie ihre Körper wenig später in großer Höhe den Halt verloren und abstürzten. Einer der drei war offenbar der 19jährige Jugendfußballer Zaki Anwari, Mitglied der Jugend-Nationalmannschaft.

Sonntags hatte tatsächlich sogar die deutsche Regierung den Ernst der Lage erkannt. Man tagte und beschloss, nun aber zügig „schon am Montag“ zwei Flugzeuge zu schicken, um die Deutschen und ‚einige Ortskräfte‘ zu retten. Da waren die deutschen Botschaftsmitarbeiter immer noch in ihrem Gebäude, weil sie keine andere Anordnung erreicht hatte. Gegen Mittag wurde die Lage aber eindeutig zu brenzlig. Das deutsche Personal flüchtete sich in die US-Botschaft und kam mit Hilfe der Amerikaner zum Flughafen.

Allein in Kabul, ohne die anderen Standorte, warteten zu diesem Zeitpunkt etwa 350 Ortskräfte plus Familien, die die Deutschen unterstützt hatten. Es war das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, gegründet von bundesdeutschen Soldaten, das für sie drei Safe-Häuser eingerichtet hatte. Dessen Leiter, Marcus Grotian, der selbst im Afghanistan-Einsatz gewesen war, hatte Mühe, in Interviews seine Fassung zu wahren. Am Sonntag mussten die drei Häuser aufgelöst werden, gerade drei Stunden bevor die Taliban an die Tür klopften, waren die Bewohner in Kabul untergetaucht. Ziel: der Flughafen. Möglichkeit, diesen zu erreichen, nunmehr aber bei null. An allen Straßen dorthin haben die Taliban Kontrollpunkte eingerichtet. Sie halten Autos an und lassen nur Ausländer mit entsprechenden Papieren zum Airport durch. „Die deutsche Regierung hat keine Möglichkeit mehr, sie zu retten„, berichtete „Frontal“.

Bereits am Tag des Einmarsches begannen die Taliban, Namenslisten abzuarbeiten: Sie suchen gezielt nach Menschen, die den ausländischen Streitkräften behilflich waren. Finden sie welche, müssen diese vor einer Kommission über ihre Arbeit berichten. Tun sie das nicht, werden ihre Familienangehörigen nach dem Gesetz der Scharia verurteilt.

KSK-Dolmetscher Ahmadi ärgerte sich in einem Video auf twitter: „Wenn die Deutschen uns vor einem Monat oder zumindest vor zwei Wochen gesagt hätten, dass wir euch nicht mitnehmen, dass wir euch nicht helfen, dann hätten wir zumindest nach Pakistan fliehen können. Aber jetzt sitzen wir hier und sind einfach festgenagelt.“ In der Tat sind die Landgrenzen in die Nachbarländer Afghanistans inzwischen hermetisch abgeriegelt. Die einzige Möglichkeit, das Land noch zu verlassen, ist in den Militärflugzeugen. So gab es dann am Montag weitere Tote: Einige Menschen waren in einen Fahrwerk-Schacht geklettert, und wurden zerquetscht.

Auch eine Woche nach dem Einmarsch der Taliban weiß niemand genau, wie viele US-Amerikaner oder Deutsche sich noch in Kabul aufhalten, geschweige denn, um wie viele Ortskräfte es sich handelt, die gerettet werden sollten. Die USA gehen davon aus, noch rund 10 000 Staatsangehörige ausfliegen zu müssen, Deutschland rechnet mit knapp 2000 Ortskräften plus Familien. Insgesamt geht es wohl um etwa 60 000 Menschen. Einige Regierungen sind dazu übergegangen, ihre Leute mit Spezialkräften und Hubschraubern an vereinbarten Treffpunkten abzuholen. Auch die Bundeswehr hat inzwischen zwei Hubschrauber vor Ort. Plötzlich können jetzt Ortskräfte auch ohne Visum ausgeflogen werden. Ihre Identität wird erst in Deutschland geprüft – was wiederum öffentliche Angst vor der Einreise von Terroristen auslöste.

Die Taliban, die behaupten, mit den US-Soldaten zusammen zu arbeiten, haben inzwischen nicht nur die Kontrollposten an den Straßen, sondern auch eine ‚Mauer‘ junger, kräftiger Männer vor den Toren des Flughafens aufgebaut, die verhindern, dass Fluchtwillige zu den Eingängen gelangen. Die Enge vor dem Airport ist extrem, eine Woche nach dem Einmarsch sollen sieben Menschen, darunter ein zweijähriges Mädchen, bei einer Massenpanik tot getrampelt worden sein. Weitere etwa 16 Personen sollen durch Schüsse gestorben sein. Die US-Soldaten am Eingang tun ein übriges, um die Situation zu erschweren: Sie wollen oft auch Menschen mit Papieren nicht einlassen, was zu einer Beschwerde Deutschlands führte.

Entsprechend drastisch fallen die Kommentare in den Medien aus, hier von der taz: „Das Imperium hinterlässt erneut einen Trümmerhaufen. 46 Jahre nach der chaotischen Flucht aus Saigon sieht es in Kabul aus, als hätten die USA nichts dazugelernt. Sie sind wieder in ein Land einmarschiert, das sie nicht angegriffen und das sie nicht um Hilfe gerufen hat. Sie behaupteten wieder, sie würden den Terrorismus bekämpfen und eine Nation und eine Demokratie aufbauen. Statt dessen unterstützten sie ein Marionettenregime, das sich nur so lange an der Macht hielt, wie US-Soldaten im Land waren. Sie gaben ihrer eigenen Rüstungsindustrie gigantische Expansionshilfen, zigtausenden Afghanen und tausenden US-Amerikanern den Tod. Am Ende schaffen sie es nicht einmal, jene, die vor Ort für sie gearbeitet haben, vor Verfolgungen zu schützen.“

„Nation Building (Staatsaufbau) war nie geplant“, behauptete am Montag wider besseres Wissen Präsident Biden, der aus dem Sommerurlaub in Camp David zur Pressekonferenz ins Weiße Haus gekommen war. „Wir haben sie ausgebildet und ihnen Waffen gegeben, aber wir konnten ihnen nicht den Willen vermitteln, für ihre eigene Sache zu kämpfen,“ erklärte Biden weiter. „Warum sollen unsere Soldaten für Menschen kämpfen und ihre Leben geben, die nicht einmal bereit sind, für sich selbst einzustehen?“ Warum die Ortskräfte nicht früher gerettet wurden? „Weil die Afghanen selbst es nicht wollten. Sie hofften immer noch für ihr Land“, behauptete der Präsident. Ein Faktencheck von CNN sah das etwas anders: Es mögen einige gewesen sein, die Visa hatten, aber noch zögerten. Tausende dagegen wollten gehen, bekamen aber keine Visa. Deutlich gewarnt hatten auch US-Diplomaten. Tatsache ist außerdem, dass die USA ihren Stützpunkt Bagram verließen, ohne ihre afghanischen Verbündeten darüber zu informieren.

In Deutschland waren die Entschuldigungen der Regierung noch blamabler. „Wir alle haben uns geirrt, auch die internationale Gemeinschaft,“ sagte Außenminister Maas. Die wochenlangen, eindringlichen Warnungen aus der deutschen Botschaft erwähnte der Minister nicht. CDU-Kanzlerkandidat Laschet war schon einen Schritt weiter und betonte, man dürfe kein weiteres Migrantendrama wie 2015 zulassen und müsse dafür sorgen, dass die zu erwartende Flüchtlingswelle in den Nachbarländern bleibe. Man müsse aus der Tragöde Lehren ziehen, kommentierte emotionslos die scheidende Kanzlerin. Allen gemeinsam ist, dass das Thema vor der Bundestagswahl am 26. September am liebsten vermieden worden wäre.

Angst vor einer Flüchtlingswelle hat auch die Türkei: Sie hat begonnen, eine Mauer an ihrer Grenze zum Iran zu errichten, die auch gleich weitere unliebsame Einreisen verhindern soll. Russland und Österreich haben mitgeteilt, dass sie keine Afghanen aufnehmen werden. Australien sprach eine deutliche Warnung aus: „Versucht nicht, per Boot her zu kommen, ihr habt keine Chance auf Erfolg.“

Der frühere Chef des Bundesnachrichtendiensts (BND), Gerhard Schindler fand noch einen ganz anderen Schuldigen: Das deutsche Grundgesetz. Nach der laxen Kampfmoral der örtlichen Regierungstruppen, den beteiligten Bundesministerien, der für alles Verantwortung tragenden Kanzlerin und dem BND soll es Schindler zufolge das Bundesverfassungsgericht sein, das das Gesamtversagen zu verantworten habe. Den Spionen sei ein juristischen Stein nach dem anderen in den Weg gelegt worden. Man dürfe nicht einmal mehr Terrororganisationen mit eigenen Leuten infiltrieren, weil die dadurch eine Straftat begehen. Seit einem Urteil aus dem vergangenen Jahr seien die Taliban „sogar durch unser Grundgesetz geschützt“.

Ist das die Grundhaltung unserer Geheimdienste? Da lernt man sein Land doch mal richtig kennen…

Schneidend sind viele Kommentare in den Medien: AlJazeera machte deutlich, wie genau die Regierungen und kämpferischen Oppositionen im Nahen Osten die Entwicklung in Afghanistan beobachten. Allgemein habe man registriert, dass man sich auf die USA nicht verlassen könne. Dies werde die politische Landschaft auf Dauer verändern. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Analyse der Frankfurter Rundschau.

Die öffentlich-rechtlichen Sender glänzen in der Berichterstattung durch nicht vorhandene Reporter vor Ort. Es ist schon peinlich, jeden Abend in der Tagesschau die in Indien stationierten Asien-Berichterstatter wiederholen zu hören, was den ganzen Tag durch die Nachrichten gelaufen ist. Wieso ist keiner von denen vor Ort? Unwillkürlich stellt sich die Frage: Zahlen wir dafür so hohe Rundfunkgebühren? CNN löschte ein Video seiner Korrespondentin Clarissa Ward. Diese hatte auf twitter gezeigt, wie sie beim Versuch, den Flughafen Kabul zu erreichen, an den Checkpunkten der Taliban scheiterte und mit ihrem Team schließlich ziemlich schnell zum Auto zurück musste, da die Situation gefährlich wurde. „Hier kommt keiner mehr durch“, kommentierte sie. Die ARD-Sendung Monitor zeigte das systematische Fehlverhalten und die Heuchelei der deutschen Regierung deutlich auf:

Führende Generäle sowohl in den USA, als auch in Deutschland zeigten sich irritiert über die Geschwindigkeit, in der die Taliban das gesamte Land übernommen haben und darüber, dass die Armee keinen Widerstand leistete. Bedrückend, wie wenig diese Männer die afghanische Mentalität verstanden haben. Die Einwohner sahen sowohl Regierung, als auch Armee als von außen aufgezwungen und im Dienst von Mächten, die sie nicht im Land haben wollten. Die Taliban dagegen haben aus Erfahrung gelernt: Sie haben die Jahre der Besatzung genutzt, um sich straff durch zu organisieren und ihre Außendarstellung mit professioneller Hilfe freundlicher zu gestalten.

Die Umsetzung funktioniert recht gut, auch wenn die neuen Machthaber nicht auf die staatlichen Finanzreserven zurückgreifen können: Der ins Ausland geflohene Chef der afghanischen Zentralbank, Adschmal Achmady, erklärte, die Taliban hätten lediglich Zugang zu 0,1 oder 0,2 Prozent der Reserven des Landes. Achmady teilte zudem mit, dass die Lieferung von Dollar in das Land „unterbrochen“ sei. Dollar in Form von Bargeld seien dort kaum noch erhältlich. Die Banken sind geschlossen. Viele Afghanen sind nun auf Überweisungen von im Ausland lebenden Familienmitgliedern angewiesen. Der Finanzdienstleister Western Union hat jedoch die Aussetzung von Überweisungen in das Land angekündigt. Der Wert der afghanischen Währung ist seit der Machtübernahme der Islamisten stark gefallen.

Um den Regierungsapparat weiter betreiben zu können, haben die neuen Machthaber inzwischen Minister der alten Regierung um Hilfe gebeten. Offensichtlich sind viele Posten in der neuen Regierung noch offen. Taliban-Führer führen seit Tagen Gespräche mit ausgewählten Persönlichkeiten, zuvorderst mit dem früheren Präsidenten Hamid Karzai und dem früheren Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah. Sie haben zurzeit auch noch andere Dinge zu klären: Es gibt Gerüchte, wonach der afghanische Ableger des Islamischen Staates, der mit den Taliban verfeindet ist, Selbstmordanschläge plant. Und da gibt es noch das widerspenstige Panchir-Tal im Nordosten von Kabul: Die rund 150 000 Einwohner hatten sich schon 1996 erfolgreich gegen eine Machtübernahme der Taliban gewehrt und tun das jetzt wieder: „Pandschiri haben keine Freunde und keine Dienstherren. Wir verhandeln nicht. Wir können es mit jedem aufnehmen, auch mit den Amerikanern.“

Auch im übrigen Land regte sich am Freitag, dem Unabhängigkeitstag, Protest: In Jalalabad entfernten Demonstranten kurzzeitig die Fahne der Taliban und ersetzten sie mit der Nationalflagge. Es gab mehrere Tote. Eine mehrere hundert Meter lange Nationalflagge wurde von jungen Afghanen durch Kabul getragen und später von den Taliban wieder eingesammelt. Auch in anderen Teilen des Landes stoßen die Islamisten weiter auf militärischen Widerstand. Anti-Taliban-Kräfte hätten in der nördlichen Provinz Baghlan drei Distrikte zurückerobert, teilte der bisherige Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi am Samstag abend mit. Mehr als ein Dutzend Taliban-Kämpfer seien getötet worden.

Eisen, Kupfer, Lithium, seltene Erden, Edelsteine, Gold: Afghanistan ist reich an Bodenschätzen. Ihr Wert wird auf mehrere Billionen Dollar geschätzt. Nach der Machtübernahme der Taliban hoffen nun China und andere Länder auf Zugang zu den Rohstoffen. Die Vorräte an Kupfer, Lithium, Eisen, Gold und Kobalt reichen aus, um das von Kriegen und Bürgerkrieg gebeutelte Land zu einem führenden Rohstofflieferanten zu machen. Der US-Geologiebehörde USGS zufolge sind allerdings noch 70 Prozent der Fläche Afghanistans unerforscht. Auch muss die Infrastruktur ausgebaut werden, um fördern zu können. Die China Metallurgical Group hat sich schon 2007 für 30 Jahre die Schürfrechte für den bei Kabul gelegenen Ort Mes Aynak gesichert. Hier lagert das mutmaßlich größte unerschlossene Kupfervorkommen der Welt mit einem geschätzten Wert von 100 Milliarden Dollar. In Gang gekommen ist der Abbau bisher nicht, unter anderem weil die Taliban mit Angriffen drohten. 

Gefürchtet wird Afghanistan als größter Opiumproduzent der Erde. Das Geschäft mit geschätzten 600 Tonnen Heroin steuert etwa 11 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei – die Taliban finanzieren sich auch daraus. Auf Afghanistan entfielen 2019 90 Prozent der Weltproduktion an Opium und 80 Prozent an Heroin. Nach UN-Angaben nahmen die Taliban 2016 160 Millionen US-Dollar aus der Besteuerung der Drogenwirtschaft ein; das sind lediglich 5,4 Prozent des Gesamtwertes von 3 Milliarden US-Dollar. Vor diesem Hintergrund werden sie es verschmerzen, dass der IWF und andere Länder die Entwicklungshilfe, die bisher 43 Prozent des nationalen Haushalts ausmachten, per sofort gesperrt haben. Die meisten Konflikte im Land drehen sich um Landbesitz und Wasser, erklären die Vereinten Nationen. Unter der Erde aber lagern Edelmetalle, Uran, Gas und Öl für mindestens 3 Billionen Dollar. China fördert in Afghanistan Öl. Eine Straße durch das Pamirgebirge soll den Abtransport sichern. Im Land wird der beste Lapislazuli weltweit gefunden, dazu kommen Turmaline und andere Edelsteine von feinster Qualität.

Seit fast 50 Jahren herrscht in Afghanistan politischer Aufruhr.

Seit dem Sturz des letzten Königs Mohammed Zahir Schah im Sommer 1973, so Wikipedia, war das Land politisch instabil. Im April 1978 kam es zu einem Staatsstreich durch afghanische Kommunisten, der einen Aufstand weiter Teile der Bevölkerung nach sich zog. Im Dezember 1979 intervenierte die Sowjetunion militärisch in dem Konflikt und setzte eine neue kommunistische Regierung ein. Mit der sowjetischen Invasion begann ein zehn Jahre andauernder Krieg zwischen sowjetisch gestützter Regierung und von den USA unterstützten Widerstandsgruppen der Mudschahedin, der weite Teile des Landes verwüstete. Nach dem sowjetischen Abzug im Februar 1989 kam es zum innerafghanischen Bürgerkrieg, in dem die zunächst von den USA unterstützten Taliban bis September 1996 die Kontrolle über die wichtigsten Regionen und Städte des Landes übernahmen.

Im Oktober 2001 wurden die Taliban durch eine von den USA geführte NATO-Intervention zugunsten der verbliebenen bewaffneten Opposition gestürzt. Die Führungsebene der Taliban konnte sich durch Rückzug nach Pakistan retten. Sie führte in der Folge Angriffe gegen die afghanische Regierung an.

Die rund 40 Millionen Afghanen setzen sich aus insgesamt 70 Volksgruppen zusammen. Alle verbindet zwar der Islam als gemeinsame Religion, jedoch herrscht eine ausgesprochene Sprachenvielfalt im Land. Die Rolle der Ethnien und Stämme in der afghanischen Staatsbildung und Politik geht auf eine Zeit zurück, als Afghanistan im 18. Jahrhundert im Anschluss an eine neuntägige „Jirga“ (traditioneller Stammtisch) gegründet und die Regierung von Ahmad Shah Abdali konstituiert wurde. Der Chronist der afghanischen Geschichte Mir Mohammad Ghobar schreibt, dass diese „Jirga“ sich aus Khans (Stammesfürsten) der Gheljaeis, Usbeken, Hazaras, Belutschen und Tajiken zusammensetzte. Nach der Machtübernahme durch die Paschtunen wurde die Rolle anderer „Ethnien“ in der Geschichte Afghanistans unbedeutender. Die Paschtunen versuchten, den neuen Staat alleine zu prägen.

Rechtsstaatliche Strukturen werden bis heute von Gewalt und Korruption untergraben. Die Justiz gilt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen. Für demokratische Kräfte blieb auf diese Weise wenig Raum. Das Parlament war wegen des Verbots parteigestützter Fraktionen zersplittert. Konservative und Islamisten leisteten Widerstand gegen als „westlich“ denunzierte Reformen, etwa bei den Menschenrechten. Ex-Mudschaheddin, Ex-Taliban und Ex-Kommunisten im Parlament beschlossen 2008 eine Selbstamnestie für Kriegsverbrechen der Vergangenheit. Im Dezember 2019 von der Washington Post veröffentlichte US-Dokumente, die sogenannten Afghanistan Papers, belegen, dass die US-Führung über die gravierenden Fehlentwicklungen in Afghanistan im Bilde war, aber die Öffentlichkeit falsch unterrichtete (The Washington Post, 9.12.2019).

Ein zentraler Konfliktkatalysator ist der Grenzkonflikt mit dem Nachbarland Pakistan. Afghanistan erkennt die koloniale Grenzziehung mit der sogenannten Durand-Linie von 1893 nicht an. Sie durchtrennt das Siedlungsgebiet der Paschtunen, das historisch zu Afghanistan gehörte. 

All diesen Konflikten und der Korruption setzen die Taliban jetzt eine straffe, gut organisierte Struktur und das Gesetz der Scharia entgegen.

Der Begriff Scharia hat, was den Islam angeht, seinen Ursprung im Koran. Erwähnt wird er dort jedoch nur an einer einzigen Stelle: Sure 45, Vers 18, wo er ursprünglich den Pfad in der Wüste bezeichnet, der zur Wasserquelle führt. Davon leiten Muslime einen göttlichen Ursprung der Scharia ab. In Ahmad ibn Hanbals Musnad tritt das Nomen Scharia im Singular an einer Stelle auf. Dort heißt es, dass „die Gemeinschaft auf dem Scharia (Weg/Pfad)“ bleiben solle. Als Verb taucht scharaʿa an einer Stelle auf: „Gott hat für seine Propheten ein System von Regeln niedergelegt.“

Dabei ist die Scharia keine kodifizierte Gesetzessammlung (wie etwa deutsche Gesetzestexte im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch), sondern eine „Methode der Rechtsschöpfung“. Das Forschen nach der Bedeutung und inneren Logik der göttlichen Gesetze ist nur zulässig, soweit Gott selbst den Weg dazu weist. Somit ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse die Grundtendenz der Scharia. Die religiösen Gesetze werden in den Büchern des Fiqh dargelegt und erörtert.

Zwar ist der Koran die wichtigste Quelle islamischen Rechts. Allerdings enthält er nur wenige Rechtsnormen, ferner einzelne Anweisungen, die lediglich als Grundlage einer allgemeinen, umfassenden Gesetzgebung gelten können. Die Scharia umfasst neben den Rechten von Muslimen auch Nicht-Muslime, die auf islamischem Territorium leben und weniger Rechte als Muslime haben. Die Bedeutung der Scharia nimmt seit etwa Mitte der 1970er Jahre in allen islamischen Ländern wieder kontinuierlich zu. Auch in der Türkei mehren sich politisch einflussreiche Stimmen, die die Rückkehr zum islamischen Scharia-Recht fordern.

Die Strafen der Scharia sind mittelalterlich und führen über das Auspeitschen zum Abhacken von Gliedmaßen bis hin zur Steinigung. Hier ein Beispiel aus den Gesetzbüchern des Iran. In Katar, Jemen und Iran ist die Enthauptung noch heute als Strafe vorgesehen. Der einzige Staat, der jedoch noch Enthauptungen durch das Schwert vornimmt, ist Saudi-Arabien.

Updates:

Studie: Zwischen 38 und 60 Millionen Menschen mussten ihr Zuhause infolge von Angriffskriegen der USA im Nahen Osten verlassen

Der vierte Tag nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul zeigt: Sie haben das letzte Wort.

Die USA beugen sich den Taliban, und mit ihnen der gesamte Westen. Europa mit seinen vielen verschiedenen Staaten, Armeen und Waffensystemen kann ohne die USA die Evakuierungsflüge nicht fortsetzen. Tausende von Ortskräften werden im Land bleiben, wenn sich am 31. August mit dem Abzug aller ausländischen Truppen die Grenzen Afghanistans hermetisch schließen werden. Hier ein Ausschnitt des heute journals, der einmal mehr deutlich macht: Wir stehen vor einer Zeitenwende. Die USA werden nicht mehr lange die führende Weltmacht sein – und Europa wird zum Spielball der Supermächte werden, wenn der Block es nicht endlich lernt, geschlossen und nachdrücklich aufzutreten.

Sami Sadat: „Wir haben sehr wohl gekämpft, aber wir wurden verlassen und verraten“

Die Meere versauern, die Erde brennt, und alle haben massenhaft Zeit…

Der Weltklimarat hat die Ampel auf Rot geschaltet. Aber irgendwie hört niemand richtig zu.

Das Wetter des Jahres 2021 hat es in sich. Schon seit dem Frühjahr zeigt die Wetterkarte extreme Lagen auf: 30 Grad in Sibirien, während Europa auf die ersten warmen Frühjahrstemperaturen wartet – ein ausgesprochen kalter und nasser Sommer in Deutschland, während Südeuropa eine Hitzewelle nach der anderen verzeichnet. Jetzt gibt es Monsterfeuer in Südeuropa, in Sibirien und in den westlichen USA, während vor knapp zwei Wochen im Ahrtal nach Starkregen buchstäblich die Welt unterging.

Vor diesem Hintergrund hat jetzt der UN-Weltklimarat IPCC einen weiteren Teil seines sechsten Weltklimaberichtes vorgelegt. Und der kann wirklich Angst machen:

Die Zeit ist knapp und wird immer knapper: Wenn wir eine Klimaerwärmung von 2 Grad und mehr vermeiden wollen, müssen wir auf der Stelle mit durchschlagenden Maßnahmen beginnen. Rund um die Erde. Tun wir es nicht, wird die Natur uns zeigen, welche Kraft sie hat. Sie wird uns schwitzen lassen, mehr als für unsere Gesundheit gut ist. Sie wird uns mit Starkregen, Wirbelstürmen und Überschwemmungen schlagen, und sie wird brennen. Viele Millionen Menschen sind bereits jetzt in akuter Gefahr. Wenn wir nicht sofort damit beginnen, nachhaltig zu handeln, wird die von uns selbst herbei geführte Situation unumkehrbar sein. Das Ende unserer Zivilisation vielleicht auch.

Insgesamt 740 Fachleute aus 90 Ländern, davon knapp 40 aus Deutschland, haben tausende von Studien ausgewertet, die sich mit den verschiedensten Perspektiven des Klimawandels befassen. Daraus entstehen drei Bände und ein Synthesebericht:

  • WG I – Naturwissenschaftliche Grundlagen des Klimawandels
  • WG II – Folgen des Klimawandels, Verwundbarkeit und Anpassung
  • WG III – Minderung des Klimawandels
  • Synthesebericht – Kernbotschaften der drei WG-Bände und der aktuellen Sonderberichte (SR1.5 (1,5 °C globale Erwärmung), SROCC (Ozean und Kryosphäre), SRCCL (Klimawandel und Landsysteme))

Der sechste Berichtzyklus hat im Oktober 2018 begonnen und endet im Jahr 2022 mit der offiziellen Feststellung der Ergebnisse durch die Staaten der Weltgemeinschaft. Der jetzt veröffentlichte Bericht stellt als allerstes fest:

Der Mensch ist schuld.

Und weiter: Viele Veränderungen sind bereits jetzt auf Jahrhunderte unumkehrbar. Sogar jetzt sofort eingeleitete, scharfe Maßnahmen brauchen mindestens 20 Jahre, bis sie wirksam werden. Das bedeutet: Katastrophale Wetterlagen wie 2021 werden zur Normalität, und dann noch viel schlimmer werden.

Wörtlich heißt es: „Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, den Ozean und die
Landflächen erwärmt hat. Es haben weitverbreitete und schnelle Veränderungen in der Atmosphäre, dem Ozean, der Kryosphäre und der Biosphäre stattgefunden.“

Der Hauptbericht liegt in englischer Sprache vor. Er erläutert anhand zahlreicher Messungen und grafisch aufbereiteter Studien, auf welcher Grundlage die Wissenschaftler dermaßen Alarm schlagen. Für politische Entscheidungsträger gibt es wie jedes Mal eine gesonderte Fassung, gekürzt und in der Landessprache. Weitere Kernaussagen daraus:

„Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus. Seit dem fünften Sachstandsbericht (AR5) gibt es stärkere Belege für beobachtete Veränderungen von Extremen wie Hitzewellen, Starkniederschlägen, Dürren und tropischen Wirbelstürmen sowie insbesondere für deren Zuordnung zum Einfluss des Menschen.

Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen betrachteten Emissionsszenarien bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. 1,1 Grad, regional deutlich mehr, haben wir bereits erreicht, bereits 2030 werden es 1,5 Grad sein. Eine globale Erwärmung von 2 °C wird im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen.

Viele Veränderungen im Klimasystem werden in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden globalen Erwärmung größer. Dazu gehören die Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen, marinen Hitzewellen und Starkniederschlägen, landwirtschaftlichen und ökologischen Dürren in einigen Regionen, der Anteil heftiger tropischer Wirbelstürme sowie Rückgänge des arktischen Meereises, von Schneebedeckung und Permafrost.

Fortschreitende globale Erwärmung wird laut Projektionen den globalen Wasserkreislauf weiter intensivieren, einschließlich seiner Variabilität, sowie der globalen Monsunniederschläge und der Heftigkeit von Niederschlags- und Trockenheitsereignissen.

Die Kohlenstoffsenken in Ozean und Landsystemen werden bei Szenarien mit steigenden CO2-Emissionen laut Projektionen die Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre weniger wirksam verlangsamen.

Viele Veränderungen aufgrund vergangener und künftiger Treibhausgasemissionen sind über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar, insbesondere Veränderungen des Ozeans, von Eisschilden und des globalen Meeresspiegels.

Bei weiterer globaler Erwärmung wird es in jeder Region in zunehmendem Maße zu gleichzeitigen und vielfältigen Veränderungen von klimatischen Antriebsfaktoren mit Relevanz für Klimafolgen kommen. Veränderungen von mehreren Faktoren wären bei 2 °C im Vergleich zu 1,5 °C globaler Erwärmung weiter verbreitet und bei höheren Erwärmungsniveaus sogar noch weiter verbreitet und/oder ausgeprägter.“

Was kann, bzw. muss man nun dringend tun?

„Aus naturwissenschaftlicher Sicht erfordert die Begrenzung der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung eine Begrenzung der kumulativen CO2-Emissionen, wobei zumindest netto Null CO2-Emissionen erreicht werden müssen, zusammen mit starken Verringerungen anderer Treibhausgasemissionen. Eine starke, rasche und anhaltende Verringerung von CH4-Emissionen würde auch den Erwärmungseffekt begrenzen, der sich aus abnehmender Luftverschmutzung durch Aerosole ergibt, und die Luftqualität verbessern.

Szenarien mit niedrigen oder sehr niedrigen Treibhausgasemissionen führen im Vergleich zu Szenarien mit hohen und sehr hohen Treibhausgasemissionen innerhalb von Jahren zu erkennbaren Auswirkungen auf die
Treibhausgas- und Aerosolkonzentrationen und die Luftqualität. Bei einem Vergleich dieser gegensätzlichen Szenarien beginnen sich erkennbare Unterschiede zwischen den Trends der globalen Oberflächentemperatur innerhalb von etwa 20 Jahren von der natürlichen Variabilität abzuheben, bei vielen anderen klimatischen Einflussfaktoren erst über längere Zeiträume hinweg.“

Bereits 2019 hat der Weltklimarat seinen Bericht über die Ozeane und Kryptosphäre (gefrorene Komponenten des Erdsystems) vorgelegt. Ozeane bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche und enthalten etwa 97 Prozent des Wassers der Erde. Etwa 10 Prozent der Landfläche der Erde sind von Gletschern oder Eisschilden bedeckt. Hier einige Kernaussagen:

Heute leben rund 4 Millionen Menschen dauerhaft in der Arktis, 10 Prozent von ihnen gehören indigenen Völkern an. In niedrig gelegenen Küstenzonen leben derzeit rund 680 Millionen Menschen (fast 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2010), schon im Jahr 2050 werden es mindestens eine Milliarde sein. 65 Millionen Menschen leben in kleinen Insel-Entwicklungsländern. Rund 670 Millionen Menschen (fast 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2010), einschließlich indigener Völker, leben in Hochgebirgen auf allen Kontinenten außerhalb der Antarktis. Hier wird die Bevölkerung spätestens im Jahr 2050 740 bis 840 Millionen erreichen (etwa 8,4 – 8,7 Prozent der projizierten Weltbevölkerung).

Es ist praktisch sicher, dass sich der globale Ozean seit 1970 ungemindert erwärmt und mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Wärme im Klimasystem aufgenommen hat. Seit 1993 hat sich die Geschwindigkeit der Ozeanerwärmung mehr als verdoppelt. Die Häufigkeit von marinen Hitzewellen hat sich seit 1982 verdoppelt, und ihre Intensität nimmt zu. Durch die Aufnahme von mehr CO2 ist die Ozeanoberfläche zunehmend versauert. Sauerstoffverlust fand von der Oberfläche bis in 1000 Meter Tiefe statt.

Die Kryosphäre ist weiträumig geschrumpft; dies beinhaltet Massenverluste von Eisschilden und Gletschern, Rückgänge der Schneebedeckung und der arktischen Meereisausdehnung, sowie erhöhte Permafrosttemperaturen.

Der mittlere globale Meeresspiegel steigt an; in den letzten Jahrzehnten beschleunigte sich dieser Anstieg sowohl aufgrund der zunehmenden Geschwindigkeit von Eisverlusten des grönländischen und der antarktischen Eisschilde, als auch aufgrund des anhaltenden Gletschermassenverlusts und der thermischen Ausdehnung des Ozeans.

Dies hat vom Äquator bis zu den Polen zu Verschiebungen in Artenzusammensetzung, Populationsdichte und Biomasseproduktion von Ökosystemen geführt. Veränderte Wechselwirkungen zwischen Arten haben zu kaskadenartigen Folgen für die Struktur und Funktionsweise von Ökosystemen geführt. In manchen Meeresökosystemen sind Arten sowohl von den Folgen von Fischereipraktiken als auch vom Klimawandel betroffen. Küstenökosysteme werden durch die Erwärmung des Ozeans beeinträchtigt. Folgen für die Größe von Lebensräumen und die Biodiversität sowie für Ökosystemfunktionen und -leistungen werden bereits beobachtet.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat die schrumpfende Kryosphäre in der Arktis und in Hochgebirgsregionen zu überwiegend negativen Folgen für Ernährungssicherheit, Wasserressourcen, Wasserqualität, Lebensgrundlagen, Gesundheit und Wohlergehen, Infrastruktur, Verkehr, Tourismus und Erholung sowie für die Kultur menschlicher Gesellschaften geführt, insbesondere für indigene Völker.

Veränderungen im Ozean haben sich mit regional unterschiedlichen Resultaten auf marine Ökosysteme und deren Leistungen ausgewirkt, was deren Management und Steuerung erschwert. Die Folgen für Ökosystemleistungen haben negative Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlergehen sowie auf von der Fischerei abhängige indigene Völker und lokale Gemeinschaften. Die Küstenbevölkerung ist einer Vielzahl klimabedingter Gefahren ausgesetzt, darunter tropische Wirbelstürme, extreme Meeresspiegel und Überschwemmungen, marine Hitzewellen, Meereisverlust und Tauen von Permafrost. All diese Entwicklungen werden bis 2050 deutlich zunehmen.

Laut Projektionen wird der Ozean im Laufe des 21. Jahrhunderts einen Übergang zu noch nie dagewesenen Bedingungen vollziehen, mit erhöhten Temperaturen, stärkerer Schichtung im oberen Ozean, weiterer Versauerung und Sauerstoffrückgang. Marine Hitzewellen, extreme El Niño- und La Niña-Ereignisse werden häufiger werden. Die Atlantische Meridionale Umwälzbewegung (AMOC) wird sich abschwächen.

Der Meeresspiegelanstieg wird sich in allen RCP-Szenarien über das Jahr 2100 hinaus
fortsetzen. Je nach Rechenmodell steigt er um einen bis mehrere Meter. Wald- und Flächenbrände werden für den Rest dieses Jahrhunderts in den meisten Tundragebieten und borealen Regionen sowie in einigen Gebirgsregionen deutlich zunehmen. Für empfindliche Ökosysteme wie Seegraswiesen und Kelpwälder werden hohe Risiken projiziert, wenn die globale Erwärmung 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau überschreitet, kombiniert mit anderen klimabedingten Gefährdungen. Für Warmwasserkorallen besteht bereits jetzt ein hohes Risiko, das sich weiter steigern wird, selbst wenn die globale Erwärmung auf 1,5 °C begrenzt wird.

In arktischen menschlichen Siedlungen ohne schnelle Landhebung und auf Atollinseln werden die Risiken selbst unter einem niedrigen Emissionsszenario als moderat bis hoch projiziert, was auch das Erreichen von Anpassungsgrenzen mit einschließt. Delta-Regionen und ressourcenreiche Küstenstädte werden unter Annahme eines Szenarios mit hohen Emissionen nach 2050 mit gegenwärtiger Anpassung ein hohes Risikoniveau aufweisen.

Folgen klimabedingter Veränderungen in Ozean und Kryosphäre stellen die gegenwärtigen politischen Steuerungsbemühungen von Anpassungsmaßnahmen vom lokalen bis zum globalen Maßstab zunehmend infrage und bringen sie in einigen Fällen an ihre Grenzen. Menschen mit der höchsten Exposition und Verwundbarkeit sind oft diejenigen mit der geringsten Anpassungskapazität.

Küstenbevölkerungen stehen vor schwierigen Entscheidungen, wenn es darum geht, kontextspezifische und integrierte Maßnahmen in Reaktion auf den Meeresspiegelanstieg zu entwickeln, die Kosten, Nutzen und Zielkonflikte der verfügbaren Optionen abwägen und die im Laufe der Zeit angepasst werden können. Alle Arten von Optionen, einschließlich Küstenschutz, Akkommodation, ökosystembasierter Anpassung, Landgewinnung und Rückzug von der Küste, wo immer möglich, können bei solchen integrierten Reaktionen eine wichtige Rolle spielen.

Die Ermöglichung von Klimaresilienz und nachhaltiger Entwicklung hängt entscheidend von dringender und ehrgeiziger Emissionsreduktion in Verbindung mit koordinierten anhaltenden und zunehmend ehrgeizigen Anpassungsmaßnahmen ab“, schließt der Bericht. „Zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Umsetzung wirksamer Maßnahmen in Reaktion auf klimabedingte Veränderungen in Ozean und Kryosphäre gehört die Intensivierung der Zusammenarbeit unter Regierungsbehörden über räumliche Maßstäbe und Planungshorizonte hinweg. Von wesentlicher Bedeutung sind auch Bildung und Klimakompetenz, Überwachung und Vorhersage, die Nutzung aller verfügbaren Wissensquellen, das Teilen von Daten, Information und Wissen, Finanzen, die Bekämpfung sozialer Verwundbarkeit und Gerechtigkeit sowie institutionelle Unterstützung.“

Dieser Bericht ist nun zwei Jahre alt. Was ist seitdem passiert – einmal abgesehen von wortreichen Absichtserklärungen?

Die globale Erwärmung wird wie auch das Landmanagement in einem gesonderten Bericht behandelt. Darin heißt es: „Die globale Erwärmung erreicht 1,5 °C wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052, wenn sie mit der aktuellen Geschwindigkeit weiter zunimmt. Sie wird für Jahrhunderte bis Jahrtausende bestehen bleiben und weiterhin zusätzliche langfristige Änderungen im Klimasystem bewirken, wie zum Beispiel einen
Meeresspiegelanstieg und damit verbundene Folgen. Klimamodelle projizieren belastbare Unterschiede regionaler Klimaeigenschaften zwischen heutigen Bedingungen und einer globalen Erwärmung um 1,5 °,
sowie zwischen 1,5 °C und 2 °. Zu diesen Unterschieden gehören Zunahmen der Mitteltemperatur in den meisten Land- und Ozeangebieten, Hitzeextreme in den meisten bewohnten Regionen, Starkniederschläge in mehreren Regionen und die Wahrscheinlichkeit von Dürre und Niederschlagsdefizite in manchen Regionen.

Der Meeresspiegel wird bis weit über das Jahr 2100 hinaus weiter ansteigen, wobei Ausmaß und Geschwindigkeit von zukünftigen Emissionen abhängen. In Modellen ohne oder mit geringer Überschreitung von 1,5 °C nehmen die globalen anthropogenen Netto-CO2-Emissionen bis 2030 um etwa 45 Prozent gegenüber dem Niveau von 2010 ab und erreichen um das Jahr 2050 netto null. Bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter 2 °C projizieren die meisten Rechnungen eine Abnahme der CO2-Emissionen bis 2030 um etwa 25 Prozent und das Erreichen von netto null um das Jahr 2070.

Mit einem interaktiven Tool kann man selbst berechnen, in welcher Zeit in ausgewählten Küstenregionen der Meeresspiegel steigt, und wie stark er steigen wird.

Die globale Erwärmung ohne oder mit geringer Überschreitung auf 1,5 °C zu begrenzen, würde beispiellos schnelle und weitreichende CO2-Minderungen in Energie-, Land-, Stadt- und Infrastruktur- (einschließlich Verkehr und Gebäude) sowie in Industriesystemen erfordern. Die Pariser Klimaziele genügen dabei nicht: „Eine Überschreitung und Abhängigkeit von zukünftig großflächigem Einsatz von Kohlendioxidentnahme (CDR) kann nur vermieden werden, wenn die globalen CO2-Emissionen lange vor 2030 zu sinken beginnen.“

Wie schwer es ist, die Nationen rund um den Globus zu wirksamen CO2-Reduktionen zu bewegen, ist den Autoren durchaus klar: Zahlreiche Konflikte sind programmiert. Alternativen dazu sehen sie aber nicht: Je schneller die Welt handelt, desto besser sind die Aussichten auf Erfolg. Dennoch kam die erste Reaktion aus Australien, ausgerechnet dem Kontinent, der schon erheblich unter der Klimaveränderung leidet: Er sehe nicht ein, sich ‚blanco‘ zu verpflichten, verkündete der konservative Premier Morrison. Sein Land ist der weltgrößte Kohle-Exporteur.

Die Berichte der Fachleute sind trocken, und auch in ihrer Zusammenfassung nicht einfach zu lesen. Dennoch kann ich nur empfehlen, sich immer wieder damit zu beschäftigen. Alles, was getan werden muss, um das Überleben der Erde mit ihren Bewohnern zu sichern, ist öffentlich bekannt. Niemand wird sagen können, er habe es nicht gewusst. Auf dieser Seite sind die wichtigsten Downloadlinks noch einmal zusammengefasst.


Marittas einsames Sterben: Maßlose Corona-Vorschriften

Es ist lange her. Über ein Jahr hat es gedauert, bis Simone und ich wieder einen Plausch im Eiscafé halten können: Ohne Coronatest und vorherige Anmeldung, nur mit Kontaktformular, einfach so im Freien sitzend. Wir sind beide doppelt geimpft und können langsam daran denken, unser Leben vor der Pandemie wieder aufzunehmen. Ein Leben, in dem für Simone nichts mehr ist, wie es war.

„Ich denke ständig darüber nach, was sie wohl in diesen letzten Tagen gedacht hat: Die ganze Zeit war ich da, habe sie zu den Ärzten und zur Chemo begleitet, und dann, als es ans Sterben ging, war sie allein.“ Simone ist sehr nachdenklich. Im Januar hat sie ihre Mutter verloren. Mitten in all den Beschränkungen der Pandemie starb sie im Krankenhaus, und ihre Familie durfte nicht zu ihr. Das war furchtbar und belastet alle noch sehr.

Das Leben ihrer Eltern war bis zum letzten Tag eine lange Liebesgeschichte. Dass Maritta und Josef sich kennenlernen konnten, war Marittas Oma zu verdanken. Sie hielt Ziegen, und Maritta liebte deren Milch. So besuchte sie ihre Oma, wann immer sie konnte und traf schließlich im Ort auf den gleichaltrigen Josef. Der Brückenbauer und seine Familie sind alt eingesessen und gut vernetzt im Dorf. Die beiden wurden ein Paar, heirateten, und Maritta zog ins Haus ihres Mannes. Nach einer Fehlgeburt kamen Sohn Patrick und Tochter Simone zur Welt, das Familienglück war perfekt.

Das Paar hat eine vielköpfige Verwandtschaft. Man traf sich regelmäßig, feierte Geburtstage und andere Feste zusammen. Bis die Beschränkungen kamen. Kontaktverbote, Verbote, zuhause Besuch zu empfangen. Natürlich hielten sich alle daran – obwohl niemand aus der weiten Familie infiziert war. Aber es wurde doch ziemlich einsam.

Vater Josef betrieb im Nebenerwerb Landwirtschaft, wie so viele im Ort. Maritta sorgte für Haus und Garten; ihre Koch- und Backkünste waren legendär. Das Paar pflegte Geselligkeit in der Familie und im Ort und  liebte sich zärtlich. Als Sohn Patrick in die eigenen vier Wände zog, war das selbstverständlich im Heimatort. Abends, nach der Arbeit, kam der Junggeselle weiter heim zum Essen, sehr zur Freude seiner Mutter. Nachdem  Tochter Simone geheiratet hatte, baute das junge Paar 2002 die alte Schmiede des Großvaters zur Wohnung aus und lebte fortan Wand an Wand mit den Eltern. Auch hier herrschte Harmonie: Man kochte gemeinsam, grillte viele Spießbraten im Gartenhäuschen. Enkelkind Melina war bei den Großeltern bestens aufgehoben, wenn ihre Eltern zur Arbeit gingen.

Wie in jeder Familie lief auch in dieser nicht immer alles glatt: Als Simone schwer krank und schließlich berufsunfähig wurde, standen ihr die Eltern zur Seite; als ihre Ehe zuende ging, ebenso. Jeden Morgen zog seitdem eine kleine Prozession die Treppe herunter durch die Hintertür an den Frühstückstisch der Eltern: Simone, Melina, Hündin Mimi und Katze Nala fanden sich ein, um beim Kaffee den Tagesablauf, gemeinsame Einkäufe, Arztbesuche und den ganzen Alltag zu planen. Im Familienzusammenhalt blieb so trotz Pandemie eine beglückende Gemeinsamkeit.

Rechtzeitig zur Goldenen Hochzeit im letzten Jahr renovierten Josef und Marita noch einmal ihr Haus. Ein neues Schlafzimmer wurde gekauft, Josef begann damit, das Bad rundum zu erneuern. Maritta, in den letzten Jahren etwas vergeßlich geworden, hörte auf, selbst Auto zu fahren. Vater oder Tochter erledigten die Einkäufe, immer öfter übernahm Simone das Kochen für alle. Und dann brach das Unglück über sie herein.

Maritta war immer schlank gewesen. Aber jetzt war sie auf einmal extrem dünn, aß und trank kaum noch etwas. Ihre Stimme veränderte sich, und sie bekam schlecht Luft. Am 22. Juli, dem Tag vor Josefs 80. Geburtstag, brach sie beim Backen zusammen, musste per Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht werden. Dort stellte man einen riesigen, gutartigen Tumor der Schilddrüse fest, der auf Speise- und Luftröhre gedrückt hatte. Der Tumor wurde entfernt.

Nun berichtete Maritta auch von dem Knoten in ihrer Brust, der dort seit Jahren wuchs. Er war inzwischen so groß wie ein Hühnerei. Die Mammographie ließ alle tief erschrecken: Der Tumor war bösartig und äußerst aggressiv. Er hatte bereits die umgebenden Drüsen befallen. Sofortiges Handeln war angesagt. Die ohnehin geschwächte alte Frau wurde erneut operiert.

Bevor das radikale Programm mit einer 16-teiligen Chemotherapie und 30 Bestrahlungen beginnen sollte, war sie zuhause zum Aufpäppeln. Richtig auf die Beine kam sie nicht. Ihr 80. Geburtstag am 23. Oktober wurde ein kleines und sehr ruhiges Fest: Josef, Patrick, Simone und Melina ehrten ein letztes Mal die Seele ihrer Familie.

Nach der ersten Chemo schien es, als vertrage sie diese relativ gut. Aber das änderte sich schnell: Marittas Blutwerte wurden immer schlechter, die Zahl der Leukozyten nahm radikal ab. Nach jeder Behandlung musste sie länger im Krankenhaus bleiben, sie wurde immer dünner und durchscheinender.

Nach der sechsten Chemo ging erstmal nichts mehr. Die Mutter lag zuhause auf dem Sofa, wollte weder essen noch trinken, war ein Schatten ihrer selbst. Es war ein Sonntag, als der Schlaganfall sie traf. Simone rief den Rettungsdienst, aber der nahm die Patientin nicht mit. Es sei „nicht so dringend“, hieß es. Die Folgen des Schlaganfalls waren heftig: Halbseitig gelähmt und kaum fähig zu sprechen, konnte sich Maritta nun gar nicht mehr selbst helfen. Dennoch: Auch beim zweiten Notruf nahm der Rettungsdienst sie nicht mit ins Krankenhaus. Verärgert und in Angst um die Mutter bat Simone den Hausarzt um Hilfe – der erreichte endlich die Aufnahme. Es folgte ein vorwurfsvoller Anruf der dortigen Stationsärztin an die Tochter, wieso die Patientin denn erst so spät gebracht worden sei, wo sie doch so schwach sei…

Was nun kam, war das schmerzhafte Erleben purer Hilflosigkeit für die Familie – ausgeliefert an Beschränkungen der Pandemie und das System Krankenhaus. Nicht lange nach dem Schlaganfall erlitt Maritta auch noch einen Herzinfarkt. An die Behandlung der Tumorfolgen war jetzt nicht mehr zu denken: Es ging um’s nackte Überleben.

Aber unter Pandemiebedingungen. Krankenbesuche waren nicht erlaubt. Und das für ein Ehepaar, das über 50 Jahre lang Seite an Seite gewesen war, das die gegenseitige Nähe brauchte, wie die Luft zum Atmen. Jetzt wurde Simone ernsthaft laut: Wenigstens ihren Mann müsse man doch für kurz Zeit zur Mutter lassen – nie hatte sie ihn nötiger gebraucht! Mageres Ergebnis: Vater Josef wurde es erlaubt, zehn Minuten (!!!) am Tag bei seiner Frau zu sein. Was für eine Willkür!

Glück im Unglück für die geteilte Familie: Edith, Ex-Schwiegermutter Simones, teilte sich mit Maritta das Zimmer. So war wenigstens ein Mensch in ihrer Nähe, den sie kannte – und die Familie konnte jederzeit erfahren, wie es der Mutter ging. Simone war verärgert und aufgewühlt: Als ihre Mutter zur Chemo im selben Krankenhaus war, hatte sie sie problemlos durch’s Haus begleiten dürfen. Jetzt, wo sie hilflos im Bett lag, durfte sie nicht zu ihr. „Ob sie dachte, ich habe sie im Stich gelassen? Ich frage mich das immer wieder.“

Schneller als erwartet, kam an einem Freitag der befürchtete Anruf aus der Kardiologie: „Ihre Mutter wird wahrscheinlich das Wochenende nicht überleben. Schafft sie es aber, möchten wir ihr am Montag gern einen Stent setzen, um ihr Herz zu entlasten.“ Nachdem sich Vater und Tochter vom ersten Schock erholt hatten, erinnerte sich die Tochter an Marittas tiefen Glauben. „Sollen wir für sie um die letzte Ölung bitten?“ Ja. Der Vater war dankbar für die Anregung, und die Station reagierte auf Simones Anruf blitzschnell: Minuten später war der Krankenhaus-Geistliche bei ihrer Mutter. Sie wurde gesalbt, die beiden beteten gemeinsam das Vaterunser. Sehr erleichtert und dankbar sei die Patientin gewesen, berichtete der freundliche Geistliche, der anschließend die Familie anrief, um auch ihr Beistand zu leisten.

Danach blieben nur noch Stunden. Beim 10 Minuten-Besuch ihres Mannes am Samstag konnte Maritta ihm noch die Hand drücken – wenig später verlor sie das Bewusstsein. Nicht nur ihren Mann Josef, auch Tochter Simone und Enkelin Melina nahm das schrecklich mit, an Schlaf war nicht zu denken. Simone beschloss daher, sich innerlich mit ihrer Mutter zu verbinden. Es war schon nach Mitternacht, als sie ihr sagte „Mama, du hast genug für uns getan. Du darfst gehen, wenn du jetzt gehen willst. Wir sorgen gemeinsam weiter für uns. Mama, wir lieben dich. Ich liebe dich.“…

Um 3 Uhr morgens in der selben Nacht tat Maritta ihren letzten Atemzug. Außer Edith, ihrer Zimmernachbarin, war niemand in ihrer Nähe.

Erst danach rief das Krankenhaus die Familie an, die sofort aufbrach. Jetzt durften auf einmal alle ins Haus und sich lange von der bereits aufgebahrten Mutter verabschieden. Und wieder bewegte sie die gleiche Frage: Wieso musste sie ohne den Beistand ihrer Lieben sterben, wenn danach alle das Haus betreten durften? Sogar eine Infektion eines Familienmitgliedes (die ja via Test hätte ausgeschlossen werden können) hätte ihr nicht mehr schaden können, als sie ohnehin im Sterben lag. Was sind das für Vorschriften, die Sterbende derart einsam zurück lassen?

Wenigstens im Tod wollten sie jetzt der Mutter noch ihre Liebe zeigen. „Ich habe ihre Lieblingskleider ausgesucht: Einen korallenroten Pulli und schwarze Jeans – und vor allem das Unterhemdchen, das für sie immer ganz wichtig gewesen war. Wir haben eine wunderschöne Urne gekauft, aus Terrakotta, in Erdtönen, mit einem Bild darauf, das die unendliche Weite nach dem Tod darstellt.“

Auch die Beerdigung der Urne fand unter Pandemiebedingungen statt: Ein sehr kleiner Kreis von Gästen fand sich auf dem Friedhof ein, wo der freundliche Geistliche aus dem Krankenhaus wunderbar menschliche Worte fand, um Marittas Leben in bunten Farben zu schildern. „Ich schicke dir jetzt einen Engel“ von Michelle erklang, und für einen Moment war die Mutter für alle noch einmal fast körperlich präsent.

Inzwischen ist ein neuer Alltag eingekehrt im Drei-Generationen-Doppelhaushalt. Simone hat einige Aufgaben der Mutter übernommen. Jeden Abend wird gekocht für Vater und Bruder, mittags für Tochter Melina. Nicht alles verläuft so reibungslos wie früher – neue gemeinsame Gewohnheiten wollen eingeübt werden. Oft betrachten Simone und Tochter Melina die Fotos, die sie vor zwei Jahren gemeinsam mit Oma aufgenommen haben. Da waren sie alle drei hübsch zurecht gemacht, und Maritta sah noch ganz gesund aus. „Wenn ich so darüber nachdenke, war dieser Tag der letzte, an dem sie so richtig aus vollem Herzen gelacht hat,“ meint Simone nachdenklich. „Sie fehlt mir jeden Tag.“ Ich hoffe, sie ist jetzt glücklich, da, wo sie ist.“

Mission Rettung des Euro: EU fährt mit vollem Risiko

Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind für alle nationale Gerichte bindend, erklärt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Mai 2020. „Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“ Es gehe darum, die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft zusammenzuhalten. Um dieser Meinung Nachdruck zu verleihen, hat die EU im Juni 2021 ein förmliches Verfahren gegen Deutschland eingeleitet. Es geht um nicht weniger als den Fortbestand des Euro.

Das war passiert: Das Bundesverfassungsgericht hatte im März 2021 angeordnet, dass der Bundespräsident bis zur Entscheidung über einen Eilantrag gegen die gemeinschaftliche Schuldenaufnahme der EU das Gesetz zur Teilnahme Deutschlands am EU-Wiederaufbaufonds nicht unterschreiben durfte. Dieses sollte die EU-Kommission ermächtigen, Schulden auf dem Kapitalmarkt aufnehmen und diese teilweise als Zuschüsse an die Mitgliedstaaten weiter zu reichen. Im April 2021 wurde dieser Eilantrag abgelehnt. Obwohl das Hauptverfahren noch aussteht, konnte Präsident Steinmeier das entsprechende Gesetz nun unterschreiben, denn ein verspäteter Start könne irreversible Folgen haben, so das Verfassungsgericht. Die Bundesregierung befürchte außerdem „erhebliche außen- und europapolitische Verwerfungen”.

Außerdem hatten die Verfassungsrichter im Mai 2020 festgestellt, dass die europäische Notenbank mit dem 2015 gestarteten Programm ihr Mandat für die Geldpolitik überzogen hatte. Bundesregierung und Bundestag sollten deshalb darauf hinwirken, dass Europas Währungshüter nachträglich prüfen, ob die Käufe verhältnismäßig sind.

Die EZB hatte zwischen März 2015 und Ende 2018 rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt – den größten Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), auf das sich das Urteil bezieht. Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.

Mittlerweile haben Bundesregierung und Bundestag das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, indem sie die Verhältnismäßigkeit der Anleihekäufe festgestellt haben. Damit hätte die Angelegenheit beendet sein können, ist sie aber nicht: Die EU kann keine unabhängigen Urteile nationaler Verfassungsrichter gebrauchen. Im Ernstfall würden sie die gesamte Geldpolitik der Union sprengen. Damit das nicht geschieht, will die EU-Kommission vom Europäischen Gerichtshof EuGH geklärt wissen, wer in solchen Streitfragen das letzte Wort hat und hat ein Verfahren gegen Deutschland eröffnet.

Paradox dabei: Der europäische Gerichtshof, der alle geldpolitischen Maßnahmen der EU für rechtens erklärt hat, ist gleichzeitig Teil dieses Streits und oberster zuständiger Gerichtshof. Was soll bei einem solchen Verfahren also heraus kommen? Man kann wohl kaum erwarten, dass der EuGH sich selbst verurteilt. Dennoch bleibt: Das Bundesverfassungsgericht urteilt unabhängig, kann von der Politik zu nichts gezwungen werden.

Um zu ermessen, um wie viel es geht, ist es nötig, Rückschau zu halten.

1998 gründete die EU eine gemeinsame Zentralbank, die EZB. Laut ihrer Satzung bei der Gründung ist das vorrangige Ziel der Europäischen Zentralbank, die Preisstabilität zu gewährleisten. Zu diesem Zweck hat sie das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Euro-Banknoten innerhalb der Union zu genehmigen. Die nationalen Zentralbanken sind alleinige Zeichner und Inhaber des Kapitals der EZB. Der Schlüssel für die Zeichnung des Kapitals der EZB, der 1998 festgelegt wurde: 50 Prozent des Anteils des jeweiligen Mitgliedstaats an der Bevölkerung der Union im vorletzten Jahr vor der Errichtung des Europäischen Systems der Zentralbanken ESZB und 50 Prozent des Anteils des jeweiligen Mitgliedstaats am Bruttoinlandsprodukt der Union zu Marktpreisen in den fünf Jahren vor dem vorletzten Jahr vor der Errichtung des ESZB.

Die EZB kann laut Satzung genau wie die nationalen Zentralbanken am Markt tätig werden. Aber: Überziehungs- oder andere Kreditvergaben bei der EZB wie auch den nationalen Zentralbanken sind sind ebenso verboten, wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken.

Schon wenige Jahre nach der Einführung der Gemeinschaftswährung im Jahr 2002 traten die ersten Probleme auf: Die Staatsverschuldung der wirtschaftlich schwächeren Mitgliedsländer stieg rasant, Ausgleichsmaßnahmen wie die Abwertung nationaler Währungen waren nicht mehr möglich.

2010 legte die EU in Maastricht Kriterien fest, die einzuhalten seien, um die Stabilität des Euro zu sichern:

1. Das Haushaltsdefizit darf nicht mehr als drei Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen.

2. Die gesamtstaatliche Verschuldung sollte 60 Prozent des BIP
nicht übersteigen. Dieser Artikel wurde jedoch von Anfang an flexibel ausgelegt. Es
genügt, wenn die Verschuldung kontinuierlich abgebaut wird und sich
dem Wert von 60 Prozent nähert.

3. Die Inflationsrate darf sich nicht weiter als 1,5 Prozentpunkte
vom Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder entfernen.

4. Die langfristigen Zinssätze dürfen nicht mehr als zwei
Prozentpunkte über dem Niveau der drei EU-Länder mit den niedrigsten
Zinsen liegen.

5. Die Währung muss sich mindestens zwei Jahre lang innerhalb der
’normalen Bandbreiten‘ des Europäischen Wechselkurssystems ohne
Abwertung bewegt haben. „Das Wechselkurssystem ist das ‚Wartezimmer
für den Euro'“.

Von Anfang an war es mit der Einhaltung der Kriterien durch die Mitglieder nicht weit her. Vor allem die Haushaltsdefizite überstiegen oft bei weitem die festgelegten Grenzen.

Bereits 2012 sah sich die EU genötigt, den Euro-Rettungsschirm (ESM) für überschuldete Mitgliedsländer einzuführen. Der ESM darf direkt von Euro-Staaten Staatsanleihen aufkaufen oder diesen Kredite gewähren. Dies durfte die EZB bis dato nicht.

Ursprünglich sah der ESM eine Haftungsobergrenze von 700 Milliarden Euro vor und begrenzte den deutschen Anteil daran auf „nur“ 190 Milliarden Euro. Allerdings beschränkte Artikel 8 (5) des ESM-Vertrags das Fondskapital nicht auf den Nominalwert von 700 Milliarden Euro, sondern auf den jeweils aktuellen Ausgabewert, was das Zukunftsrisiko wesentlich erhöht. Ursprünglich hatten die EU-Verträge Staatsfinanzierung über die Notenpresse verboten und Regierungen die Veräußerung von Regierungsanleihen an die EZB untersagt. Dem ESM wurde nun gestattet, Staatsanleihen direkt zu kaufen, Staatskredite zu gewähren und insolvente Banken zu retten.

Der ESM löste Mitte 2013 den EFSF ab, den europäischen Finanz-Stabilisierungspakt, eine privatrechtliche Kapitalgesellschaft nach luxemburgischem Recht. Sie hatte Notkredite an Länder der Eurozone ausgegeben, wenn deren Probleme die gesamte Währungsunion in Gefahr brachten. Im Vertragswerk des ESM wurde den jeweiligen Entscheidern absolute Immunität zugesichert.

Der ESM verfügt über rund 704,8 Milliarden Euro Stammkapital. Diese Summe teilt sich auf in rund 80,5 Milliarden eingezahltes und rund 624,3 Milliarden abrufbares Kapital. Die Finanzierungsanteile der einzelnen Mitgliedstaaten beim ESM ergeben sich aus dem Anteil am Kapital der Europäischen Zentralbank, für einige neue Mitgliedstaaten gibt es befristete Übergangsvorschriften.

Es gab viel Protest gegen den ESM, der zu Recht als erster Schritt in die Schuldenunion gesehen wurde und Deutschland als größten Netto-Einzahler auch am stärksten in die Verantwortung nehmen würde. Keine der Anstrengungen, das Konstrukt zu verhindern, hatte jedoch Erfolg.

Der deutsche Finanzierungsanteil am ESM beträgt rund 26,9 Prozent. Dies entspricht rund 21,7 Milliarden Euro eingezahltem und rund 168,2 Milliarden abrufbarem Kapital. Weitere Haupt-Zahler sind Frankreich (20,2 Milliarden), Italien (17,8) und Spanien (11,8 ). Bisher wurden 195 Milliarden an Spanien, Griechenland und Zypern zugesagt, 109,5 Milliarden ausgezahlt und 19,6 zurückgezahlt. So sind von dem 500 Milliarden umfassenden Ausleihvolumen derzeit 410,1 Milliarden verfügbar. Die Hilfen aus dem Schutzschirm sind jedoch unbeliebt, weil mit strengen Reformauflagen verbunden. Besonders am Beispiel Griechenland wurde deutlich, dass das Land sein Tafelsilber verkaufen musste. Daher suchte man unter EZB-Präsident Draghi nach anderen Wegen.

Schon vor Gründung des ESM wurde im Juli 2012 klar, dass diesem Zugriff auf Kredite bei der EZB ohne jedes Limit gewährt werden sollte. Zu den Befürwortern zählten wichtige Euro-Staaten wie Frankreich und Italien, sowie führende Mitglieder des EZB-Rats. Demnach sollte der ESM Länder wie Spanien und Italien in Zukunft unterstützen, indem er in großem Stil Anleihen dieser Staaten kauft. Der ESM sollte die gekauften Anleihen bei der EZB als Sicherheiten für frisches Geld hinterlegen, das er erneut zur Unterstützung wankender Euro-Staaten einsetzen konnte. So geschah es dann auch – und die EZB wurde zur Bad Bank für alle faulen Kredite ihrer Mitgliedstaaten.

Außerdem finanziert die EZB über die nationalen Zentralbanken Konzerne. Welche das sind, teilt sie regelmäßig mit. Warum sie gefördert werden und in welcher Höhe, ist jedoch geheim.

Nachdem die EZB anfänglich ein begrenztes Programm mit dem Kauf von Staatsanleihen bis zu 60 Milliarden monatlich gestartet hatte, erklärte deren Chef Mario Draghi Anfang 2015: „Wir kaufen so lange, bis die Inflation steigt.“ Unter dem Vorwand, dauerhaft 2 Prozent Inflation erreichen zu wollen, wurden bis 2015 schon insgesamt 1,14 Billionen frisches Geld in die EU gepumpt, mit dem kriselnden und hoch verschuldeten Staaten geholfen wurde. Das bewirkte eine katastrophale Langzeit-Wirkung für die noch junge Gemeinschaftswährung: Statt die Staaten mit Auflagen zu zwingen, sich wirtschaftlich anzugleichen, wurden sie mit billigem Geld überschüttet und die Reformen fielen eher winzig aus.

Vor allem aber wurde auf diesem Weg die parlamentarische Mitbestimmung der einzelnen Staaten ausgehebelt: Für 20 Prozent der Wertpapierkäufe gibt es eine gemeinsame Haftung. Für die übrigen 80 Prozent haften die jeweils kaufenden nationalen Zentralbanken, die politisch unabhängig sind. Die Laufzeiten der Anleihen liegen zwischen 2 und 30 Jahren.

Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.

Im Februar 2020 beschloss die EZB das dritte Programm zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen. Im März 2020 folgte ein zeitlich befristetes Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP). „Die Ankäufe im Rahmen des PEPP erfolgen flexibel, wodurch Schwankungen im Zeitverlauf bei der Verteilung der Ankäufe hinsichtlich der Anlageklassen und der Länder möglich sind,“ hieß es.

Konkret wich die EZB schon vor 2019 immer weiter von den eigentlich festgelegten Regeln ab: Für das PSPP galt anfangs eine strikte Orientierung am Kapitalschlüssel der EZB, Anleihekäufe sollten proportional zu den Anteilen der nationalen Notenbanken des Eurosystems an der EZB erfolgen. Schon vor der Coronakrise wurden jedoch bei den billionenschweren Anleihekäufen die Titel hochverschuldeter Euro-Staaten stark übergewichtet. Vor der Pandemie seien mehr italienische, belgische, spanische und französische Staatsanleihen erworben worden, als es das Grundgerüst der Käufe eigentlich erlaubt habe, ergab eine Untersuchung des Mannheimer Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW und der Brigitte Strube Stiftung im Juli 2020.

Die Abweichungen vom Schlüssel seien auch nicht nur vorübergehend zu beobachten, sondern zeigten sich im Anleihebestand. Deutschland ist stark untergewichtet. Aufgrund der durch die Pandemie noch erhöhten und beschleunigten Käufe, könnte das Eurosystem Anfang nächsten Jahres schon ein Drittel der Staatsverschuldung im Euroraum halten, heißt es in der Studie unter dem Titel „Sliding down the slippery slope?“ 

An diesem Punkt reichte es nun dem Bundesverfassungsgericht: Im Mai 2020 widersprach es auch dem Europäischen Gerichtshof: Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe seien offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt. Sie könnten daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten. Ultra Vires – jenseits der Gewalten – heißt der rechtliche Begriff, mit dem die EZB sich außerhalb der europäischen Verträge begeben habe.

Auch der EuGH habe sich aus deutscher Sicht falsch verhalten, so der Vorsitzende Voßkuhle. Er sei seiner Kontrollaufgabe nicht nachgekommen und habe nicht erkannt, dass die Anleihekäufe im Verhältnis zu ihren Nebenwirkungen unverhältnismäßig seien. Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die Notenbank rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere investiert. Die Deutsche Bundesbank ist mit etwas mehr als 26 Prozent der größte Anteilseigner der EZB. Entsprechend groß ist auch ihr Anteil an den faulen Papieren.

Ab Frühjahr 2020 war die nächste Krise schon in vollem Gang: Covid 19 hatte die gesamte Eurozone zu Lockdowns gezwungen. Also ging das Gelddrucken weiter: Im Juni 2020 beschloss die Die Europäische Zentralbank, Notkaufprogramm für Anleihen um 600 Milliarden Euro auf insgesamt 1,35 Billionen Euro aufzustocken. Die Mindestlaufzeit wurde bis Ende Juni 2021 verlängert. EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte, man werde so lange kaufen, wie es nötig sei.

„NextGenerationEU“ heißt das Corona-Wiederaufbau-Programm, auf das sich die europäischen Staatschefs dann im Juli 2020 zusätzlich einigten. Es hat ein Volumen von 750 Milliarden Euro, welche – und das ist ganz neu – die EU-Kommission, stellvertretend für die gesamte EU, am Kapitalmarkt aufnehmen soll.

Bis zu 0,6 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistungen sollen zusätzlich abgerufen werden können. 390 Milliarden Euro sollen als Zuschüsse und 360 Milliarden Euro als Kredite an die Mitgliedstaaten fließen. Dabei darf der Kredit, den ein Land der EU erhalten kann, den Höchstwert von 6,8 Prozent seines nationalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht übersteigen. Rückzahlbar sollen die 750 Milliarden bis 2058 sein…

Die Tilgung der gemeinsamen Schulden erfolgt im Falle von NextGenerationEU als feststehende Ausgabe aus dem EU-Haushalt. Es gibt daher zwar offiziell keine gemeinsame Haftung, wie sie bei Eurobonds bestehen würde. Deutschland soll wie die anderen Staaten nur über die Eigenmittel der EU haften, also die Beiträge auf Basis des Bruttonationaleinkommens, die es an den EU-Haushalt überweist. Das gilt allerdings nur, solange der Zusatzabruf der 0,6 Prozent des BiP nicht erfolgt.

Ob man das ‚Kind‘ nun Eurobonds nennt oder nicht, ist letztlich auch egal: Der Schuldenberg, für den die Mitgliedsstaaten Mitgliedsstaaten im Ernstfall haften müssen, müsste dann eben über entsprechend hohe Mitgliedsbeiträge abgetragen werden. Aber dazu wird es nicht kommen, denn das würde zu enormen Protesten führen. Also wird die Geldmaschine EZB immer mehr Geld drucken, Zahlungstermine für Kredite immer weiter in die Zukunft verschieben und keinen Staat Pleite gehen lassen.

Dazu passt auch der jüngste Beschluss der EZB vom Juni 2021: Die Anleihekäufe im Rahmen des Krisenprogramms sollten weiterhin „signifikant“ umfangreicher ausfallen als in den ersten Monaten des Jahres. Damit wolle sie „günstige Finanzierungskonditionen“ für die Unternehmen sicherstellen. Soll heißen: Die EZB reagiert auf einen Anstieg der Renditen am Markt für Staatsanleihen, der unter Umständen auch eine Verteuerung von Unternehmenskrediten bewirken und so den Aufschwung nach der Corona-Krise vorzeitig bremsen könnte. Zwar sieht sich die EZB im Moment mit steigenden Inflationsraten konfrontiert – hält diese aber für ein vorübergehendes Phänomen im Krisenausklang. Die Inflation in der Eurozone hatte im Mai erstmals 2 Prozent getragen. Mittelfristig glaubt die Zentralbank, dass die Raten wieder sinken.

Auch die Leitzinsen sollen unverändert bleiben, bis das Inflationsziel von 2 Prozent sicher erreicht sei, heißt es. Der Schlüsselsatz zur Versorgung der Geschäftsbanken mit Geld liegt bereits seit März 2016 auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Der Ökonom Friedrich Heinemann vom Forschungsinstitut ZEW hält das ebenso wie der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing für gefährlich: „Ob das Inflationsgespenst vorbeihuscht, wissen wir nicht“, sagte Issing. Die neue Strategie der amerikanischen Notenbank Federal Reserve, vorübergehend ein Überschießen der Inflationsrate über das Inflationsziel von zwei Prozent hinzunehmen, sei „relativ inflationsanfällig“ – und: „Wenn ein Schiff durch den Nebel segelt, sollte man nicht das Steuer festbinden“.

Bleibt die Frage, ob es überhaupt noch kurzfristig möglich sein kann, Anleihekäufe zu stoppen und Zinsen steigen zu lassen. Der Schuldenberg von Staaten und auch ihrer Wirtschaft ist gerade wegen der lockeren Geldpolitik, zuletzt auch wegen der Corona-Stützungsmaßnahmen extrem gestiegen. Würden jetzt die Zinsen steigen, wären die Raten noch schwieriger zu tilgen.

Die Schuldenunion, die zwar offiziell immer bestritten wird, ist längst eingetreten – und das entspricht auch dem eigentlichen Willen der Architekten Europas. „Der Widerstand gegen Veränderungen wird in der Krise geringer,“ sagte der heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im August 2020 der Neuen Westfälischen. „Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen.“

Die Vereinigten Staaten von Europa, also. Grundsätzlich wäre es ja logisch, die EU so umzubauen, um ihr mehr Gewicht zu verschaffen. Aber die EU ist ein völlig anderes Konstrukt als die USA. Was sie hier tut, ist maximales Risiko – und der Erfolg ist bei weitem nicht garantiert. Nationalstaaten mit vielen Jahrhunderten Geschichte sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen und haben ganz unterschiedliche Regierungssysteme: Vor allem gibt es extreme Unterschiede in den nationalen Wirtschaftsleistungen und den Staatsschulden. Diese nicht stärker anzugleichen, bevor der Euro eingeführt wurde, war ganz sicher der größte Fehler ehrgeiziger

Politiker. Dazu kommen weitere Unterschiede: Während beispielsweise in Frankreich starke Gewerkschaften und nationale Proteste eine Anhebung des Rentenalters, das bei 62 Jahren für Männer und 58 für Frauen liegt, verhinderten, wird in Deutschland gerade das Renteneintrittsalter für alle mit 68 Jahren diskutiert. Bei einem engeren Zusammenwachsen der EU würden die Deutschen ganz sicher solche Unterschiede nicht mit tragen.

Allzu viele Mitgliedsländer der EU sind nicht eingetreten, weil sie Wirtschaftskraft beitragen könnten oder wollten, sondern weil sie viel Hilfe erwarten. Während man beispielsweise in Deutschland über selbst fahrende Autos streitet, fahren die Menschen in Rumänien immer noch mit Pferde- oder Ochsenkarren durch’s Land. Immer weniger starke Länder müssen in der Union Schulden für immer mehr schwache absichern. In dieser Situation mit immer höheren Schuldenbergen und unbegrenztem Drucken von Geld die gemeinsame Währung zu sichern, ist ein unüberschaubares Risiko.

Wenn es scheitert, sind alle pleite: Auch Deutschland.

Siehe auch:

Entwurf des EU-Haushaltes: Corona-Aufbau soll beginnen

Milliardenschwere Eurobonds: Erwarten uns 62 Prozent Haftung?

Die Lehre aus Zypern: Vertrauen ist Glückssache

Die Fed, die Zinsen, der Goldpreis und die Illusion eines freien Marktes

ESM-Finanzierungsgesetz

ESM: Rechtliche und finanzielle Analyse

Die globalen Währungsreserven in Dollar gehen zurück

Russland baut Dollar-Reserven ab

Updates:

Fed erwartet höhere Inflation, will aber erst 2023 die Zinsen erhöhen

Die Verteilung an die EU-Länder beginnt

EZB wird dominanter Investor bei europäischen Staatsanleihen

EZB im Dilemma: Inflation steigtZinsen dürfen es nicht

Libra ist gestorben

Inflation bei Rekordmarke von 5,1 Prozent – EZB ändert nichts

Entwurf des EU-Haushalts 2022: Der Aufbau nach Corona soll beginnen

Die Europäische Kommission hat einen EU-Haushalt in Höhe von 167,8 Mrd. Euro für 2022 vorgeschlagen, der durch Finanzhilfen in Höhe von schätzungsweise 143,5 Mrd. Euro über das Aufbauprogramm NextGenerationEU ergänzt werden soll. „Der durch NextGenerationEU flankierte Haushaltsentwurf 2022 lenkt Mittel dorthin, wo sie am meisten bewirken können. Dabei wird dem dringendsten Aufbaubedarf der EU-Mitgliedstaaten und unserer Partner weltweit Rechnung getragen,“ heißt es.

Der EU-Haushaltsentwurf 2022 umfasst die Ausgaben im Rahmen von NextGenerationEU, die durch Mittelaufnahmen an den Kapitalmärkten finanziert werden sollen, sowie die Ausgaben, die im Rahmen der langfristigen Haushaltsobergrenzen aus Eigenmitteln bestritten werden. Für letztere Ausgaben werden im Haushaltsentwurf für jedes Programm zwei Beträge vorgeschlagen: Mittel für Verpflichtungen und Mittel für Zahlungen. „Mittel für Verpflichtungen“ sind die Beträge, die in einem bestimmten Jahr vertraglich vereinbart werden können, „Mittel für Zahlungen“ entsprechen den Beträgen, die tatsächlich ausgezahlt werden sollen. Der vorgeschlagene EU-Haushaltsplan für das Jahr 2022 umfasst Mittel für Verpflichtungen in Höhe von 167,8 Mrd. Euro und Mittel für Zahlungen in Höhe von 169,4 Mrd. Euro. Alle Beträge sind in jeweiligen Preisen angegeben.

NextGenerationEU soll dazu dienen, nach der COVID-19-Pandemie eine grünere, stärker digitalisierte und widerstandsfähigere EU aufzubauen, die den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen besser begegnen kann. Nach der Annahme des Eigenmittelbeschlusses durch alle EU-Mitgliedstaaten kann die Kommission nun beginnen, mithilfe von NextGenerationEU die nötigen Mittel für den Aufbau Europas aufzunehmen.

Folgende Vorschläge enthält der Budgetentwurf für 2022:

  • 118,4 Mrd. Euro an Finanzhilfen von NextGenerationEU im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie abzumildern und die Volkswirtschaften und Gesellschaften der EU nachhaltiger und widerstandsfähiger zu machen und sie besser auf die Herausforderungen und Chancen des grünen und digitalen Wandels vorzubereiten.
  • 53,0 Mrd. Euro für die Gemeinsame Agrarpolitik und 972 Mio. Euro für den Europäischen Meeres-, Fischerei- und Aquakulturfonds‚ zugunsten der europäischen Landwirte und Fischer, aber auch um den Agrar- und Nahrungsmittelsektor sowie den Fischereisektor widerstandsfähiger zu machen und den notwendigen Spielraum für das Krisenmanagement zu schaffen. Der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) könnte zusätzlich mit 5,7 Mrd. Euro über NextGenerationEU ausgestattet werden.
  • 36,5 Mrd. Euro für regionale Entwicklung und Zusammenhalt, aufgestockt um weitere 10,8 Mrd. Euro über NextGenerationEU im Rahmen von REACT-EU zur Unterstützung der Krisenreaktion und Krisenbewältigung.
  • 14,8 Mrd. Euro zur Förderung unserer Partner und Interessen weltweit, davon 12,5 Mrd. Euro im Rahmen des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit – Europa in der Welt (NDICI — Global Europe) sowie 1,6 Mrd. Euro für humanitäre Hilfe (HUMA).
  • 13,1 Mrd. Euro für Forschung und Innovation, davon 12,2 Mrd. Euro für Horizont Europa, das Leitprogramm der Union für Forschung. Hinzu kommen könnten 1,8 Mrd. Euro aus NextGenerationEU.
  • 5,5 Mrd. Euro für europäische strategische Investitionen, davon 1,2 Mrd. Euro für InvestEU für Schlüsselprioritäten (Forschung und Innovation, ökologischer und digitaler Wandel, Gesundheitswesen und strategische Technologien), 2,8 Mrd. Euro für die Fazilität „Connecting Europe“ zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Infrastruktur und 1,2 Mrd. Euro für das Programm „Digitales Europa“ zur Gestaltung der digitalen Zukunft der Union. Zusätzlich könnte InvestEU 1,8 Mrd. Euro aus NextGenerationEU erhalten.
  • 4,7 Mrd. Euro für Menschen, sozialen Zusammenhalt und Werte, davon 3,4 Mrd. Euro für Erasmus+ zur Schaffung von Bildungs- und Mobilitätsmöglichkeiten für Menschen, 401 Mio. Euro für die Unterstützung von Künstlern und Kulturschaffenden in ganz Europa und 250 Mio. Euro für die Förderung von Justiz, Rechten und Werten;
  • 2,1 Mrd. Euro als Ausgaben für den Weltraum, hauptsächlich für das Weltraumprogramm der Union, das die Maßnahmen der Union in diesem strategischen Bereich zusammenführt.
  • 1,9 Mrd. Euro für Umwelt- und Klimapolitik, davon 708 Mio. Euro für das LIFE-Programm zur Unterstützung des Klimaschutzes und der Anpassung an den Klimawandel und 1,2 Mrd. Euro für den Fonds für einen gerechten Übergang, damit der grüne Wandel auch allen Vorteile bringt. Zusätzlich könnte der Fonds für einen gerechten Übergang 4,3 Mrd. Euro aus NextGenerationEU erhalten.
  • 1,9 Mrd. Euro für den Schutz unserer Grenzen, davon 780 Mio. Euro für den Fonds für integriertes Grenzmanagement (IBMF) und 758 Mio. Euro für die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex).
  • 1,9 Mrd. Euro zur Unterstützung der Kandidatenländer und potenziellen Kandidatenländer bei der Erfüllung der Anforderungen des Beitrittsprozesses der Union, insbesondere über das Instrument für Heranführungshilfe (IPA III).
  • 1,3 Mrd. Euro für migrationsbezogene Ausgaben, davon 1,1 Mrd. Euro zur Unterstützung von Migranten und Asylsuchenden im Einklang mit unseren Werten und Prioritäten.
  • 1,2 Mrd. Euro für die Bewältigung der Herausforderungen im Bereich Verteidigung und gemeinsame Sicherheitspolitik, davon 950 Mio. Euro zur Unterstützung der Fähigkeitenentwicklung und der Forschung im Rahmen des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) sowie 232 Mio. Euro zur Förderung der militärischen Mobilität.
  • 905 Mio. Euro für die Gewährleistung des Funktionierens des Binnenmarkts, davon 584 Mio. Euro für das Binnenmarktprogramm, und knapp 200 Mio. Euro für Arbeiten in den Bereichen Betrugsbekämpfung, Steuern und Zoll.
  • 789 Mio. Euro für EU4Health, damit den Bedürfnissen der Menschen im Bereich Gesundheit umfassend Rechnung getragen werden kann , sowie 95 Mio. Euro für das Katastrophenschutzverfahren der Union (rescEU), damit im Krisenfall rasch operative Unterstützung geleistet werden kann. Zusätzlich könnte rescEU 680 Mio. Euro aus NextGenerationEU erhalten.
  • 600 Mio. Euro für Sicherheit, davon 227 Mio. Euro für den Fonds für die innere Sicherheit (ISF) zur Bekämpfung von Terrorismus, Radikalisierung, organisierter Kriminalität und Cyberkriminalität.

Ein Haiku auf die Schönheit des Supermondes

Heute Nacht sehen wir den zweiten Supermond des neuen Jahres. In einigen Teilen der Erde ist er verbunden mit einer Blutmond-Finsternis. Gerade schaut er wie ein Lampion durch mein Fenster und inspirierte mich.

Haiku ist eine sehr alte japanische Form des Gedichts. Bei einem Dreizeiler enthält Zeile eins 5, Zeile zwei 7 und Zeile drei wieder 5 Silben. Da die japanische Sprache sich jedoch sehr von unserer unterscheidet, ist diese Regel nicht unbedingt bindend.

Ich hab im Traum geweinet

Ein Gedicht, 1823 geschrieben von Heinrich Heine, vertont von Franz Schubert im Jahr 1840 und vorgetragen von Fritz Wunderlich (1930 – 1966). Fritz Wunderlich ist in Kusel/Rheinland-Pfalz geboren. Er starb bereits in jungen Jahren an den Folgen eines Treppensturzes.

Ich hab im Traum geweinet
Mir träumte du lägest im Grab
Ich wachte auf und die Träne
floss noch von der Wange herab

*
Ich hab im Traum geweinet
Mir träumt‘ du verließest mich
Ich wachte auf und ich weinte
noch lange bitterlich

*
Ich hab im Traum geweinet
Mir träumte du bliebest mir gut
Ich wachte auf und noch immer
strömt meine Tränenflut

Eine Liebe wie im Märchen: Prinz Philip und seine Königin

Sie war die einsamste Frau der Welt, als sie da in dieser uralten Kirchenbank saß, und ihr Volk weinte für sie.

Ja natürlich: Überall auf der Welt sterben täglich Menschen, trauern Partner, Kinder, Enkel. Und nicht alle lebten im Prunk, so wie diese beiden. Aber Elizabeth und Philip – das war etwas besonderes. Diese beiden lebten eine Liebe, wie sie sich Millionen von Menschen ein Leben lang erträumen, aber höchst selten finden. Sie lebten ein wahres Märchen in einer märchenhaften Kulisse.

Er war ein Königskind, fast wie sie. Aber Philip, Prinz von Griechenland und Dänemark erlebte in seiner Jugend Vertreibung und Heimatlosigkeit. Er ging zur britischen Marine, und machte dort aus eigener Kraft Karriere. Der junge Mann wusste, wie gut er aussah und war ehrgeizig. Er wollte hoch hinaus in der Marine, und hätte es ganz sicher auch geschafft.

Elizabeth Alexandra Mary war dazu bestimmt – oder verflucht? – Königin des großen Britanniens zu werden. Schon als sie ihren Cousin 3. Grades das erste Mal traf, da war sie 13, verliebte sie sich unsterblich in den 18jährigen, hoch gewachsenen, blonden Soldaten, der vor Selbstbewusstsein zu strotzen schien. Er war klug, elegant, von tadellosem Benehmen und hatte die Aura eines Abenteurers.

Die kleine Frau wusste von Anfang an, dass er der Mann ihres Lebens war. Sie schrieb ihm fast täglich – auch während des Zweiten Weltkriegs. Er konnte nicht anders, als sie auch zu lieben. Ihre Familie lehnte den Mittellosen ab, aber ‚Lillybeth‘ sagte ihrem Vater, dem König, dass sie niemals einen anderen Mann würde lieben können.

Der junge Offizier wusste, worauf er sich einließ. Noch am Tag vor der Hochzeit sinnierte er vor seiner Familie darüber, wie verrückt es war, sich an eine Kronprinzessin zu binden. Aber es gab kein zurück: 1947 nahm Philip die britische Staatsbürgerschaft an, zum Ende des Jahres heirateten die beiden in Westminster Abbey.

Viel zu früh starb Georg VI., Elizabeths Vater: Schon am 6. Februar 1952 musste die junge Frau den Thron besteigen. Ihre Krönung fand am 2. Juni 1953 in der Westminster Abbey statt. Für Philip, nun Duke of Edinburgh, bedeutete dies das Ende seiner Karriere und seines eigenständigen Lebens. Er war gerade Fregattenkapitän geworden und gewöhnt, zu befehlen. Nun musste er vor seiner Frau niederknien und ihr lebenslange Gefolgschaft schwören. Aus dem stolzen Offizier wurde ein Prinzgemahl.

Das alles geschah in einer Zeit, in der Frauen normalerweise zuhause waren, sich um Haus und Kinder kümmerten, die Männer das Geld verdienten und das Sagen hatten. So war diese Rolle für Philip wohl noch herausfordernder, als sie auch heute noch wäre. Aber die beiden fanden einen gangbaren Weg: Sobald sie hinter den Mauern von Schloss Windsor allein waren, änderten sich die Rollen. Philip ließ in die privaten Räume eine Küche einbauen. Dort brutzelte er am Wochenende Rührei, während seine Frau Tee kochte. Hier, im Privatleben, war er weiter der Mann, in den sich Elizabeth rettungslos verliebt hatte: Er war der Chef der Familie. Er konnte fordernd sein, herrisch und jähzornig – sie versuchte nicht, das zu ändern. Er liebte alles, was schnell war, so Flugzeuge oder schnelle Autos. Wenn er allzu rasant in die Kurven ging und die kleine Frau erschrak, wurde er wütend. Überliefert ist, dass er sie anherrschte: Wenn sie nicht aufhöre, seine Fähigkeiten als Fahrer anzuzweifeln, werde er anhalten und sie am Straßenrand stehen lassen…

Die Queen wusste um sein Statusbewusstsein und sorgte dafür, dass er nicht eines Tages durch das Hofprotokoll im Rang unter seinem Erstgeborenen landen würde. Sie vertraute ihm und schätzte seinen Rat. Er las alle ihre Reden und kritisierte bei Bedarf, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Zu keinem Zeitpunkt war Philip illoyal. Er ging, wie das Protokoll es verlangte, drei Schritte hinter seiner Frau. Und obwohl es manchmal wohl hoch her ging zwischen den beiden: Es gibt tausende Fotos, in denen sie sich liebevoll anschauen, in dem ihr Strahlen ihn immer wieder bezauberte.

Ohne einander hätten sie ihren Alltag wohl nicht bis ins hohe Alter bewältigen können, wie sie es taten: Es kann grauenhaft langweilig sein, Königin und Prinzgemahl zu sein. Philip bezeichnete sich als Weltmeister im Enthüllen von Gedenktafeln, die Queen ist ganz sicher Weltmeisterin im Anhören endlos langer Reden – was an ihrem mitunter stoisch missmutigen Gesicht für alle erkennbar ist.

Vier Kinder, acht Enkel, zehn Urenkel – so viele Nachkommen bringt nicht jede Ehe hervor. Auch diese beiden machten Fehler in der Erziehung: Thronfolger Charles litt beispielsweise sehr an den harten, scheinbar gefühllosen Anforderungen seines Vaters. Elizabeth und Philip war es in Fleisch und Blut übergegangen, ihre Gefühle nach außen zu verbergen – sie waren Kinder ihrer Zeit und eines strengen Hofprotokolls. Aber sie hatten sich. Sie waren nicht nur Liebende: Sie waren beste Freunde, gegenseitige Förderer, loyale Berater, gegenseitige Bewunderer. „Er war in all diesen Jahren meine Stärke, mein Fels“, sagte Elizabeth bei der goldenen Hochzeit – und ihr Mann lächelte, wie immer ein wenig abweisend.

Oft gab Philip den Clown: Seine bissigen Bemerkungen trafen nicht immer den richtigen Ton. Aber er war vielleicht der einzige Mann in der Welt der Diplomatie, dem das verziehen wurde. Und das Volk liebte ihn für seine Art: Er war der Großvater der Nation.

Während der 99 Jahre alte Prinzgemahl im Krankenhaus um sein Leben kämpfte, taten Enkel Harry und seine Gattin im fernen Amerika das ihre, um für zusätzliche Aufregung zu sorgen und das Königshaus unter anderem mit Rassismus-Vorwürfen in Misskredit zu bringen. Philip kam zurück nach Windsor, um zu sterben, aber die beiden realisierten das offensichtlich nicht. Es gab noch mehr Krisen im langen Leben des Paares: Die enge Freundschaft ihres Sohnes, Prinz Andrew zu Jeffrey Eppstein, dem systematischer Missbrauch von Jugendlichen vorgeworfen wird, war nur einer davon.

„Es war ein echtes Wunder“ wird Elisabeth zitiert, die im Kreise der Familie dem Auszug ihrer großen Liebe aus seinem Körper beiwohnte. „Es war, als ob ihn jemand abholte. Er ging friedlich und gerne mit.“ Das war zwei Monate vor seinem 100. Geburtstag.

Am 21. April wird die kleine Frau 95 Jahre alt. Sie plant bisher nicht, sich von ihrem Amt zurück zu ziehen, denn auf ihre Art ist sie eine Soldatin wie ihr Mann: Sie sieht sich in der Pflicht bis zu ihrem letzten Atemzug. So muss sie jetzt ohne ihre Stärke und ihren Fels weiter gehen in einer Welt, in der Königshäuser immer mehr an Bedeutung verlieren und immer öfter in der Kritik stehen.

Ihr treuer Gefährte wartet auf sie in der Gruft von St. George’s Chapel. Erst wenn auch sie gestorben und verabschiedet worden sein wird, werden ihrer beider Särge in die King George VI. Memorial Chapel gebracht. Dort werden sie, die in mehr als 73 Jahren Ehe zu einem vollständigen Ganzen verwachsen waren, nebeneinander ihre ewige Ruhe finden.

 

Jeff Bezos: Reichster Mann der Welt durch ein Menschen verachtendes System

„Amazon ist ein riesiges Unternehmen, das in den vergangenen Jahren rasant gewachsen ist und Gewinne macht. Das freut uns Mitarbeiter – aber wir wollen auch daran beteiligt werden,“ sagte anonym ein Mitarbeiter des Onlinehändlers im Juni 2020 dem „Spiegel„. „Ich wurde vor einiger Zeit am Knie operiert, daraufhin bin ich sechs Wochen ausgefallen. Als ich zurück im Betrieb war, wurde von mir erwartet, dass ich direkt wieder funktioniere wie zuvor. An manchen Tagen muss ich bis zu 30 Kilometer durch die Hallen laufen und Waren transportieren…“

Seit 27 Jahren gibt es den Onlinehändler Amazon. Jedes Jahr wird er größer, internationaler und weltumspannender. Jeff Bezos, Gründer und CEO des US-Unternehmens, wurde 2019 geschieden. Seine Ehefrau bekam ein Viertel der Aktien. Trotzdem hält Bezos weiterhin den Titel des reichsten Mannes der Welt: Er besitzt 177 Milliarden Dollar. Das sind 47 Milliarden mehr als im Vorjahr. 47 und 9 Nullen… Auf welche Weise all dieses Geld erwirtschaftet wird, hinterlässt jedoch mehr als ein Geschmäckle: Amazon ist ein Menschen verachtendes System voller Unterdrückung, das so wenig wie möglich an die Gesellschaft zurück gibt.

Letztes Jahr ließ Jeff Bezos sich für eine großzügige Spende feiern: Er kündigte an, zehn Milliarden US-Dollar für den Kampf gegen den Klimawandel zu spenden und eine neue Initiative mit dem Namen „Bezos Earth Fund“ zu starten. Im Jahr 2019 kündigte er an, sagenhafte 98,5 Millionen Euro an Obdachlose zu spenden… Angesichts der Tatsache, dass Bezos als großer Profiteur der Corona-Krise in einem einzigen Jahr um fast 50 Milliarden Euro reicher geworden ist, wirken seine Spenden wie lächerliche Feigenblätter. Fühlbar sind sie für ihn nicht.

Gleichzeitig ist sein global agierender Konzern Weltmeister beim Steuersparen: 2017 und 2018 zahlte er in den USA keinen Cent. 2019 waren es 1,2 Prozent. Das, obwohl der Konzern einer der wertvollsten der Welt ist. In Europa verhält sich Amazon ebenso. Obwohl im Jahr 2020 der Umsatz des Online-Händlers um mehr als ein Drittel gestiegen ist, legt die Amazon EU S.à r.l., die aus dem EU-Steuerparadies Luxemburg operiert, einen Verlust von 1,2 Milliarden Euro vor. Der Amazon Watchblog beobachtet das Geschäftsgebaren des Konzerns genau und hat einen Fachmann befragt: „Amazon könnte genauso gut einen hohen Überschuss für das Handelsgeschäft in Europa ausweisen – einmal abgesehen davon, dass es sich bei den Amazon-Sparten um kaum trennbare Verbundgeschäfte handelt. Insgesamt könnten durch Vorabschöpfungen wohl rund sieben Mrd. Euro auf das Handels- und Marktplatzgeschäft in Europa gegengerechnet werden, wodurch sich das Handelsgeschäft ohne Marktplatz anteilig gerechnet mindestens um 2,5 Mrd. Euro besser darstellen würde,“ rechnet Amazon-Experte Professor Gerrit Heinemann vor.

Die EU, wo Amazon aus Luxemburg und Irland operiert, das ebenfalls viele Steuervorteile bietet, steht der Rechnerei relativ hilflos gegenüber: 2017 verlangte die für Wettbewerbspolitik zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager von Luxemburg eine Steuernachzahlung in Höhe von rund 250 Millionen Euro zuzüglich Zinsen wegen der Gewährung unzulässiger Steuervorteile für Amazon. Dadurch habe das Unternehmen seit 2003 drei Viertel seiner Gewinne nicht versteuern müssen. Eine lächerliche Strafe angesichts der enormen Summen, die der Konzern durch die Politik Luxemburgs sparen konnte.

Seit 2015 verbucht Amazon seine in Deutschland gemachten Gewinne auch in Deutschland. Das hat nicht viel geholfen, denn der Konzern vermischt immer wieder Zahlen verschiedener Sparten, um echte Gewinne zu verschleiern. 2019 wurden Gesamteinnahmen aus allen Aktivitäten in Deutschland in Höhe von 19,9 Milliarden Euro (22,323 Milliarden US-Dollar) erwirtschaftet. Amazon beschäftigt hierzulande rund 20 000 Mitarbeiter. Das niedrigste Gehalt liegt bei 1998 Euro für einen einfachen Versandmitarbeiter. Die direkt anfallenden Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträge beliefen sich laut Amazon auf insgesamt 261 Millionen Euro. Wie viel davon Sozialversicherungsbeiträge waren, gibt das Unternehmen aber nicht bekannt. Gewinne werden möglichst umgehend reinvestiert. Steuern hat Amazon in Deutschland bezahlt. Wie hoch diese waren, ist unbekannt.

In einem Blog-Beitrag des Unternehmens heißt es, Amazon leiste einen „steuerlichen Gesamtbeitrag von 1,6 Milliarden Euro“ in Deutschland. Allerdings berücksichtigt das Unternehmen außer den Sozialabgaben in dieser Rechnung auch die von den Kunden gezahlten Umsatzsteuern und von den Mitarbeitern gezahlte Lohnsteuern.(!) Unterm Strich, so berechnete Steuerexperte Christoph Trautvetter für „Plusminus“, dürften die Steuern auf Erträge in Deutschland noch unter 100 Millionen Euro liegen.

Bisher hat es der Onlinehändler geschafft, Gewerkschaften fern zu halten. Nun könnte sich das ändern. In Bessemer, Alabama, gab es erstmals eine Abstimmung. Zurzeit wird noch ausgezählt. Im Vorfeld wurde ein weiteres unrühmliches Detail der Arbeitsbedingungen bekannt: Seit Jahren kursieren Berichte über Amazon-Lieferfahrer, die aus Zeitdruck nicht zur Toilette gehen können und deshalb in Flaschen urinieren. Der Konzern schoss in zurück: „Sie glauben nicht wirklich die Sache mit dem in die Flasche pinkeln? Wenn das wahr wäre, würde niemand für uns arbeiten.“ Das US-Portal „Buzzfeed“ veröffentlichte wenig später Dienstanweisungen einer für Amazon tätigen Lieferfirma, in denen Fahrer dazu aufgerufen wurden, „Urinflaschen“ nach Schichtende aus ihren Vans zu entsorgen. Das Investigativportal „The Intercept“ postete Dokumente einer Amazonlogistics-Managerin: In Lieferzentren würden keine Tüten mit „menschlichen Fäkalien“ geduldet. In den sozialen Medien wurde eine Flut von Beweisfotos gepostet.

Das führte dazu, dass Amazon am Karfreitag kleinlaut zurückrudern musste. Der Handelskonzern kündigte an, das Urinflaschen-Problem lösen zu wollen.

Auch in Deutschland hat Amazon seit Jahren Ärger wegen der Arbeitsbedingungen. Hier gibt es zwar Betriebsräte, aber die Gewerkschaft Verdi fordert einen Tarifvertrag für die Beschäftigten. Seit 2013 wird deswegen immer wieder gestreikt, und immer mit überschaubaren Auswirkungen.

Im Oktober 2020 berichtete das Magazin Panorama im Ersten über die permanente Überwachung der Amazon-Mitarbeiter: Dokumente, die dem NDR vorliegen, belegten erstmalig: Genutzt wird dafür eine Software des Warenwirtschaftssystems. Am Ende entscheide auch die durch die Software gemessene Schnelligkeit, wer beschäftigt wird oder nicht, so der Vorarbeiter. Die Schnellen bleiben, die eher Langsamen müssen gehen. Die Folge: eine kontinuierlich steigende Durchschnitts-Rate, an der sich die Beschäftigten zu orientieren haben. Wer heute noch schnell genug ist, um weiter beschäftigt zu werden, kann schon morgen zu langsam sein – und damit vor dem Aus stehen.

An sogenannten Freisetzungstagen wird den Mitarbeitern mitgeteilt, ob ihr befristeter Vertrag ausläuft oder verlängert wird. Der Vorarbeiter berichtet: „Man hat die Unterlagen vor sich, die Security steht bereit, falls es Probleme gibt. Denn wenn mehrere Leute gleichzeitig gehen mit schlechter Laune, kann es natürlich auch mal zu verbalen Auseinandersetzungen oder auch zu Handgreiflichkeiten kommen.“

Gegen dieses Messungs-Verfahren geht die zuständige niedersächsische Landesbeauftragte für den Datenschutz vor und hat Amazon in einem Teilbescheid vom 28. Oktober 2020 die Nutzung untersagt, der Bescheid ist allerdings noch nicht bestandskräftig. Amazon Winsen dürfe demnach nicht „ununterbrochen jeweils aktuelle und minutengenaue Quantitäts- und Qualitätsleistungsdaten ihrer Beschäftigten erheben und diese nutzen.“ „Anders als die Behörde sind wir der Meinung, dass auch die Art und Weise der Datenerhebung rechtmäßig ist“, äußerte sich ein Amazon-Sprecher. Man wolle die Entscheidung gerichtlich überprüfen lassen.

Das gesamte Prüfverfahren gegen Amazon – unter anderem zu Fragen im Hinblick auf die Datenübermittlung an Drittländer und zum Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten – sei noch nicht abgeschlossen, sagte der Sprecher der Datenschutz-Behörde. „Bislang wurde noch kein Bußgeld verhängt, die LfD Niedersachsen geht aber davon aus, dass sie voraussichtlich ein Ordnungswidrigkeitenverfahren einleiten wird.“

Netzpolitik.org detailliert die Maßnahmen, denen Amazon-Mitarbeiter ausgesetzt sind:

  • Mitarbeiter in den Logistikzentren dürfen keine persönlichen Gegenstände mit in das Gebäude nehmen und müssen ihre Sachen inklusive Handy abgeben. Geld dürfen sie in einem klaren Plastikbeutel aufbewahren.
  • Die vielerorts installierten Kameras sollen nicht nur unter anderem Diebstähle verhindern, sondern auch jede Form der Absprache und Organisation der Beschäftigten (etwa in Gewerkschaften). Große Bildschirme in Lagerhallen sollen außerdem Aufnahmen von Beschäftigten zeigen, die beim Klauen erwischt worden sind.
  • Scanner messen die Leistung der Logistik-Mitarbeiter, etwa wie viele Sekunden eine Beschäftigte für das Füllen eines Regals braucht. Verstößt ein Mitarbeiter zu oft gegen die straffen Vorgaben, erhält er Warnungen und wird gekündigt. Dieses Verfahren wurde bereits mehrfach beschrieben und kritisiert – auch in österreichischen Amazon-Lagern. In Großbritannien sollen Amazon-Arbeiter 2018 aus Zeitdruck sogar den Gang zur Toilette vermieden und stattdessen in Flaschen uriniert haben.
  • Amazon analysiere mit einer speziellen Software verschiedene Kriterien, um herauszufinden, in welchen Filialen seiner Lebensmittelkette Whole Foods sich womöglich Mitarbeiter gewerkschaftlich organisieren könnten. Ausgewertet wird unter anderem die Loyalität und ethnische Vielfalt der Mitarbeiter, die örtliche Nähe zu einem Gewerkschaftsbüro, die von der Arbeitsschutzbehörde registrierten Verstöße und die Arbeitslosenquote vor Ort. Auch über dieses System, das mit Heatmaps dargestellt wird, wurde schon im April berichtet.

Nicht nur nach innen, sondern auch nach außen übt der Onlinehändler Druck aus: „Amazon lockt Kunden mit günstigen Preisen. Händler stehen auf der Handelsplattform im gnadenlosen Wettbewerb und immer wieder stellen Händler fest, dass das Einkaufswagenfeld für ihre Produkte plötzlich fehlt und die so kaum zu finden sind. In der ARD-Sendung Plusminus am 7. April 2021 berichten ein Verkäufer handgemachter Taschen aus Leder und eine Frau, die ein nachhaltiges Kartenspiel erfunden hat und es weitgehend über Amazon vertreibt: Sie kann ihren UVP von 16,99€, der bei Kartenspielen dieser Art nicht hoch ist, bei Amazon nicht eingeben, weil dann ihr Einkaufskorb verschwindet und es aussieht, als sei das Produkt nicht kaufbar. Dem Taschenhändler geht es ähnlich: Er will den Verkaufspreis erhöhen, weil die Rohware teurer wurde – der Warenkorb verschwindet.

Beide probieren aus, wie sie den Warenkorb wieder bekommen und kommen zu selben Ergebnis: Sie müssen ihren Preis deutlich senken. Und ein weiteres „Problem“ wird bekannt: Manchmal komme es vor, dass Amazon Ware im Lager ‚verliere‘, berichtet der Taschenverkäufer. Dann zahle das Unternehmen eine Entschädigung in einer von ihm selbst festgelegten (niedrigeren) Höhe. Tauche die Ware dann wieder auf, verkaufe Amazon sie selbst – zu einem auch selbst festgelegten Verkaufspreis. Damit tritt der Großhändler gegen den Kleinen in direkte Konkurrenz und kann Preise bis hinein in die Ladenstraßen diktieren: „Die lokalen Abnehmer unserer Karten sehen ja auch, dass sie bei Amazon billiger sind. Das heißt, wir können auf Dauer unseren UVP nicht mehr halten.“

Bisher ist es der EU nicht gelungen, eine Digitalsteuer einzuführen, was auch am Widerstand der USA scheiterte. Jetzt gibt es vielleicht einen Weg, der allen Ländern einen Vorteil bringt: US-Präsident Joe Biden und seine Finanzministerin Janet Yellen schlagen eine globale Unternehmenssteuer vor. Die könnte Steuerschlupflöcher stopfen. Kommentar Jeff Bezos: „Wir unterstützen eine Anhebung des Unternehmenssteuersatzes“…

Siehe auch:

Forbes-Liste 2021: Covid 19 hat die Reichsten noch reicher gemacht

Amazon ist angetreten, die Handelswelt das Fürchten zu lehren

Shitstorm über Amazon: ARD berichtet zur Situation der Leiharbeiter

Forbes-Liste 2021: Covid 19 hat die Reichsten noch viel reicher gemacht

Jedes Jahr interessant zu lesen ist die Liste der reichsten Menschen der Welt, zum 35. Mal herausgegeben vom Magazin Forbes. 13,1 Billionen Dollar besitzen diese Menschen zusammen gerechnet…

Es gibt 439 neue Namen auf der Liste, 210 davon aus China und Hongkong, 98 aus den USA. 250 Personen sind aus der Liste heraus gefallen. 86 Prozent aller Milliardäre haben ihr Vermögen 2020 teils deutlich gesteigert. Mit 724 Personen kommen noch immer die meisten Milliardäre aus den USA, aber China holt auf: Von 698 Milliardären sind 71 aus Hongkong und einer aus Macao. 628 Milliardäre kommen aus Europa, in 2020 waren es 511. Zusammen halten sie drei Billionen Dollar und sind um eine Billion reicher als im Vorjahr. Man sehe, dass die Pandemie den Superreichen nicht geschadet habe, kommentiert Forbes. In Indien leben insgesamt 140 Milliardäre, in Russland 117.

Nicht ganz überraschend ist die Spitze der weltweiten Liste: Hier hält sich auch 2021 der Amazon-CEO Jeff Bezos, gefolgt von Elon Musk (Tesla, Space X), der Familie Bernard Arnault (Luxusgüter, Frankreich), Bill Gates (Microsoft) und Mark Zuckerberg (Facebook). Umso interessanter ist jedoch die Gesamtentwicklung unter dem Eindruck der weltweiten Wirtschaftskrise, die durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie entstanden ist. Hier gab es ganz neue Profiteure. Da der rechnerische Reichtum je nach Börsenentwicklung ständig variiert, kann er nun auch tagesaktuell nachvollzogen werden.

Jeff Bezos‘ Reichtum hat sich durch die Krise deutlich gesteigert, da weltweit Menschen mangels Einkaufsmöglichkeiten vor Ort im Netz bestellt haben: Sein Vermögen stieg auf 177 Milliarden Dollar. Ihm folgen Elon Musk (Tesla, Space X), dessen Börsenwert steil auf 151 Milliarden Dollar gestiegen ist, Familie Bernard Arnault mit 150, Bill Gates mit 124 und Mark Zuckerberg mit 97 Milliarden.

Die Plätze 6 bis 10 belegen US-Investor Warren Buffet (96), Larry Ellisson (USA, Software) mit 93, Larry Page (USA, Google) mit 91,5, Sergey Prin (USA, Google) mit 89 und Mukesh Ambani (Indien, Mischkonzern) mit 84,5 Milliarden Dollar. Familie Carlos Slim Helu (Telecom Tycoon, Mexiko), die vor wenigen Jahren die Liste noch anführte, liegt jetzt auf Platz 16 mit 62,8 Milliarden. MacKenzie Scott, der 2019 bei der Scheidung von Jeff Bezos ein Viertel der Amazon-Aktien zugesprochen wurden, spendete 2020 zehn Prozent ihres Vermögens und liegt jetzt mit 53 Milliarden Dollar auf Platz 22. Dieter Schwarz (Lidl), der reichste Deutsche, ist 36,9 Millarden schwer und steht damit auf Platz 38 der Forbes-Liste.

Nach Deutschland ist Frankreich ein Hotspot der Milliardäre. Die reichsten dort erwarben ihr Vermögen über Luxusgüter, während die reichsten Deutschen ihr Geld über die Lebensmittel Discounter Lidl und Aldi erwirtschafteten. In Deutschland gibt es jetzt 136 Milliardäre; 2020 waren es 107. Zusammen halten sie 625 Milliarden Dollar (447 in 2020). Neben den alten Bekannten von Lidl, Aldi, BMW und anderen finden sich hier auch Namen, die im Corona-Jahr ganz neue Bedeutung bekamen: Ugur Sahin (BionTech) wird mit 4 Milliarden Dollar gelistet. Clemens Tönnies und Sohn Maximilian, deren Schlachtbetriebe im letzten Jahr viel unrühmliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, haben einen Wert von 1,6 Milliarden Dollar. Lutz Mario Helmig, Gründer der Helios-Krankenhaus-Gruppe, besitzt 2,1 Milliarden. Ralph Dommermuth, Gründer von United Internet (vormals 1&1), hat inzwischen einen Wert von 4,3 Milliarden Dollar. 5 Milliarden schwer ist Bernard Broermann, Gründer der Asklepios-Kliniken. Mathias Döpfner, dem Friede Springer ihre Aktien schenkte, ist mit einem Vermögen im Wert von 1,3 Milliarden Dollar gelistet.

Sehr viele Menschen sind im letzten Jahr an Covid 19 reich geworden; sei es nun über Masken und Schutzausrüstung, über Impfstoffe und Medikamente oder über Teile von medizinischer Ausrüstung. Insgesamt 439 Milliardäre, so Forbes, seien in diesem Bereich dazu gekommen. Die ersten 40 werden gesondert aufgezählt: 6,1 Milliarden Dollar machte Li Jianquan & family (China) unter anderem mit der Herstellung von Masken und Schutzanzügen. 4,3 Milliarden schwer ist Stéphane Bancel, CEO von Moderna (USA). Mit 3,3 Milliarden gelistet ist Liu Fangyi, dessen Unternehmen unter anderem Schutzhandschuhe produziert. Der Wert Uğur Şahins (BionTech) steigt rasant: am 7. April 2021 sind es schon 4,9 Milliarden Dollar.

Yuan Liping, Teilhaber eines chinesischen Unternehmens, das eine Produktions-Kooperation mit Astra-Zeneca hat, besitzt 3,6 Milliarden. Das Unternehmen des Chinesen Hu Kun produziert technische Teile zur Behandlung von Lungenerkrankungen. Er ist mit 2,4 Milliarden Dollar gelistet. Karin Satorius Herbst (2,4 Milliarden) und ihre Schwester Ulrike Baro (1,5 Milliarden Dollar) produzieren Laborzubehör für Covid 19-Tests. Noubar Afeyan (USA, 1,9 Milliarden) ist Mitgründer von Moderna und in zahlreiche andere Biontech-Aktien investiert. In dieser Art geht die Liste weiter. Alles, was mit Schutzausrüstung, Tests, Impfstoff und dessen Produktion, sowie technischer Ausrüstung zur Behandlung der Erkrankung zu tun hat, erwies sich als Goldgrube.

Und noch ein Bereich wächst im Rekordtempo: Die Krypto-Währungen. Die Zwillinge Cameron und Tyler Winklevoss hatten das Potential früh erkannt, schon 2012 begonnen, Bitcoin zu kaufen und besitzen jetzt jeder 3 Milliarden Dollar. Sam Bankman-Fried ist der reichste Krypto-Milliardär (8,7 Milliarden). Der 29jährige gründete Alameda Research und die Derivaten-Börse FTX. Überwiegend junge und ausschließlich Männer tummeln sich an der Spitze dieses risikoreichen Geschäfts.

72 Prozent, eine Rekordzahl von 1 975 Milliardären haben ihr Vermögen nicht geerbt, sondern aus eigener Kraft erreicht (selfmade). Im Vorjahr waren es noch 1 457  oder 70 Prozent. Zwei Drittel der Frauen zählen dazu.

Der jüngste Milliardär auf der Forbes-Liste ist 18. Kevin David Lehmann (Deutschland) gehören 50 Prozent der dm-Markt-Kette, was ihm einen Wert von 3,3 Milliarden Dollar verschafft. Der älteste Milliardär ist der 99jährige George Joseph, Gründer des US-Versicherungsunternehmens Mercury General. Ihm gehören 1,9 Milliarden Dollar. Die reichste Frau auf der Liste ist Francoise Bettencourt Meyers, Enkelin der Gründerin und Erbin von L’Oreal, Frankreich (73,6 Milliarden Dollar). Mit 22 Jahren die jüngste Frau unter den Milliardären ist Kylie Jenner (USA). Sie erreichte ihren Erfolg über ein von ihr gegründetes Kosmetik-Unternehmen. Um 300 Plätze nach unten auf Platz 1299 fiel auf der Liste Ex-Präsident Donald Trump. Sein Vermögen sank von 3,5 auf 2,4 Milliarden Dollar.

Ein Haiku auf die März-Nachtigall

Es ist die Nacht zum 27. März. Am Sonntag, wenn die Sommerzeit beginnt, wird der Mond voll sein, aber schon heute leuchtet er aus vollen Kräften vom klaren Nachthimmel. Obwohl die Temperaturen noch im niedrigen einstelligen Bereich liegen, singt gerade aus vollem Herzen draußen die Nachtigall – so früh im Jahr, wie ich sie noch nie gehört habe. Sie inspirierte mich zu einem Haiku in zwei Versen

Haiku ist eine sehr alte japanische Form des Gedichts. Bei einem Dreizeiler enthält Zeile eins 5, Zeile zwei 7 und Zeile drei wieder 5 Silben. Da die japanische Sprache sich jedoch sehr von unserer unterscheidet, ist diese Regel nicht unbedingt bindend.