Weltordnung und Weltwährung drehen: Der Stern des Westens sinkt

Die bisherige Weltordnung ist mitten in einem scharfen Umschwung – und kaum jemand redet darüber.

Noch.

In Deutschland jedenfalls.

Der US-Dollar und mit ihm die USA verlieren in immer rasanterem Tempo an weltweiter Dominanz. Was das für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bedeutet, blenden die meisten Politiker am liebsten aus, ist es doch zu beängstigend. In rasendem Tempo übernimmt der Osten unter Chinas Führung die wirtschaftliche Weltherrschaft. Immer öfter lachen Staaten weltweit den Westen und seinen politischen Führungsanspruch aus. Der US-Dollar und mit ihm die USA verlieren in immer rasanterem Tempo an weltweiter Dominanz. Am schlechtesten steht dabei Europa da: Im Gegensatz zu den USA hat der Staatenverbund kaum eigene Rohstoffe. Alles, was Europa zu bieten hat, ist Wohlstand, der auf Erfolgen der Vergangenheit basiert und ein hohes innovatives Potential. Aber der Abstand zu früheren Entwicklungsländern wird stetig kleiner.

Und das ist erst der Anfang.

Es ist der Ukraine-Krieg, der den lange schwelenden Ärger der Welt über den Führungsanspruch der USA so deutlich wie nie vorher offenbar werden lässt. Es begann mit der ständigen Provokation Russlands durch die Führungsmacht der Nato, die von allen Verbündeten selbstverständlich vehement geleugnet wird. Nachdem die Annektierung der Krim für Präsident Putin kaum Folgen hatte, sah dieser sich ermutigt, im nächsten Schritt gleich die ganze Ukraine einzunehmen und marschierte am 24. Februar 2022 dort ein.

Die Reaktion des Westens fiel aus, wie immer seit vielen Jahren: Mit ihrer ganzen Wirtschaftskraft machten sie mobil gegen den Angreifer. Wieder einmal wurde die Herrschaft der USA über den Dollar benutzt, um massive Sanktionen einzuleiten, die bis heute ständig verstärkt werden. Dieses Verhalten ist weltweit gefürchtet und verhasst, wird es doch seit Jahrzehnten zunehmend genutzt, um andere Staaten zu politischem Wohlverhalten im Sinne des Westens zu bewegen. Aber diesmal geht die Rechnung nicht auf. Weil die Sanktionen weltweit zu extrem steigenden Energiekosten geführt haben. Weil Nahrungsmittel so teuer geworden sind, dass immer mehr Menschen sie sich nicht leisten können. Weil die Wut auf Nordamerika einen Point of no Return erreicht hat.

Die USA sind ein zerrissenes Land. Unter der Präsidentschaft von Donald Trump wurden die widerstreitenden politischen Meinungen im Land derart offenbar, dass sie weltweit nicht mehr übersehen werden konnten: Rechte Hardliner ziehen das Land zunehmend weg von seinem demokratischen Grundsätzen, zurück in einen fast mittelalterlich wirkenden Zustand. Mehrere völkerrechtswidrige Kriege mit weltweit bekannten Kriegsverbrechen haben besonders im Osten die Achtung vor dem Land, das ständig mit dem Zeigefinger Menschenrechte und demokratische Werte anmahnt, immer weiter schwinden lassen. Gleichzeitig ist der Punkt gekommen, an dem sich das ungebremste Schuldenmachen der Nation gegen sie wendet: Auf mehr als 32 Billionen Dollar werden die Staatsschulden inzwischen geschätzt. 32 000 000 000 Dollar. Die Folgen: Allein die Zinszahlungen für diese enorme Summe lagen in den letzten neun Monaten bei 652 Milliarden Dollar – 25 Prozent höher als vor einem Jahr.

Von Oktober 2022 bis Juni 2023 gab die US-Regierung 1,4 Billionen Dollar mehr aus, als ursprünglich im Staatshaushalt veranschlagt – auch deshalb, weil sie mit insgesamt 60 Milliarden Dollar Hauptfinanzier der massiven Kosten zur Verteidigung der Ukraine ist. Das sind um 170 Prozent höhere Ausgaben als in der gleichen Periode des Vorjahres. Sie treffen zusammen mit sinkenden Staatseinnahmen und deutlich gestiegenen Kreditzinsen. „Wir entgleisen in einem alarmierend schnellen Tempo“ fasste die Vorsitzende des Commites für einen verantwortungsvollen Staatshaushalt, Maya Macguineas, zusammen. Den amerikanischen Bürgern geht es nicht anders: Deren Kreditkarten-Schulden haben jetzt die Milliardengrenze überschritten.

Viel zu spät mahnte erst im Juni 2023 US-Finanzministerin Janet Yellen, die frühere Fed-Chefin vor immer stärkeren Sanktionen durch ihr Land: „Sie könnten die Sanktionierten dazu bewegen, sich Alternativen zu suchen,“ erklärte sie. Aber jetzt ist ein Zurückrudern gar nicht mehr möglich. Im Juli 2023 fiel der US-Dollar auf das niedrigste Niveau seit 15 Monaten, im August setzt sich der Trend bisher fort. Während die Öl-Importe Chinas um mehr als 45 Prozent zunahmen, ist die strategische Ölreserve der Vereinigten Staaten auf dem niedrigsten Stand seit 1983. Russland, dessen Kriegskasse durch die Sanktionen ausgetrocknet werden sollte, hat eine weiter sprudelnde Einnahmequelle, indem es jede Menge Öl nach China und Saudi-Arabien verkauft. Saudi-Arabien exportiert sein eigenes Öl teuer nach Europa – ein Ringtausch also, so wie es Nato-Länder mit den Waffen für die Ukraine vereinbart haben.

In Europa hat man sich mit den Sanktionen selbst geschwächt: Im Winter 2022/2023 konnte eine Energiekrise nur knapp vermieden werden; wie es mit dem kommenden Winter aussieht, wissen wir noch nicht. Die Energiekosten insgesamt sind erheblich gestiegen, besonders in Deutschland, dem Wirtschaftsmotor der EU. Inzwischen stagniert die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Auch Deutschland unterstützt die Ukraine im Kampf gegen Russland massiv: Bisher wurden, so Finanzminister Lindner am 14. August in Kiev, 22 Milliarden dafür ausgegeben, davon 12 Milliarden Euro für militärische Hilfe.

Ein kurzer, nicht vollständiger Abriss der letzten 50 Jahre soll aufzeigen, wie sich die bisherige Weltordnung zusammensetzt. In dieser gibt es sogenannte Schwellen- und Entwicklungsländer, die alle in wirtschaftlicher Hinsicht dem Westen bisher nicht das Wasser reichen konnten. Dazu gehören der Nahe Osten ebenso wie ganz Afrika, wie Indien, China und Südamerika. Dies hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten aber zunehmend verändert: Sowohl die arabischen Länder, als auch China und Indien, sowie immer noch Russland, drängen mit Macht, zunehmender Wirtschaftskraft und wachsendem Führungsanspruch auf die Weltbühne.

In den 1970er Jahren haben die USA und Saudi-Arabien einen Deal beschlossen: Die USA würden das Land beschützen, und dafür würden alle Öl-Verkäufe in Dollar abgerechnet. Nur mühsam erkennen die amerikanischen Politiker, wie sehr sich die Zeiten inzwischen gewendet haben. Das arabische Land ist schon lange nicht mehr ihr Freund, sondern erhebt im Nahe Osten einen eigenen Führungsanspruch. „Die Golfstaaten und Russland sind begierig darauf, alle Formen ihrer Zusammenarbeit innerhalb der OPEC zu verstärken“, titelten die Arab News am 14. Juli. Man müsse die globale Wirtschaft und die Stabilität des Ölmarktes stärken, hieß es, und: Die Golfstaaten stehen hinter dem UN-Beschluss, sich nicht in die „inneren Angelegenheiten“ (gemeint sind der Ukraine-Krieg und Chinas Anspruch auf Taiwan) anderer Länder einzumischen.

Die G7 (Abkürzung für Gruppe der Sieben) ist ein informeller Zusammenschluss der zu ihrem Gründungszeitpunkt bedeutendsten Industriestaaten der westlichen Welt in Form regelmäßiger Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Das Forum dient dem Zweck, Fragen der Weltwirtschaft zu erörtern. Ihm gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten an. Die Europäische Kommission hat einen Beobachterstatus.

Die G7-Staaten stellen etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung und erwirtschaften etwa 45 Prozent des weltweiten Bruttonationaleinkommens. Die Gruppe wurde 1975 etabliert und 1998 durch die Aufnahme Russlands zur G8 erweitert. Am 24. März 2014 schlossen die anderen Mitglieder Russland aufgrund der Annexion der Krim aus und kehrten zum ursprünglichen Format der G7 zurück.

Den ersten „Weltwirtschaftsgipfel“, aus dem die G7 entstanden, haben 1975 der frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing und der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt ins Leben gerufen. Die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Großbritannien und den USA – die Gruppe der Sechs – trafen sich zu einem Kamingespräch auf Schloss Rambouillet in Frankreich. Angesichts der ökonomischen Probleme in den 1970er-Jahren – erste Ölkrise und Zusammenbruch des Systems der festen Wechselkurse (Bretton Woods) – diente das Treffen einem Gedankenaustausch über Lösungsansätze.

Foto: Gründungsversammlung der G6 1975 auf Schloss Rambouillet, Frankreich

Bestandteil des Bretton-Woods-Abkommens war der „White Plan“. In dessen Zentrum stand die US-Währung, zu der alle anderen Währungen ein fixes Wechselverhältnis hatten. Das Tauschverhältnis zwischen Dollar und einer Unze Gold wurde auf 35 Dollar je Unze Feingold (31,104 Gramm) festgelegt. Um die Goldparität des Dollars zu sichern, verpflichtete sich die Federal Reserve Bank of New York (FED), Gold zu diesem Preis unbegrenzt zu kaufen oder zu verkaufen. Der Goldpreis in US-Dollar wurde so für Jahrzehnte festgelegt. Der Dollar war damit goldgedeckte Weltleitwährung, eine Tatsache, die den USA zu großer wirtschaftlicher Macht verhalf.

Die Zentralbanken der Mitgliedsstaaten verpflichteten sich im Vertrag von Bretton Woods dazu, durch Eingriffe an den Devisenmärkten die Kurse ihrer Währungen in festgelegten Grenzen zu halten. Sobald einer der Wechselkurse nicht mehr dem realen Austauschverhältnis entsprach, mussten sie Devisen kaufen beziehungsweise verkaufen, um das Verhältnis wiederherzustellen. Devisengeschäfte waren hauptsächlich Käufe und Verkäufe von einheimischen Währungen der jeweiligen Länder gegen den US-Dollar. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wurde geschaffen, um das Funktionieren des Systems zu gewährleisten.

Tabelle: IWF – Wikipedia

Das Bretton-Woods-System litt von Anfang an unter einem als Triffin-Dilemma bezeichneten Konstruktionsfehler. Der wachsende Welthandel führte zu einem steigenden Bedarf an Dollar-Währungsreserven. Diese Währungsreserven konnten aber nur durch konstante Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber den USA erwirtschaftet werden. Die USA unterlagen dabei nicht dem Leistungsbilanzanpassungszwang anderer Länder, weil die Verschuldung in eigener Währung vom Ausland finanziert wurde, solange ausländische Staaten ein Interesse daran hatten, Währungsreserven anzulegen.

Ständige US-Leistungsbilanzdefizite mussten jedoch früher oder später das Vertrauen in den Dollar untergraben. Durch hohe Leistungsbilanzdefizite der USA überstiegen die Ende der 1950er Jahre bei ausländischen Zentralbanken befindlichen Dollarbestände die Goldreserven der USA bei weitem. Wenn alle Bretton-Woods-Mitglieder gleichzeitig auf der im Bretton-Woods-System vorgesehenen Goldeinlösepflicht bestanden hätten, hätten die USA dem nicht vollumfänglich nachkommen können.

Der Dollarpreis am freien Goldmarkt hatte schon über längere Zeit Druck auf den offiziellen Goldpreis ausgeübt. Als im Februar 1973 eine Entwertung von 10 Prozent bekannt gegeben wurde, entschieden sich Japan und die EWR-Länder relativ schnell dazu, die Wechselkurse ihrer Landeswährungen zukünftig nicht mehr am Dollar zu fixieren. Zwischen dem 11. und 14. März 1973 beschlossen mehrere europäische Länder den endgültigen Ausstieg aus dem System fester Wechselkurse, angeführt von der Schweiz und Großbritannien. Im selben Jahr wurde das Bretton-Woods-System offiziell außer Kraft gesetzt. Danach wurden in den meisten Ländern die Wechselkurse freigegeben.

Die heutige Weltwährungsordnung ist eine Mischung aus einem System mit fixen und mit flexiblen Wechselkursen. Zwischen den Ländern des Europäischen Währungssystems EWS und Nichtmitgliedsländern wie zum Beispiel Japan und den USA besteht ein sich frei bewegendes Wechselkurssystem. Auf den internationalen Devisenmärkten in London, New York, Tokio und Frankfurt passen sich in diesem Wechselkurssystem die einzelnen Währungen den Gegebenheiten von Angebot und Nachfrage an. Gold spielt als internationales Zahlungsmittel kaum mehr eine Rolle, es sichert den heutigen Dollar nicht mehr ab. Die Tatsache, dass der weltweite Handel vorwiegend in Dollar getätigt wird, sichert noch immer den Status der USA.

Die G20 ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss aus 19 Staaten und der Europäischen Union. Sie repräsentiert die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Die G20 dient vor allem als Forum für den Austausch über Probleme des internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems, aber auch zur Koordination bei weiteren globalen Themen wie Klimapolitik, Frauenrechten, Bildungschancen, Migration oder Terrorismus. In den in der G20 direkt oder indirekt vertretenen Staaten leben knapp unter zwei Drittel der Weltbevölkerung. Sie erwirtschaften über 85 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) und bestreiten rund drei Viertel des Welthandels (Stand Ende 2016).  Sie sind auch für rund 80 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Das mit Abstand geringste Pro-Kopf-Einkommen der G20-Staaten hat Indien. Konkrete Erfolge waren etwa nach der weltweiten Finanzkrise die Stabilisierung der Finanzmärkte durch verbindliche Eigenkapitalquoten und strengere Regeln zur internationalen Bankenregulierung. Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen Steuervermeidung (wie etwa die globale Mindeststeuer) vereinbart, der Informationsaustausch zur Terrorabwehr verbessert, die Covax-Initiative vorbereitet und Maßnahmen zum Kampf gegen den Klimawandel auf den Weg gebracht.

Tabelle: IWF-Wikipedia

Die BRICS-Staaten sind eine Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften. Die Abkürzung „BRICS“ steht für die Anfangsbuchstaben der fünf zugehörigen Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Etwas mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung, knapp über drei Milliarden Menschen, leben in den BRICS-Staaten. Ihr Anteil am nominellen weltweiten Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2021 ein Viertel. Beim BIP nach Kaufkraftparität lag er mit über 31 Prozent deutlich höher. (Zum Vergleich: In den G7-Staaten leben etwa 11 Prozent der Weltbevölkerung, kaufkraftbereinigt werden dort 33 Prozent des weltweiten BIP erwirtschaftet).

Die New Development Bank, ehemals BRICS Development Bank wurde als eine multilaterale Entwicklungsbank am 15. Juli 2014 von den BRICS-Staaten als eine Alternative zu den bereits existierenden Institutionen Weltbank und Internationalem Währungsfonds gegründet. Als Schwesterorganisation entstand das Contingent Reserve Arrangement (CRA) mit einem Anfangskapital von 100 Milliarden Dollar. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs seit 2022 und des Konflikts um Taiwan „strebt der BRICS-Staatenbund nach mehr politischem Gewicht und versucht, sich als Alternative zur G7 zu positionieren“, so Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zum Ukrainekrieg selbst haben sich die Mitglieder der BRICS-Staaten nur zurückhaltend geäußert.

Vor dem Gipfel vom 22. bis 24. August 2023 in Südafrika, zu dem insgesamt 67 Staatschefs eingeladen sind, haben 40 weitere Staaten ihr Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft geäußert, darunter Bahrain, Indonesien, Mexiko, Nigeria und die Vereinigten Arabischen Emirate. Davon haben bisher 22 einen offiziellen Aufnahmeantrag gestellt, darunter Ägypten, Algerien, Argentinien, Iran und Saudi-Arabien. Südafrika, das den Gipfel leiten wird, hat überdies alle Staatschefs des afrikanischen Kontinents eingeladen, mit der Absicht, ganz Afrika in den Staatenbund zu integrieren. Auf dem Kontinent konkurrieren derzeit China, Russland und der Westen um Einfluss auf die rohstoffreichen, aufstrebenden Länder.

Ein weiterer Schwerpunkt der Interessen ist Südamerika. Da gibt es das Lithium-Dreieck mit Chile, Argentinien und Bolivien, in dem 60 Prozent der weltweiten Lithiumreserven zu finden sind. Peru und Chile sind die beiden weltgrößten Kupferproduzenten, und Brasilien besitzt 19 Prozent aller Nickel-Reserven. Vor dem Hintergrund des Klimawandels werden Unmengen der genannten Metalle gebraucht, um Energie speichern zu können. Auch hier scheinen der Westen und der Dollar ein Rennen zu verlieren: Zahlreiche Länder Südamerikas sind dabei, sich für den Yuan = CNY (Renminbi = RMB), also die chinesische Währung als Zahlungsmittel bei internationalem Handel zu entscheiden. Auch der Iran, der wegen der US-Sanktionen sein Öl nur schwer verkaufen kann, ist inzwischen im bilateralen Handel auf Landeswährungen ausgewichen. Vor wenigen Tagen haben Indien und Saudi-Arabien einen Vertrag unterzeichnet, wonach Indien seine Ölkäufe in seiner eigenen Währung, der Rupie, bezahlen darf. Die erste Zahlung ist diese Woche erfolgt. Argentinien will den Banken erlauben, Kundenkonten in Yuan zu eröffnen.

So könnte das Zahlungssystem der BRICS-Staaten aussehen unter Zuhilfenahme der Landeswährungen und unterstützt durch neue digitale Währungen.

Eines der großen Ziele der BRICS-Gruppe ist es, sich ein- für allemal aus der Klammer des Dollars zu befreien. Wie wichtig das für viele Staaten weltweit ist, wurde mit dem Ukrainekrieg noch einmal besonders deutlich. Die USA benutzen ihre Währung immer wieder, um mit Hilfe von „Sanktionen“ andere Staaten zu politischem Handeln in ihrem Sinn zu zwingen. Zwei Staaten, die darunter seit Jahrzehnten leiden, sind beispielsweise Kuba und der Iran. Jetzt sind so gut wie alle Staaten weltweit betroffen: Durch US-Sanktionen gegen Russland, die den Handel mit dem Land und dessen befreundeten Staaten empfindlich behindern, leiden vor allem ärmere Länder, für die sich Energie und Nahrungsmittel in teils unerträglicher Weise verteuert haben.

Deshalb prüft die BRICS-Gruppe die Einführung einer eigenen Währung, die durch Gold und andere wertvolle Ressourcen gedeckt werden könnte, wie etwa mit Seltenen Erden. Als ersten Schritt soll nächste Woche über einen Ausschuss gesprochen werden, der die Einrichtung eines gemeinsamen Zahlungssystems planen soll. Jedes Mitglied soll auch seine eigene Währung einbringen können. Die Neue Entwicklungsbank hat sich außerdem zum Ziel gesetzt, bis 2026 ein Drittel ihrer Kredite in Landeswährungen zu vergeben. Man habe nicht die Absicht, in einen Wettbewerb gegen den Dollar einzutreten, heißt es. Muss man ja auch gar nicht, wenn man ohne diesen auskommt. Verschiedene Kryptowährungen, wie etwa der digitale Yuan, der jetzt in China getestet wird, bieten weitere Möglichkeiten. Die Nutzer können ihr Geld in einer App über das Handy verwalten.

Foto: CZ. Zlataky – Unsplash

Eine Währung ist immer so viel wert, wie sie an Vertrauen unter den Nutzern hat. Das gilt besonders, wenn die Währungen nur aus gedrucktem Papier bestehen, wie der Dollar und auch der Euro. Dass das Vertrauen in den Dollar sinkt, ist seit einiger Zeit auch daran zu erkennen, dass die Zentralbanken weltweit ihre Goldkäufe verstärken. China hat allein 2023 bis einschließlich Juni nach eigenen Angaben 165 Tonnen Gold gekauft und seine offiziell gemeldeten Reserven auf 2113 Tonnen aufgestockt. Im gesamten Jahr 2022 kaufte das Land nur 62 Tonnen. Es ist außerdem eines der Länder mit den größten Goldreserven weltweit. Seit Jahrzehnten hält China massive Dollar-Reserven, die es in letzter Zeit verstärkt abstößt. Aber: Durch die Ausweitung des Handels in der Landeswährung vermehrt sich automatisch die Geldmenge in Yuan, was wiederum dessen Wert drückt. Ein Argument mehr für eine BRICS-Gemeinschaftswährung.

Insgesamt beliefen sich die weltweiten Goldreserven 2022, soweit sie veröffentlicht wurden, auf 35 500 Tonnen. Seit 2021, besonders stark aber seit dem letzten Quartal 2022, steigen die Goldkäufe massiv an. Die im Verhältnis mit Abstand größten Goldkäufe tätigte 2022 die Türkei: Sie steigerte ihre Reserven um 148 auf 542 Tonnen. Auch die Türkei hegt Großmacht-Gelüste, befindet sich aber seit geraumer Zeit in einer galoppierenden Inflation. Die USA, das Land mit den höchsten Goldreserven weltweit, kauften 2022 113 Tonnen zu.

2022 erwarben die Zentralbanken so viel Gold wie seit 1967 nicht mehr. Im Halbjahresbericht 2023 des World Gold Council setzt sich diese Tendenz fort. Nur scheinbar wird sie im zweiten Quartal des laufenden Jahres durchbrochen: Die Türkei musste wegen der Erdbebenkatastrophe 102 Tonnen Gold wieder verkaufen. Russland vermeldete den Verkauf von drei Tonnen Gold, es hält geschätzte 2 300 Tonnen in Reserve. Deutschland gab, wie im Vorjahr, zwei Tonnen für die Produktion von Goldmünzen frei und kaufte, wie schon seit Jahren, nichts zu. Sieht man von der Katastrophe in der Türkei ab, ist der Trend zum Kauf von Gold bei den Zentralbanken weiter ungebrochen.

Zum zweiten Augustwochenende fiel der Goldpreis bis auf ein Tief von 1 912 US-Dollar. Unter anderem der weltweite Anstieg der Zinsen macht das zinslose Gold für Investoren zurzeit weniger attraktiv. Betrachtet man jedoch die sich wandelnde Situation der Weltordnung, macht es Sinn, Goldvorräte aufzustocken, wie es viele Staaten zurzeit tun.

Saudi-Arabien hat angekündigt, 15 Milliarden Riyal (3,65 Milliarden Euro) in seine Gold-Industrie zu investieren. Die Minenproduktion soll ebenfalls deutlich ausgeweitet werden. Das Land hat seine Goldreserven inzwischen auf 323 Tonnen aufgestockt und ist zurzeit in Verhandlungen mit Pakistan, wo es sich an der Erschließung einer großen Kupfermine beteiligen will. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil die USA unter anderem Kupfer zum Metall von nationalem Interesse erklärt haben und den Handel damit entsprechend einschränken. Pakistan hat den Golfstaaten Investitionsmöglichkeiten im Wert von Milliarden von Dollar angeboten, was diesen die Möglichkeit bietet, ihr Portefolio zu diversifizieren. Indien hat im Juli 2022 seine erste internationale Edelmetall-Börse eröffnet. Außer bilateralem Handel in Landeswährungen haben auch Bemühungen zugenommen, im Handel mit Gold zu zahlen.

TonnesQ2’22Q3’22Q4’22Q1’23Q2’23 y/y change
Supply      
Mine production889.3950.4948.5857.1923.44%
Net producer hedging2-26.5-13.336.19.5383%
Total mine supply891.3923.9935.2893.2932.85%
Recycled gold285.3268.6290.7311.7322.313%
Total Supply1,176.61,192.51,225.91,204.91,255.27%
        
Demand      
Jewellery fabrication493.5582.6601.9511.5491.30%
 Jewellery consumption461.7525.6628.5474.8475.93%
 Jewellery inventory31.857.1-26.736.715.4-52%
Technology78.377.372.170.170.4-10%
 Electronics64.363.557.956.156.4-12%
 Other Industrial11.411.311.711.611.61%
 Dentistry2.62.52.42.42.4-10%
Investment213.8103.8250.8275.9256.120%
 Total bar & coin demand261.2347.9340.4304.5277.56%
  Physical Bar demand172.7225.5222.6183.4162.9-6%
  Official Coin70.889.48996.488.925%
  Medals/Imitation Coin17.63328.924.725.847%
 ETFs & similar products-47.4-244.1-89.6-28.7-21.3
Central banks & other inst.158.6458.8381.8284102.9-35%
Gold demand944.21,222.51,306.61,141.5920.7-2%
OTC and other232.5-30.1-80.763.4334.544%
Total Demand1,176.61,192.51,225.91,204.91,255.27%
LBMA Gold Price, US$/oz1,870.61,728.91,725.91,889.91,975.96%
Source: ICE Benchmark Administration, Metals Focus, World Gold Council

In Europa gibt es mit Ausnahme von Rumänien keine nennenswerten Goldvorkommen. Das rumänische Gold liegt überdies unter den Karpaten und wäre nur unter großen Schwierigkeiten zu fördern. Die Staaten Europas halten jedoch mit Stand November 2022 zusammen 10 256 Tonnen Gold. Davon entfallen 3 555 auf Deutschland, das nach den USA mit 8 134 Tonnen rechnerisch die zweithöchsten weltweiten Goldreserven hält. Europa steht also zumindest auf den ersten Blick mit seinem Bestand an der Welt-Reservewährung recht gut da. Aber: Ähnlich wie in den USA sind die Länder Europas hoch verschuldet. Auch Deutschland macht da seit der Covid-Pandemie keine Ausnahme mehr.

Nicht einbezogen obige Schulden sind haushaltstechnische Tricksereien. In Deutschland sind das die sogenannten Sondervermögen. Hier handelt es sich um Ausgaben zu bestimmten Aufgaben, die zusätzlich zum Bundeshaushalt umgesetzt werden. Sie haben jeweils eigene Einnahmen-, Ausgaben- und Finanzierungspläne. Die durch sie aufgenommenen Schulden werden nicht zur Staatsverschuldung hinzugezählt. Zurzeit werden im Bundeshaushalt 2023 folgende Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung bedient: Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS), Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), Investitions- und Tilgungsfonds (ITF), Restrukturierungsfonds (RSF) und das Sondervermögen Bundeswehr (SV BW).

Insgesamt ergab sich laut Juli-Mitteilung des Finanzministeriums: Der Bund hatte bis zum 31. Dezember 2022 Kredite in Höhe von 1 551,7 Milliarden Euro aufgenommen. Dieser Bestand erhöhte sich zum 30. Juni 2023 auf 1 601 Mrd. Euro. Die Erhöhung gegenüber dem 31. Dezember 2022 um 49,3 Milliarden resultierte aus neuen Aufnahmen im Volumen von 303,4 Milliarden, denen Fälligkeiten im Volumen von 254,1 Milliarden Euro gegenüberstanden. Die Bedienung der Schulden wird mit zunehmenden Zinserhöhungen durch die EZB immer teurer: Von Anfang Januar bis Juni 2023 wurden für die Verzinsung aller auch in früheren Jahren aufgenommenen bestehenden Kredite saldiert 22,8 Milliarden Euro aufgewendet.

Die USA haben sich auf China als Hauptrivalen um die wirtschaftliche Vorherrschaft festgelegt und inzwischen die Ausfuhr zahlreicher Wirtschaftsgüter dorthin eingeschränkt oder verboten. Damit soll die Entwicklung des Landes verlangsamt werden – was allerdings ein zweischneidiges Schwert ist: China verfügt über große Mengen von Rohstoffen, die andernorts nur schwer zu bekommen sind, wie etwa seltene Erden. Weltweit kauft sich das Land seit Jahren in die Gewinnung von Rohstoffen ein. Gelingt es dem Westen nicht, trotz aller Schulden seine wirtschaftliche Vormachtstellung zu erhalten, ist sein Schicksal besiegelt: Die Führungsmächte der kommenden Weltordnung sitzen im Osten. So wie im Übrigen auch die meisten Einwohner dieser Erde: Während Europa, Kanada und die USA nichtmal eine Milliarde Menschen zählen, die zudem immer älter werden, wohnen allein in China und Indien zusammen schon die dreifache Anzahl an Menschen. Zwar gibt es auch unter den BRICS-Staaten erhebliche Rivalitäten, die die Entwicklung verlangsamen werden. Aber die Herrschaft der ungeliebten USA und ihres Dollars los zu werden, ist ein gemeinsames Ziel, das alle enorm verbindet. Eine gemeinsame Währung, vertrauenswürdig durch ihre Deckung mit Gold und anderen seltenen Gütern, würde außerdem die Wirtschaft aller Beteiligten nachhaltig stärken.

Tweet von „Gold-Telegraph“ zum Thema „Denkanstöße am Beispiel der Vereinigten Arabischen Emirate:

  • Wer ist ein Verbündeter der Vereinigten Staaten? Die Vereinigten Arabischen Emirate.
  • Wollen die Vereinigten Arabischen Emirate den BRICS-Staaten beitreten? Ja.
  • Wohin wurde eine beträchtliche Menge russischen Goldes gelenkt? In die Vereinigten Arabischen Emirate.
  • Die Luftstreitkräfte der Vereinigten Arabischen Emirate und Chinas planen, noch in diesem Monat zum ersten Mal gemeinsam zu trainieren.
  • Der Herrscher der Vereinigten Arabischen Emirate besuchte Russland im vergangenen Jahr zweimal, um sich mit Wladimir Putin zu treffen. Die Wirtschaft der Vereinigten Arabischen Emirate ist die viertgrößte im Nahen Osten.
  • Im Mai erfuhren wir, dass die VAE sich nicht mehr an Operationen einer von den USA geführten Task Force zum Schutz der Golfschifffahrt beteiligen würden.
  • Im Juni wurde bekannt, dass der iranische Marinekommandant Pläne für ein Seebündnis zwischen Iran, Saudi-Arabien, Indien, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten angekündigt hat.

So sieht eine sich verändernde Weltordnung aus.“

Beitragsbild: Monstera-Production, Pexels

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Weltweite Hinrichtungen per Drohne, gesteuert über Ramstein

„Egal, wie lange es dauert und wo ihr seid: Wir kriegen euch“ tönte letzte Woche marzialisch US-Präsident Joe Biden vor den Kameras. Da hatte gerade eine Drohne den Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri, der in einem Safe-Haus in Afghanistan auf den Balkon getreten war, gezielt getötet. Al-Sawahiri galt als Nachfolger von Osama bin Laden, der 2011 bei einem Einsatz von US-Spezialkräften in Pakistan getötet wurde. Beides geschah, ganz wie in den zahlreichen US-Heldenfilmen, ohne Gerichtsurteil, ohne Information der jeweiligen Regierungen – und damit in einem Bruch des Völkerrechts, wie auch der Menschenrechte.

Weltweit töten US-Drohnen ohne Gerichtsurteile und in völliger Eigenregie vermeintliche „Terroristen“, im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“. Immer wieder treffen sie aber auch Unschuldige. Panorama hat für die ARD minutiös nachgezeichnet, wie wegen eines Irrtums sieben afghanische Kinder und drei unschuldige Erwachsene von der Rakete einer Drohne getötet wurden (siehe Video unten). Beteiligt ist in den meisten Fällen die US-Basis im deutschen Ramstein. Die Grünen haben diese Praxis jahrelang als Bruch des Völkerrechts kritisiert, die Regierung in Anträgen zum Handeln aufgefordert. Doch nun, selbst an der Macht, scheuen sie die einst so klaren Worte.

Annalena Baerbock, die grüne Außenministerin, die überall wie eine Lichtgestalt für Völkerrecht und Menschenrechte eintritt, bezieht sich dabei grundsätzlich auf Staaten, die nicht mit dem Westen verbündet sind. Neben China und den von den USA als Schurkenstaaten benannten Ländern, geht es dabei selbstverständlich zurzeit gegen die Kriegsverbrechen Russlands im Ukraine-Krieg. Die hehren und berechtigten Anliegen werden von Menschenrechtsorganisationen bei jeder Gelegenheit eingefordert. Aber sie haben einen riesigen blinden Fleck: Auch der Westen begeht Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen. Nicht nur die USA: Deutschland ist mitschuldig, weil es den Betrieb der Drohnensteuerungsanlage Ramstein nicht nur zulässt, sondern auch ganz bewusst nicht kommentiert. Panorama hat versucht, dazu einen Kommentar Baerbocks zu bekommen. Obwohl zwei Monate Zeit waren, weigerte sich die Außenministerin „aus Termingründen“.

„Wie auch immer der Zustand seiner Demokratie sein mag: Deutschland ermöglicht Amerikas heimliche Kriegsführung in Afrika“, schreibt Netzpolitik.org in einem detaillierten Aufsatz über die Aktionen in Ramstein. Und weiter: „In vielerlei Hinsicht ist dieser militarisierte Streifen Deutschlands ein Pulverfass. Die gemeinsame NATO-Kommandobehörde „Allied Air Command“, die für alle Luftoperationen und in Weltraumfragen der NATO verantwortlich ist, hat ihren Sitz seit 2013 in Ramstein. Die Kommandobehörde beinhaltet ein Raketenabwehrzentrum, den Kern des neuesten US-Raketenschilds, welches der Kreml als Bedrohung ansieht, da es einen Erstschlag gegen Russland wahrscheinlicher machen würde.“

Die Militärs der USA sind von den Möglichkeiten der Drohneneinsätze begeistert. „Unsere RPA-Unternehmung“ (RPA, ferngesteuerte Flugzeuge) fliegt jetzt „Kampfeinsätze auf dem gesamten Globus“, sagte der für das Air Combat Command zuständige General Herbert Carlisle gegenüber einem Senatskomitee im März 2016. „Sie bestücken unsere Entscheidungsträger mit Informationen, unsere Krieger mit Zielen und unsere Feinde mit Angst, Furcht und ultimativ ihrem zeitlichen Ende.“ Heute sind knapp 8000 Mitarbeiter der Luftwaffe allein dem Predator- und Reaper-Drohnenprogramm gewidmet. „Von den 15 Basen mit RPA-Einheiten“, sagte Carlisle, „haben 13 Kampfeinheiten. Diese Mission ist von solcher Wichtigkeit, dass wir auf ein konsistentes Wachstum an Fluggeräten, Personal und Resultaten setzen.“ 

Inzwischen hat die NATO unter Führung der USA auf dem Militärflugplatz Sigonella/Sizilien die Main Operating Base für ihr Aufklärungssystem Alliance Ground Surveillance errichtet. Es basiert auf der Drohne Global Hawk. Im Gegensatz zu Deutschland ging das praktisch lautlos und ohne jede öffentliche Debatte. In der Bundesrepublik gibt es immer wieder Proteste gegen Hinrichtungen mittels Drohnen, die über Ramstein gesteuert werden, weshalb manche Experten darüber spekulieren, dass diese Aktivitäten komplett nach Italien verlegt werden könnten. Europa ist für die USA im Drohnenkrieg unverzichtbar: Aufgrund der Krümmung der Erde können die Geräte nicht direkt aus den USA gesteuert werden. Die US-Drohnenangriffe, die 2001 unter George W. Bush begonnen wurden, haben dramatisch zugenommen – von insgesamt etwa 50 während der Bush-Jahre auf 12.832 bestätigte Angriffe allein in Afghanistan während der Präsidentschaft Donald Trumps. Auch bei eklatanten Irrtümern und vielen zivilen Opfern bleiben die handelnden Soldaten in der Regel straffrei.

Im Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner das Gelände bei Ramstein-Miesenbach erobert und ab 1951 erweitert. Aus dem Militärflughafen „Landstuhl Air Base“ und dem Verwaltungstrakt „Ramstein Air Force Installation“ wurde dann 1957 die „Ramstein-Landstuhl Air Base“. Seit 1971 ist die Transporteinheit der US Air Force auf der Air Base stationiert. 1974 bezog außerdem die NATO mit ihrer Kommandobehörde für Luftstreitkräfte einen Gebäudekomplex auf dem US-Areal. Die „Ramstein Air Base“, wie sie heute offiziell heißt, liegt etwa einen Kilometer von Ramstein-Miesenbach entfernt und rund 13 Kilometer westlich von Kaiserslautern. Das Gelände ist etwa 1.400 Hektar groß. Der Lärm der Air Base ist groß, die Flugbewegungen sind jedoch mit keiner App nachvollziehbar.

Die Bedeutung der Air Base Ramstein für das US-Militär ist enorm. Der Flugplatz hat sich zum wichtigsten Drehkreuz für Fracht- und Truppentransporte der US Air Force weltweit entwickelt. Auch für Evakuierungsflüge wird der Flughafen regelmäßig genutzt. Verletzte Soldatinnen und Soldaten können im nahen Landstuhl Regional Medical Center behandelt werden, dem größten US-Krankenhaus außerhalb der USA. Auf der Air Base ist neben der US Air Force auch das Hauptquartier des Allied Air Command stationiert, einer Kommandobehörde der Luftstreitkräfte der NATO. Von Ramstein aus überwacht die NATO die Raketenabwehr des Bündnisses sowie die Weltraumaktivitäten der Mitgliedsstaaten. Für das Hauptquartier arbeiten mehr als 600 Menschen aus fast 30 verschiedenen Nationen.

Das Auto, in dem in Kabul zehn Unschuldige Menschen starben.

Drei Jemeniten, deren nahe Angehörige durch über Ramstein gesteuerte Drohnen ums Leben gekommen sind, versuchen seit Jahren, die Bundesregierung wegen einer Mitverantwortung zu verklagen. Das Oberverwaltungsgericht Münster urteilte. „Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die USA unter Verwendung technischer Einrichtungen auf der Air Base Ramstein und dort stationierten eigenen Personals bewaffnete Drohneneinsätze im Jemen durchführen, die zumindest teilweise gegen Völkerrecht verstoßen“, schreiben die Münsteraner Richter.

Das Gericht äußerte Zweifel, ob die Einsatzpraxis der US-Regierung dem humanitären Völkerrecht genügt. Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs müssen „unverhältnismäßig hohe zivile Opfer“ vermieden werden. Ob die US-Armee im Krieg im Jemen vor jedem Drohneneinsatz eine derartige Prüfung vornehme, sei zweifelhaft.

Die Bundesregierung hatte versucht, die Rolle Ramsteins klein zu reden. Ulf Häußler aus dem Verteidigungsministerium erklärte sogar, die Relaisstation in Ramstein helfe, die Zahl ziviler Opfer zu reduzieren. Das Oberverwaltungsgericht ließ diese Argumentation nicht gelten. „Die bisherige Annahme der Bundesregierung, es bestünden keine Anhaltspunkte für Verstöße der USA bei ihren Aktivitäten in Deutschland gegen deutsches Recht oder Völkerrecht, beruht auf einer unzureichenden Tatsachenermittlung und ist rechtlich letztlich nicht tragfähig“, so die Richter. Deutschland sei verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen den bestehenden Zweifeln nachzugehen.

Die Bundesregierung wurde im April 2010 und im November 2011 von der US-Seite darüber informiert, dass die Relaisstation in Ramstein von „herausragender Bedeutung“ für den Einsatz bewaffneter Drohnen in Übersee sei. Das geht auch aus offiziellen amerikanischen Dokumenten hervor. 2016 teilten US-Vertreter der Bundesregierung zudem mit, dass Ramstein „eine Reihe weiterer Aufgaben unterstütze, darunter die Planung, Überwachung und Auswertung von zugewiesenen Luftoperationen“, wie es im Urteil des OVG heißt. Die Bundesregierung hat daraufhin im September 2016 hochrangige Gespräche in Washington geführt. Sie erklärte, sie habe keinen Anlass, an der Zusicherung der USA zu zweifeln, dass auf US-Militärliegenschaften in Deutschland geltendes Recht gewahrt werde.

Das Bundesverwaltungsgericht hob im November 2020 die Entscheidung aus Münster jedoch auf. Die Bundesregierung muss neben diplomatischen Gesprächen nicht kontrollieren, ob die Amerikaner bei ihren Einsätzen über die Air Base Ramstein im Einklang mit dem Völkerrecht agieren, entschied das Gericht. Grundrechtliche Schutzpflichten bestehen zwar auch gegenüber im Ausland lebenden Ausländern und im Fall von Grundrechtsbeeinträchtigungen anderer Staaten. Dafür müssen aber laut Gericht zwei Voraussetzung erfüllt seien: eine konkrete Gefahr und ein qualifizierter Bezug zum deutschen Staatsgebiet. Die Bundesregierung würde ihre Schutzpflicht demnach nur dann verletzen, wenn sie gänzlich untätig bliebe und ihre Maßnahmen offensichtlich völlig ungeeignet wären. Es gebe aber regelmäßige Konsultationen, die den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechen, und die Bundesregierung habe sich von den USA zusichern lassen, dass ihre militärischen Tätigkeiten in Deutschland im Einklang mit geltendem Recht erfolgen.

Nun kommt das Anliegen vor das Bundesverfassungsgericht.

Ob dieses den Mut haben wird, Völkerrechtsverletzungen auch als solche zu benennen?

Die USA haben dafür gesorgt, dass zu ihren Aktivitäten in Afghanistan, denen im Irak oder in anderen Ländern, bei denen Tausende unschuldiger Einheimischer zu Tode kamen, kaum Bild- und Beweismaterial im Netz zu finden ist. Ähnlich verhält es sich zu den Auslösern der Krim-Annektierung und des Ukraine-Kriegs durch Russland. Von diesem Krieg sind jedoch täglich neue Schauerbilder zu sehen. Es wird grundsätzlich von „Putins Krieg“ und einer unglaublichen Aggression Russlands gesprochen, der gegenüber sich der Westen als Hüter von Freiheit, Menschenrechten und Völkerrecht darzustellen versucht. Ganz so einfach ist das aber nicht.

Angehöriger, der beim Drohnenangriff in Kabul zehn Familienmitglieder verloren hat

Als US-Präsident Biden aufgrund des durch die Sanktionen gegen Russland selbst verursachten Gas- und Ölmangels im Westen in Saudi-Arabien mit der Bitte vorstellig wurde, doch die Produktion zu erweitern, da man auf Energie aus Russland aus Völker- und Menschenrechtsgründen verzichten müsse, erinnerte man ihn als erstes an den völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA in den Irak. Ähnlich verhielt es sich beim Thema Menschenrechte: Joe Bilden hatte den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, auch MBS genannt, zuvor öffentlich wegen des Mordes an dem Journalisten Jamal Kashoggi verurteilt. Lächelnd konnte dieser jedoch auf unzählige vergleichbare Hinrichtungen der USA verweisen.

Auch in China, Indien und anderen asiatischen Staaten beißen die USA in ihrer Rolle als selbsternannte Retter der Menschenrechte auf Granit. Zu sehr haben sie sich in den letzten Jahrzehnten selbst ins Unrecht gesetzt. Und wir, die Verbündeten, sind an all dem mit schuldig. Weil wir der Schutzmacht USA wortlos alles durchgehen lassen, was wir ihren Feinden vorwerfen.

Siehe auch: Weltweiter Rechtsbruch über Ramstein und die dortigen Links

Die Meere versauern, die Erde brennt, und alle haben massenhaft Zeit…

Der Weltklimarat hat die Ampel auf Rot geschaltet. Aber irgendwie hört niemand richtig zu.

Das Wetter des Jahres 2021 hat es in sich. Schon seit dem Frühjahr zeigt die Wetterkarte extreme Lagen auf: 30 Grad in Sibirien, während Europa auf die ersten warmen Frühjahrstemperaturen wartet – ein ausgesprochen kalter und nasser Sommer in Deutschland, während Südeuropa eine Hitzewelle nach der anderen verzeichnet. Jetzt gibt es Monsterfeuer in Südeuropa, in Sibirien und in den westlichen USA, während vor knapp zwei Wochen im Ahrtal nach Starkregen buchstäblich die Welt unterging.

Vor diesem Hintergrund hat jetzt der UN-Weltklimarat IPCC einen weiteren Teil seines sechsten Weltklimaberichtes vorgelegt. Und der kann wirklich Angst machen:

Die Zeit ist knapp und wird immer knapper: Wenn wir eine Klimaerwärmung von 2 Grad und mehr vermeiden wollen, müssen wir auf der Stelle mit durchschlagenden Maßnahmen beginnen. Rund um die Erde. Tun wir es nicht, wird die Natur uns zeigen, welche Kraft sie hat. Sie wird uns schwitzen lassen, mehr als für unsere Gesundheit gut ist. Sie wird uns mit Starkregen, Wirbelstürmen und Überschwemmungen schlagen, und sie wird brennen. Viele Millionen Menschen sind bereits jetzt in akuter Gefahr. Wenn wir nicht sofort damit beginnen, nachhaltig zu handeln, wird die von uns selbst herbei geführte Situation unumkehrbar sein. Das Ende unserer Zivilisation vielleicht auch.

Insgesamt 740 Fachleute aus 90 Ländern, davon knapp 40 aus Deutschland, haben tausende von Studien ausgewertet, die sich mit den verschiedensten Perspektiven des Klimawandels befassen. Daraus entstehen drei Bände und ein Synthesebericht:

  • WG I – Naturwissenschaftliche Grundlagen des Klimawandels
  • WG II – Folgen des Klimawandels, Verwundbarkeit und Anpassung
  • WG III – Minderung des Klimawandels
  • Synthesebericht – Kernbotschaften der drei WG-Bände und der aktuellen Sonderberichte (SR1.5 (1,5 °C globale Erwärmung), SROCC (Ozean und Kryosphäre), SRCCL (Klimawandel und Landsysteme))

Der sechste Berichtzyklus hat im Oktober 2018 begonnen und endet im Jahr 2022 mit der offiziellen Feststellung der Ergebnisse durch die Staaten der Weltgemeinschaft. Der jetzt veröffentlichte Bericht stellt als allerstes fest:

Der Mensch ist schuld.

Und weiter: Viele Veränderungen sind bereits jetzt auf Jahrhunderte unumkehrbar. Sogar jetzt sofort eingeleitete, scharfe Maßnahmen brauchen mindestens 20 Jahre, bis sie wirksam werden. Das bedeutet: Katastrophale Wetterlagen wie 2021 werden zur Normalität, und dann noch viel schlimmer werden.

Wörtlich heißt es: „Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, den Ozean und die
Landflächen erwärmt hat. Es haben weitverbreitete und schnelle Veränderungen in der Atmosphäre, dem Ozean, der Kryosphäre und der Biosphäre stattgefunden.“

Der Hauptbericht liegt in englischer Sprache vor. Er erläutert anhand zahlreicher Messungen und grafisch aufbereiteter Studien, auf welcher Grundlage die Wissenschaftler dermaßen Alarm schlagen. Für politische Entscheidungsträger gibt es wie jedes Mal eine gesonderte Fassung, gekürzt und in der Landessprache. Weitere Kernaussagen daraus:

„Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus. Seit dem fünften Sachstandsbericht (AR5) gibt es stärkere Belege für beobachtete Veränderungen von Extremen wie Hitzewellen, Starkniederschlägen, Dürren und tropischen Wirbelstürmen sowie insbesondere für deren Zuordnung zum Einfluss des Menschen.

Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen betrachteten Emissionsszenarien bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. 1,1 Grad, regional deutlich mehr, haben wir bereits erreicht, bereits 2030 werden es 1,5 Grad sein. Eine globale Erwärmung von 2 °C wird im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen.

Viele Veränderungen im Klimasystem werden in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden globalen Erwärmung größer. Dazu gehören die Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen, marinen Hitzewellen und Starkniederschlägen, landwirtschaftlichen und ökologischen Dürren in einigen Regionen, der Anteil heftiger tropischer Wirbelstürme sowie Rückgänge des arktischen Meereises, von Schneebedeckung und Permafrost.

Fortschreitende globale Erwärmung wird laut Projektionen den globalen Wasserkreislauf weiter intensivieren, einschließlich seiner Variabilität, sowie der globalen Monsunniederschläge und der Heftigkeit von Niederschlags- und Trockenheitsereignissen.

Die Kohlenstoffsenken in Ozean und Landsystemen werden bei Szenarien mit steigenden CO2-Emissionen laut Projektionen die Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre weniger wirksam verlangsamen.

Viele Veränderungen aufgrund vergangener und künftiger Treibhausgasemissionen sind über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar, insbesondere Veränderungen des Ozeans, von Eisschilden und des globalen Meeresspiegels.

Bei weiterer globaler Erwärmung wird es in jeder Region in zunehmendem Maße zu gleichzeitigen und vielfältigen Veränderungen von klimatischen Antriebsfaktoren mit Relevanz für Klimafolgen kommen. Veränderungen von mehreren Faktoren wären bei 2 °C im Vergleich zu 1,5 °C globaler Erwärmung weiter verbreitet und bei höheren Erwärmungsniveaus sogar noch weiter verbreitet und/oder ausgeprägter.“

Was kann, bzw. muss man nun dringend tun?

„Aus naturwissenschaftlicher Sicht erfordert die Begrenzung der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung eine Begrenzung der kumulativen CO2-Emissionen, wobei zumindest netto Null CO2-Emissionen erreicht werden müssen, zusammen mit starken Verringerungen anderer Treibhausgasemissionen. Eine starke, rasche und anhaltende Verringerung von CH4-Emissionen würde auch den Erwärmungseffekt begrenzen, der sich aus abnehmender Luftverschmutzung durch Aerosole ergibt, und die Luftqualität verbessern.

Szenarien mit niedrigen oder sehr niedrigen Treibhausgasemissionen führen im Vergleich zu Szenarien mit hohen und sehr hohen Treibhausgasemissionen innerhalb von Jahren zu erkennbaren Auswirkungen auf die
Treibhausgas- und Aerosolkonzentrationen und die Luftqualität. Bei einem Vergleich dieser gegensätzlichen Szenarien beginnen sich erkennbare Unterschiede zwischen den Trends der globalen Oberflächentemperatur innerhalb von etwa 20 Jahren von der natürlichen Variabilität abzuheben, bei vielen anderen klimatischen Einflussfaktoren erst über längere Zeiträume hinweg.“

Bereits 2019 hat der Weltklimarat seinen Bericht über die Ozeane und Kryptosphäre (gefrorene Komponenten des Erdsystems) vorgelegt. Ozeane bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche und enthalten etwa 97 Prozent des Wassers der Erde. Etwa 10 Prozent der Landfläche der Erde sind von Gletschern oder Eisschilden bedeckt. Hier einige Kernaussagen:

Heute leben rund 4 Millionen Menschen dauerhaft in der Arktis, 10 Prozent von ihnen gehören indigenen Völkern an. In niedrig gelegenen Küstenzonen leben derzeit rund 680 Millionen Menschen (fast 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2010), schon im Jahr 2050 werden es mindestens eine Milliarde sein. 65 Millionen Menschen leben in kleinen Insel-Entwicklungsländern. Rund 670 Millionen Menschen (fast 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2010), einschließlich indigener Völker, leben in Hochgebirgen auf allen Kontinenten außerhalb der Antarktis. Hier wird die Bevölkerung spätestens im Jahr 2050 740 bis 840 Millionen erreichen (etwa 8,4 – 8,7 Prozent der projizierten Weltbevölkerung).

Es ist praktisch sicher, dass sich der globale Ozean seit 1970 ungemindert erwärmt und mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Wärme im Klimasystem aufgenommen hat. Seit 1993 hat sich die Geschwindigkeit der Ozeanerwärmung mehr als verdoppelt. Die Häufigkeit von marinen Hitzewellen hat sich seit 1982 verdoppelt, und ihre Intensität nimmt zu. Durch die Aufnahme von mehr CO2 ist die Ozeanoberfläche zunehmend versauert. Sauerstoffverlust fand von der Oberfläche bis in 1000 Meter Tiefe statt.

Die Kryosphäre ist weiträumig geschrumpft; dies beinhaltet Massenverluste von Eisschilden und Gletschern, Rückgänge der Schneebedeckung und der arktischen Meereisausdehnung, sowie erhöhte Permafrosttemperaturen.

Der mittlere globale Meeresspiegel steigt an; in den letzten Jahrzehnten beschleunigte sich dieser Anstieg sowohl aufgrund der zunehmenden Geschwindigkeit von Eisverlusten des grönländischen und der antarktischen Eisschilde, als auch aufgrund des anhaltenden Gletschermassenverlusts und der thermischen Ausdehnung des Ozeans.

Dies hat vom Äquator bis zu den Polen zu Verschiebungen in Artenzusammensetzung, Populationsdichte und Biomasseproduktion von Ökosystemen geführt. Veränderte Wechselwirkungen zwischen Arten haben zu kaskadenartigen Folgen für die Struktur und Funktionsweise von Ökosystemen geführt. In manchen Meeresökosystemen sind Arten sowohl von den Folgen von Fischereipraktiken als auch vom Klimawandel betroffen. Küstenökosysteme werden durch die Erwärmung des Ozeans beeinträchtigt. Folgen für die Größe von Lebensräumen und die Biodiversität sowie für Ökosystemfunktionen und -leistungen werden bereits beobachtet.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat die schrumpfende Kryosphäre in der Arktis und in Hochgebirgsregionen zu überwiegend negativen Folgen für Ernährungssicherheit, Wasserressourcen, Wasserqualität, Lebensgrundlagen, Gesundheit und Wohlergehen, Infrastruktur, Verkehr, Tourismus und Erholung sowie für die Kultur menschlicher Gesellschaften geführt, insbesondere für indigene Völker.

Veränderungen im Ozean haben sich mit regional unterschiedlichen Resultaten auf marine Ökosysteme und deren Leistungen ausgewirkt, was deren Management und Steuerung erschwert. Die Folgen für Ökosystemleistungen haben negative Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlergehen sowie auf von der Fischerei abhängige indigene Völker und lokale Gemeinschaften. Die Küstenbevölkerung ist einer Vielzahl klimabedingter Gefahren ausgesetzt, darunter tropische Wirbelstürme, extreme Meeresspiegel und Überschwemmungen, marine Hitzewellen, Meereisverlust und Tauen von Permafrost. All diese Entwicklungen werden bis 2050 deutlich zunehmen.

Laut Projektionen wird der Ozean im Laufe des 21. Jahrhunderts einen Übergang zu noch nie dagewesenen Bedingungen vollziehen, mit erhöhten Temperaturen, stärkerer Schichtung im oberen Ozean, weiterer Versauerung und Sauerstoffrückgang. Marine Hitzewellen, extreme El Niño- und La Niña-Ereignisse werden häufiger werden. Die Atlantische Meridionale Umwälzbewegung (AMOC) wird sich abschwächen.

Der Meeresspiegelanstieg wird sich in allen RCP-Szenarien über das Jahr 2100 hinaus
fortsetzen. Je nach Rechenmodell steigt er um einen bis mehrere Meter. Wald- und Flächenbrände werden für den Rest dieses Jahrhunderts in den meisten Tundragebieten und borealen Regionen sowie in einigen Gebirgsregionen deutlich zunehmen. Für empfindliche Ökosysteme wie Seegraswiesen und Kelpwälder werden hohe Risiken projiziert, wenn die globale Erwärmung 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau überschreitet, kombiniert mit anderen klimabedingten Gefährdungen. Für Warmwasserkorallen besteht bereits jetzt ein hohes Risiko, das sich weiter steigern wird, selbst wenn die globale Erwärmung auf 1,5 °C begrenzt wird.

In arktischen menschlichen Siedlungen ohne schnelle Landhebung und auf Atollinseln werden die Risiken selbst unter einem niedrigen Emissionsszenario als moderat bis hoch projiziert, was auch das Erreichen von Anpassungsgrenzen mit einschließt. Delta-Regionen und ressourcenreiche Küstenstädte werden unter Annahme eines Szenarios mit hohen Emissionen nach 2050 mit gegenwärtiger Anpassung ein hohes Risikoniveau aufweisen.

Folgen klimabedingter Veränderungen in Ozean und Kryosphäre stellen die gegenwärtigen politischen Steuerungsbemühungen von Anpassungsmaßnahmen vom lokalen bis zum globalen Maßstab zunehmend infrage und bringen sie in einigen Fällen an ihre Grenzen. Menschen mit der höchsten Exposition und Verwundbarkeit sind oft diejenigen mit der geringsten Anpassungskapazität.

Küstenbevölkerungen stehen vor schwierigen Entscheidungen, wenn es darum geht, kontextspezifische und integrierte Maßnahmen in Reaktion auf den Meeresspiegelanstieg zu entwickeln, die Kosten, Nutzen und Zielkonflikte der verfügbaren Optionen abwägen und die im Laufe der Zeit angepasst werden können. Alle Arten von Optionen, einschließlich Küstenschutz, Akkommodation, ökosystembasierter Anpassung, Landgewinnung und Rückzug von der Küste, wo immer möglich, können bei solchen integrierten Reaktionen eine wichtige Rolle spielen.

Die Ermöglichung von Klimaresilienz und nachhaltiger Entwicklung hängt entscheidend von dringender und ehrgeiziger Emissionsreduktion in Verbindung mit koordinierten anhaltenden und zunehmend ehrgeizigen Anpassungsmaßnahmen ab“, schließt der Bericht. „Zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Umsetzung wirksamer Maßnahmen in Reaktion auf klimabedingte Veränderungen in Ozean und Kryosphäre gehört die Intensivierung der Zusammenarbeit unter Regierungsbehörden über räumliche Maßstäbe und Planungshorizonte hinweg. Von wesentlicher Bedeutung sind auch Bildung und Klimakompetenz, Überwachung und Vorhersage, die Nutzung aller verfügbaren Wissensquellen, das Teilen von Daten, Information und Wissen, Finanzen, die Bekämpfung sozialer Verwundbarkeit und Gerechtigkeit sowie institutionelle Unterstützung.“

Dieser Bericht ist nun zwei Jahre alt. Was ist seitdem passiert – einmal abgesehen von wortreichen Absichtserklärungen?

Die globale Erwärmung wird wie auch das Landmanagement in einem gesonderten Bericht behandelt. Darin heißt es: „Die globale Erwärmung erreicht 1,5 °C wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052, wenn sie mit der aktuellen Geschwindigkeit weiter zunimmt. Sie wird für Jahrhunderte bis Jahrtausende bestehen bleiben und weiterhin zusätzliche langfristige Änderungen im Klimasystem bewirken, wie zum Beispiel einen
Meeresspiegelanstieg und damit verbundene Folgen. Klimamodelle projizieren belastbare Unterschiede regionaler Klimaeigenschaften zwischen heutigen Bedingungen und einer globalen Erwärmung um 1,5 °,
sowie zwischen 1,5 °C und 2 °. Zu diesen Unterschieden gehören Zunahmen der Mitteltemperatur in den meisten Land- und Ozeangebieten, Hitzeextreme in den meisten bewohnten Regionen, Starkniederschläge in mehreren Regionen und die Wahrscheinlichkeit von Dürre und Niederschlagsdefizite in manchen Regionen.

Der Meeresspiegel wird bis weit über das Jahr 2100 hinaus weiter ansteigen, wobei Ausmaß und Geschwindigkeit von zukünftigen Emissionen abhängen. In Modellen ohne oder mit geringer Überschreitung von 1,5 °C nehmen die globalen anthropogenen Netto-CO2-Emissionen bis 2030 um etwa 45 Prozent gegenüber dem Niveau von 2010 ab und erreichen um das Jahr 2050 netto null. Bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter 2 °C projizieren die meisten Rechnungen eine Abnahme der CO2-Emissionen bis 2030 um etwa 25 Prozent und das Erreichen von netto null um das Jahr 2070.

Mit einem interaktiven Tool kann man selbst berechnen, in welcher Zeit in ausgewählten Küstenregionen der Meeresspiegel steigt, und wie stark er steigen wird.

Die globale Erwärmung ohne oder mit geringer Überschreitung auf 1,5 °C zu begrenzen, würde beispiellos schnelle und weitreichende CO2-Minderungen in Energie-, Land-, Stadt- und Infrastruktur- (einschließlich Verkehr und Gebäude) sowie in Industriesystemen erfordern. Die Pariser Klimaziele genügen dabei nicht: „Eine Überschreitung und Abhängigkeit von zukünftig großflächigem Einsatz von Kohlendioxidentnahme (CDR) kann nur vermieden werden, wenn die globalen CO2-Emissionen lange vor 2030 zu sinken beginnen.“

Wie schwer es ist, die Nationen rund um den Globus zu wirksamen CO2-Reduktionen zu bewegen, ist den Autoren durchaus klar: Zahlreiche Konflikte sind programmiert. Alternativen dazu sehen sie aber nicht: Je schneller die Welt handelt, desto besser sind die Aussichten auf Erfolg. Dennoch kam die erste Reaktion aus Australien, ausgerechnet dem Kontinent, der schon erheblich unter der Klimaveränderung leidet: Er sehe nicht ein, sich ‚blanco‘ zu verpflichten, verkündete der konservative Premier Morrison. Sein Land ist der weltgrößte Kohle-Exporteur.

Die Berichte der Fachleute sind trocken, und auch in ihrer Zusammenfassung nicht einfach zu lesen. Dennoch kann ich nur empfehlen, sich immer wieder damit zu beschäftigen. Alles, was getan werden muss, um das Überleben der Erde mit ihren Bewohnern zu sichern, ist öffentlich bekannt. Niemand wird sagen können, er habe es nicht gewusst. Auf dieser Seite sind die wichtigsten Downloadlinks noch einmal zusammengefasst.


Ich hab im Traum geweinet

Ein Gedicht, 1823 geschrieben von Heinrich Heine, vertont von Franz Schubert im Jahr 1840 und vorgetragen von Fritz Wunderlich (1930 – 1966). Fritz Wunderlich ist in Kusel/Rheinland-Pfalz geboren. Er starb bereits in jungen Jahren an den Folgen eines Treppensturzes.

Ich hab im Traum geweinet
Mir träumte du lägest im Grab
Ich wachte auf und die Träne
floss noch von der Wange herab

*
Ich hab im Traum geweinet
Mir träumt‘ du verließest mich
Ich wachte auf und ich weinte
noch lange bitterlich

*
Ich hab im Traum geweinet
Mir träumte du bliebest mir gut
Ich wachte auf und noch immer
strömt meine Tränenflut

.

Beitragsbild: Sudelermii – Pexels

China, seine Nachbarn und die Welt: Ein leises Netz wird immer dichter

Schon als sehr junger Mensch war ich begeistert von China. In der Schule lernten wir viele verschiedene Denkweisen, in alle stürzte ich mich mit offenem Geist. Während wir uns mit Nihilismus und Existentialismus auseinandersetzten, kursierte unter uns die Mao-Bibel. Wir lasen die Worte des großen Vorsitzenden, denn anderen direkten Zugang zum Kommunismus gab es für uns nicht. Er wurde gelehrt, aber wir konnten ihn nicht von innen ansehen.

Als ich 18 war und das Abitur in der Tasche hatte, träumte ich von einem Studium der Sinologie, wollte Mandarin lernen und Simultanübersetzerin werden, denn mir war klar: Ein Land mit derart vielen Menschen wird expandieren und auf die eine oder andere Art mit allen Nationen dieser Erde in Kontakt sein. Es sollte nicht sein. Mein Vater verlangte, ich solle gefälligst arbeiten gehen solle, bis ich Kinder bekommen und ohnehin Hausfrau werden würde. Ich ging also arbeiten und träumte weiter vom Land der Mitte. Ich befasste mich mit Feng Shui, mit traditioneller chinesischer Medizin, mit dem Taoismus und dem frühen Buddhismus in dem Land mit dieser Jahrtausende alten Hochkultur. Als ich schließlich gutes Geld verdiente, erfüllte ich mir einen Jugendtraum: Ich organisierte zusammen mit einem Veranstalter eine Gruppenreise nach China mit einem Programm meiner Wahl.

Es war im November vor mehr als 20 Jahren, als wir schließlich nach einem ellenlangen Flug in Peking landeten. Die untergehende Sonne tauchte die Smog-Glocke über der Stadt in ein mystisches Licht, das uns während des gesamten Aufenthaltes begleitete. Ich liebte die kaiserlichen Anlagen, fotografierte wie wild die herrliche Deckenmalerei in den Wandelgängen, bestaunte die winzigen Betten der Konkubinen. Wir sahen riesige Gewürzmärkte, besuchten eine traditionelle chinesische Apotheke, ein entsprechendes Krankenhaus und die Altstadt von Peking, wo ich einem alten Hobbymaler eine Federzeichnung von Bambus mit einem Gedicht dazu abkaufte: „Der Bambus ist unzerstörbar, denn er beugt sich, wenn der Sturm kommt, statt an ihm zu zerbrechen.“ Die Eiche sei das falsche Modell, lächelte der kluge alte Mann. Heute sehe ich, in welchem Ausmaß das stimmt.

Wir bestiegen die große Mauer an einer Stelle, wo außer uns keine anderen Touristen waren – die Landschaft war trunken von goldenem Licht und bunten Herbstfarben. Wir bestaunten die Terrakotta-Armee, bei der jeder der tausenden Tonsoldaten ein anderes Gesicht hat; wir fuhren durch weite Felder, auf denen Bauern arbeiteten, wir machten eine Flussfahrt bei Guilin, begleiteten die Kormoran-Fischer, schlenderten durch die abendlichen Straßen mit dem bunten Trubel und den unzähligen Garküchen. Wir aßen merkwürdiges Fleisch von kleinen Körpern, die Hunde oder Katzen gewesen sein mögen – Fleisch von lebendigen Schlangen wollten wir lieber nicht aussuchen. Wir lernten alles über die Kunst der gefüllten, dampfgegarten Nudeln, wir lebten wie „Götter in Frankreich“. Gespräche mit unseren jungen Reiseführern machten uns deren Lebenswirklichkeit deutlich; wir sahen, dass sie unter Zwängen standen. Ein Gespräch mit einem unsympathischen Teilzeit-Führer in China (oben), der uns Langnasen sichtbar verachtete, macht mich bis heute ärgerlich. Der Mann behauptete steif und fest, der Buddhismus komme aus China, und China habe Tibet „befreit“. Überhaupt sei die chinesische Rasse die beste der Welt und werde früher oder später die Welt auch beherrschen. Ich war froh, als wir den Mann wieder los waren, aber vergessen habe ich seine Worte nie. Unser liebenswerter Langzeit-Führer, der junge Shu (unten), hätte uns gern eine weitere Reise organisiert. Ich wäre so gern wieder gekommen. Aber jeder Versuch, mit ihm nach der Heimkehr Kontakt aufrecht zu halten, lief ins Leere.

Hongkong, damals noch unter britischer Krone, war der Abschluss einer herrlichen Reise. Ich war fasziniert davon, wie in dieser Stadt althergebrachtes chinesisches Leben und westlicher Protz aufeinander trafen und eine spannende Verbindung miteinander eingingen. Natürlich waren wir auf dem Jademarkt, spazierten durch Straßen, in denen Lebensmittel wie vor 100 Jahren verkauft wurden, sahen die westlichen Läden mit schwerem Goldschmuck und dicken Klunkern, bewunderten das goldene Abendlicht im Hafen, wo zwischen modernen Schiffen eine kleine rote Dschunke daran erinnerte, dass Hongkong eine Metropole des alten China war.

Seit 1843 war Hongkong Kronkolonie der Briten. 1997 wurde ein Vertrag zur Rückgabe an China vereinbart, der laut Idee Deng Xiaopings nach dem Motto „ein Land, zwei Systeme“ ablaufen sollte. China musste einige Bedingungen akzeptieren, die in der chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong festgelegt wurden, wie die Ausarbeitung und Annahme der Miniverfassung Hongkongs vor seiner Rückkehr. Das Grundgesetz stellte sicher, dass Hongkong sein kapitalistisches Wirtschaftssystem und seine eigene Währung (den Hongkong-Dollar), das Rechtssystem, das Gesetzgebungssystem sowie die Rechte und Freiheit der Menschen für 50 Jahre, als Sonderverwaltungszone von China, behalten könne. Im Jahr 2047 sollte dies ablaufen, bis dahin erlaubte die Vereinbarung Hongkong, in vielen internationalen Umgebungen (z.B. Welthandelsorganisation und Olympische Spiele) als eigene Entität und nicht als Teil von China aufzutreten.

Riot police officers clash with protesters in Hong Kong, on Wednesday, May 27, 2020. China officially has the broad power to quash unrest in Hong Kong, as the country’s legislature on Thursday nearly unanimously approved a plan to suppress subversion, secession, terrorism and seemingly any acts that might threaten national security in the semiautonomous city. (Lam Yik Fei/The New York Times)

Wie wir heute wissen, war China nicht bereit, diesen Vertrag einzuhalten. Im Juni 2020 wurde das Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong durch den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses verabschiedet. Die örtlichen Parteien lösten sich umgehend auf, denn sie fürchteten politische Verfolgung. Diese findet nun gnadenlos statt. Bereits seit 2014 hatten Studenten gegen die zunehmende Einflussnahme Chinas in Hongkong protestiert; heute sitzen die maßgeblichen Organisatoren, die nicht geflüchtet sind, in Haft. Lange vor dem Ende des Übergabevertrages hat China die Wirtschaftsmetropole mit eiserner Hand zurück ins Reich geholt.

2020 war China mit rund 1,44 Milliarden Einwohnern das Land mit der weltweit größten Bevölkerungszahl. Nur Indien hat mit 1,382 Milliarden Menschen ähnlich viele Einwohner. Chinas Wirtschaft ist die größte der Welt und ihr Motor. Ökonomen schätzen, dass Chinas BIP von Oktober bis Dezember 2020 im Jahresvergleich um fünf bis sechs Prozent wachsen wird, die Wirtschaft damit wieder auf das Niveau vor der Corona-Pandemie zurückkehrt und das Wirtschaftswachstum im Jahr 2021 etwa acht bis neun Prozent erreichen wird. Laut IMF-Prognosen könnte Chinas Wirtschaft im Vergleich zu den USA dann um mehr als 75 Prozent an Größe gewinnen. Zurzeit arbeitet die Volksrepublik daran, ihre Importabhängigkeit von Hightech-Produkten, sowie von Lebensmitteln, Agrartechnologie und Biotechnologie sowie Energieträgern wie Öl, Gas und den wichtigsten Mineralien, die in neuen Energiespeichern verwendet werden, zu reduzieren. Auf der Exportseite will das Land weiterhin in globale Märkte vordringen, um seine neuen Elektrofahrzeuge, 5G-Dienste und Technologien im Zusammenhang mit neuer Infrastruktur, intelligenten Fabriken und intelligenten Städten zu exportieren.

Das sind keine guten Nachrichten für europäische Unternehmen, die in China tätig sind. Laut einer Studie der Europäischen Handelskammer in China und des Berliner China-Thinktanks Merics, die im Januar 2021 in Peking vorgestellt wurde, sagen 96 Prozent der europäischen Firmen in China, dass sie von der Entflechtung, also dem Decoupling, betroffen sind. „Decoupling-Maßnahmen sowohl seitens der USA wie auch Chinas bergen Risiken für globale Lieferketten“, heißt es in einer Stellungnahme von Volkswagen China an das „Handelsblatt“. „Ein besonderes Risiko sehen wir zudem im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie, die insbesondere für Anwendungen wie das vernetzte Fahren von Bedeutung ist.“

Anfang der 1990er Jahre avancierte das Südchinesische Meer zu einem global beachteten Konfliktherd. Dort prallen die territorialen und maritimen Ansprüche von bis zu sieben Staaten aufeinander, von denen jedoch nur drei, die VR China, Vietnam und die Philippinen, in größerem Ausmaß in Konflikte vor Ort involviert waren. Die anderen Länder, Malaysia, Brunei, Indonesien und die Republik China auf Taiwan, die alle auch Ansprüche geltend machen, blieben in westlicher Wahrnehmung eher im Hintergrund. Auslöser war die 1982 verabschiedete und 1994 in Kraft getretene Seerechtskonvention (United Nations Convention on the Law of the Sea; UNCLOS). Sie ermöglichte es Küstenstaaten, alle unterseeischen Ressourcen in einer bis zu 200 Seemeilen breiten Zone vor ihren Küsten zu kontrollieren. Die „Festlandssockelregelung“ erlaubte zudem eine Ausdehnung entsprechender Anrechte bis zu insgesamt 350 Seemeilen ins Meer. Im Südchinesischen Meer führte dies zu einer Vielzahl überlappender Ansprüche. Schon in den 1970er und 1980er Jahren hatten die Konfliktparteien, allen voran Vietnam, die Philippinen und schließlich auch China, eine Reihe von Inseln und Atollen militärisch besetzt. Ein zunehmend selbstbewusst und aggressiv auftretendes China, versucht kontinuierlich, seine Maximalforderungen (80 Prozent des betroffenen Gebietes) in kleinen Schritten gegen andere, weitaus schwächere Anspruchsteller durchzusetzen. Diese versuchen, ihre Position durch Rückgriff auf die Regionalorganisation ASEAN und die mit eigenen Interessen in der Region aktive hegemoniale Militärmacht USA zu stärken.

Der Taiwan-Konflikt hat zwar in den vergangenen Jahren zu keinen militärischen Scharmützeln geführt, aber die Drohungen Pekings Richtung Taiwan haben zugenommen – samt den diese begleitenden Militärübungen. Das demokratische Taiwan ist de facto unabhängig, wird aber von China als abtrünnige Provinz angesehen. Wenn China einmal in Zukunft seinen Großmachtanspruch militärisch unter Beweis stellen will, dann droht Taiwan das Opfer zu sein. Schutzmacht Taiwans sind aber die USA – was China von Abenteuern abhalten, aber auch dazu führen könnte, dass die beiden Großmächte militärisch aufeinanderprallen.

Was es bedeutet, im Griff Chinas zu sein, zeigt nicht nur das Drama der Uiguren, das sich seit 1990, nur am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit, im Westen der chinesischen Volksrepublik in einer Region, die an Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan grenzt, abspielt. Die islamische Minderheit wird seit Jahren in Umerziehungslager gesteckt und zu Zwangsarbeit verpflichtet, mit dem Ziel, sowohl ihre Religion, als auch ihre Identität auszulöschen und ein chinesisches Volksbewusstsein zu implementieren.

Bereits 1950 besetzte China das Nachbarland Tibet und nannte das „Befreiung des tibetischen Volks vom Feudalismus.“ Der religiöse Führer der Tibeter, der Dalai Lama, und 80 000 Landsleute flohen 1959 nach einem niedergeschlagenen Volksaufstand nach Indien. Peking reagierte mit einer Politik der verbrannten Erde. Bis 1966 wurden mindestens 6000 Klöster und Tempel zerstört. Bauern und Nomaden wurden zum Leben in Volkskommunen gezwungen, Tausende Tibeter starben in Arbeitslagern und durch Hungersnöte. Seit den 1980er Jahren setzte eine rücksichtslosen Ausbeutung der Bodenschätze in der ökologisch sensiblen Hochlandregion ein. Durch die systematische Ansiedlung von Millionen Chinesen wurden die Tibeter zur Minderheit in ihrer Heimat. Genauso lange wie der Konflikt zwischen China und Tibet laviert auch die internationale Staatengemeinschaft hin und her. Einerseits gibt es Sympathien für das Autonomie-Streben des kleinen Volks im Himalaya-Gebirge. Andererseits will es sich wegen knallharter geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen niemand mit der kommunistischen Führung in Peking verscherzen.

1995 entführte China Tibets 11. Panchen Lama, Gedhun Choekyi Nyima, im Alter von sechs Jahren gemeinsam mit seinen Eltern. Seither wurde er nicht wieder gesehen. Unmittelbar nach der Entführung von Gedhun Choekyi Nyima hat China einen anderen tibetischen Jungen zum eigenen Panchen Lama (offizieller Nachfolger des Dalai Lama) erklärt. Dieser vertritt seither öffentlich die ideologische Linie der KP und wird von vielen Tibetern als „Panchen Zuma“, „falscher Panchen“, bezeichnet. Zuletzt hatten sich im August 2020 fünf Menschenrechtsexperten und Expertengremien der Vereinten Nationen mit einem öffentlichen Schreiben an die chinesische Regierung gewandt und den freien Zugang unabhängiger Beobachter zu dem Entführten und seiner Familie gefordert. In ihrer Erklärung äußern die UN-Menschenrechtsexperten auch ihre Besorgnis über die von der chinesischen Regierung erlassenen „Reinkarnationsregeln“ für den tibetischen Buddhismus. Diese stellten eine Verletzung der Religionsfreiheit der Tibeter dar, erlauben sie doch unter anderem staatliche Einmischung in die Bestimmung eines Nachfolgers des Dalai Lama.

Die Macht des Milliarden-Volkes wird zum Drama aller, die ins Augenmerk ihres Interesses geraten; so gesehen zuletzt in Hongkong. Niemand wird einen Finger rühren, um sie zu retten, weil alle Mächte der Welt vom Wirtschaftsmotor Chinas abhängig sind. Um sich weiteres wirtschaftliches Ansehen zu verschafften, baut China zurzeit an der neuen Seidenstraße, die durch zahlreiche Länder bis nach Europa führt. Die beteiligten Nationen hoffen auf Arbeitsplätze und neue Einnahmen. Tatsache ist aber: Neun von zehn Projekten werden durch chinesische Firmen ausgeführt. Dabei merken besonders die Europäer erst spät, wie sie sich selbst Nachteile bereitet haben: Chinesische Unternehmen können bisher in Europa investieren, ohne diskriminiert zu werden. Andersherum funktioniert das aber nicht. Gleichzeitig nutzt China das Projekt zu bilateralen Verhandlungen mit den Ländern, durch die die neue Seidenstraße führen wird, wie etwa Italien und unterminiert damit die gemeinsame europäische Politik.

Experten befürchten, dass im Falle von Zahlungsschwierigkeiten China großen Einfluss in den betroffenen Ländern bekommen könnte – sei es über Deals, die dann geschlossen werden, oder dadurch, dass Peking gleich ganz die Kontrolle über wichtige Projekte wie Häfen und Bahnstrecken bekommt. Damit könnte das Regime, das unter Xi immer weiter in Richtung Diktatur driftet, die Westmächte in den Regionen noch mehr zurückdrängen. Kleine Länder, die sich moderne Straßen, Häfen oder Eisenbahnstrecken selbst nicht leisten könnten, heißen die Initiative willkommen und geraten damit in eine Schuldenfalle: Die Kredite, die China gewährt, werden sie kaum zurück zahlen können.

In Afrika präsentiert sich China bereits seit Mitte der 1950er Jahre als ein prominenter Partner im anti-kolonialen Kampf. Die Unterstützung umfasste nicht nur die Ausbildung und Ausrüstung von Milizen, sie gipfelte auch im Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Sambia und Tansania, die es dem Binnenland Sambia erlaubte, das damalige Rhodesien und das Südafrika der Apartheid zu meiden, die den Zugang zu Schiene und Hafen kontrollierten. Deng Xiaoping drängte Chinas Staatsunternehmen, externe Märkte und Rohstoffquellen zu erschließen. Diese konzentrierten sich zunächst auf den Rohstoffsektor, um Erdöl und andere Ressourcen für den boomenden Produktionssektor des Landes zu sichern, und stießen in Afrika auf offene Arme. Die Beziehungen entwickelten sich rasch und wurden im Jahr 2000 durch das Forum für die Zusammenarbeit zwischen China und Afrika (FOCAC) formalisiert. Das FOCAC diente in der Folge als Plattform für die rasche Ausweitung der Beziehungen. China wurde schnell zu einem wichtigen Infrastrukturbetreiber auf dem afrikanischen Kontinent und 2009 zu seinem größten Handelspartner.

Insgesamt entfallen etwa 22 Prozent der Schulden Afrikas auf China. Diese Darlehen sind gebunden, was bedeutet, dass die Ausführung der Projekte durch chinesische Auftragnehmer verlangt wird. Bei den Neuverhandlungen mit den afrikanischen Partnern beharrt Peking jedoch auf dem undurchsichtigen Ansatz, jeden Schuldner als Einzelfall zu behandeln. Die rasche Zunahme der afrikanischen Staatsschulden bei China wird langfristige Folgewirkungen haben. Peking hat bereits breite afrikanische Unterstützung etwa in der UNO aufgebaut und festigt dieses Verhältnis durch die aktive Teilnahme an UNO-Friedensmissonen auf dem Kontinent. Chinesische Investitionen beispielsweise in Äthiopiens Schuh- und Bekleidungsindustrie haben dem Land ermöglicht, sich als Exporteur auf dem europäischen Markt zu etablieren, westliche Marken wie H&M haben ebenfalls begonnen, in Äthiopien zu produzieren. China überrundet auch westliche Konkurrenten, wenn es um den aufstrebenden afrikanischen Verbrauchermarkt mit 1,2 Milliarden Menschen geht. Der chinesische Mobilfunkhersteller Transsion erzielt mit dem Verkauf preiswerter Handys, die auf die Bedürfnisse der afrikanischen Verbraucher zugeschnitten sind, beträchtliche Gewinne. Die Beteiligung von Huawei auf allen Ebenen der Internet-Lieferkette, von Unterwasserkabeln bis hin zum Verkauf von Mobiltelefonen, hat das Unternehmen zu einer gewaltigen Marktpräsenz in Afrika geführt, die durch die engen Beziehungen zu staatlichen chinesischen Finanzinstituten noch zusätzlich gefestigt wird.

Und Europa? Von Angela Merkel ist bekannt, dass sie eine fundamentale Verschiebung der globalen Machtverhältnisse in Richtung Asien für unabwendbar hält. China steigt auf, und Europa steigt ab. Sieben Jahre lang hatten Brüssel und Peking das Investitionsabkommen verhandelt, das am 30. Dezember 2020 besiegelt wurde; zu einer Zeit, in der die USA wegen des Präsidentenwechsels politisch gelähmt waren. Dieser Abschluss am vorletzten Tag des Jahres 2020 trägt klar die Handschrift von Angela Merkel. Sie hatte bereits vor der Corona-Pandemie die Beziehungen zwischen China und der EU zu einem zentralen Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gemacht. Daran hat sie trotz Corona festgehalten und den Abschluss mit China bis zuletzt vorangetrieben.

Brüssel betont zwar, dass die Beziehung zu den USA erneuert werden müsse, auch um gegenüber China zusammenzuarbeiten. Wenige Tage vor der Amtseinführung von Präsident Biden einen Vertrag mit China zu schließen, kommt allerdings einem ausgestreckten Mittelfinger gleich, der signalisiert: Im Zweifel ist der Marktzugang so wichtig, dass wir auf Biden nicht warten können. Dass Merkel den Abschluss vorangetrieben hat, obwohl die EU China zum systemischen Rivalen erklärt hat, zeigt auch, dass sie in der Politik mit China eine dezidiert eigene Linie verfolgt. Der deutschen Autoindustrie dürfte das recht sein. VW verkauft jedes zweite Auto in der Volksrepublik, und für Daimler ist China der wichtigste Markt. Dank des Abkommens dürfen sie dort künftig auch bei Elektrofahrzeugen mitmischen. Mit der strategischen Entscheidung, so stark auf den chinesischen Markt zu setzen, hat insbesondere Volkswagen sich in eine Abhängigkeit manövriert, die der Bundesregierung kaum noch die Wahl lässt, China kritisch gegenüber zu treten. 

Ob das Abkommen der EU die erwünschten Vorteile bringt, darf bezweifelt werden: Die Entkopplungsstrategie der chinesischen Regierung von den Weltmärkten hat bundesdeutschen Unternehmen bereits erhebliche Nachteile gebracht. Im Januar 2021 sagte Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking vor Journalisten: „Wir sind an einem Wendepunkt“. Die Probleme bei Halbleitern hätten gerade erst wieder deutlich gemacht: „Man kann untergehen, wenn in der Produktionskette nur ein einziges Teil fehlt, denn dann kann ein Produkt möglicherweise nicht auf den Markt gebracht werden.“ Umgekehrt ist China seit Jahren in Europa auf Dauer-Einkaufstour. Gekauft wird alles, was strategisch nützlich sein könnte: Beginnend mit Wald und landwirtschaftlichen Flächen über Immobilien bis hin zu innovativen Unternehmen. In Tschechien landete ein Investor einen Coup der besonderen Art: Die staatliche Finanzierungsgesellschaft CITIC übernahm mehrheitlich die Medea-Gruppe, Teil eines großen Medienunternehmens, zu dem auch die Zeitschrift „Tyden“ und Barrandov-TV gehören. Wer mehr als 250 000 Euro investiert, erhält eine Eintrittskarte für den Schengenraum. Von den 15 369 „goldenen Visa“ bekamen Chinesen bisher den größten Anteil, ebenso von den 5302 Dauer-Aufenthaltsgenehmigungen.

Bei den Gesellschaften, die in Europa investieren, ist nicht alles Gold, was glänzt. Eins der jüngsten Beispiele ist die Pleite des Großkonzerns HNA, der den Flughafen Frankfurt/Hahn in der rheinland-pfälzischen Provinz gekauft hat (82,5 Prozent; der Rest gehört dem Land Hessen). Die ursprünglich rein chinesische Fluggesellschaft kaufte zwischen 2015 und 2017 weltweit rund 2000 Unternehmen für mindestens 50 Milliarden Dollar. Unter anderem hielt der Konzern auch 9,9 Prozent Anteile an der Deutschen Bank. Ab 2018 geriet er in Zahlungsschwierigkeiten, im Januar 2021 meldete er Insolvenz an. In den sozialen Medien tummeln sich inzwischen tausende mittlere und kleine chinesische Unternehmen, die alles vermarkten, was man sich vorstellen kann. Darunter sind Textilien, deren Schnitte oft im Westen kopiert wurden und in den buntesten Farben genäht werden. Kommen die Waren dann nach bis zu vierwöchiger Lieferzeit an, sind sie meist minderwertig. Elektroteile funktionieren nicht oder haben andere Mängel. Reklamationen für Privatkunden unmöglich – es gibt keinerlei Handhabe. Vermarktet werden auch Dinge wie original Apple Produkte auf Webseiten, die der von Apple täuschend ähnlich sehen und innerhalb kurzer Zeit wieder verschwinden. Wer keinen Paypal-Käuferschutz genießt, hat dabei das Nachsehen. Daneben gibt es Unternehmen wie Alibaba, das chinesische Pendant zu Amazon, die sich anschicken, im nächsten Zug aktiv den Westen zu erobern.

Parallel dazu ist China in allen sozialen Medien aktiv, um das Land so positiv wie möglich darzustellen. Dazu gehören kleine Videos von Pandababies, wunderschöne Naturaufnahmen, Landschaftsfotos und vor allem Fotos der zahlreichen kulturellen Minderheiten im Land, wie etwa die Menschen aus Nepal, die angeblich rundum glücklich sind. Versuche, in Kommentaren darauf hinzuweisen, dass das so nicht stimmen kann, werden von den Autoren mit Beschimpfungen beantwortet.

Betrachtet man die weltweiten Aktivitäten des Reichs der Mitte, wirken sie wie ein lautlos fein gesponnenes Netz, das sich langsam, aber sicher immer weiter verdichtet. Dazu braucht das Land im Gegensatz zum lauten, oft empathiefreien Auftreten der USA keinen einzigen Krieg. Umso nachhaltiger sind dafür die Ergebnisse einer Politik, die seit inzwischen rund 70 Jahren verfolgt wird. Auch überall in Europa sind chinesische Einkäufer unterwegs, bilden sich kleine chinesische Kolonien, die wiederum Ware vertreiben. So kommt es beispielsweise, dass der Markt seit einigen Jahren massenweise von billigen Kleidungsstücken überschwemmt wird mit der Aufschrift „Made in Italy“. Sie werden in Italien von Chinesen hergestellt und vertrieben.

3440 Kilometer Grenze haben China und Indien gemeinsam. Seit den 1950er Jahren gibt es immer wieder Streit darum, besonders auf den Bergen im Himalaya. Peking beansprucht etwa 90.000 Quadratkilometer eines Gebiets für sich, das sich unter indischer Kontrolle befindet. Auch dort geht China aggressiv vor, etwa mit dem Bau neuer Dörfer. Indien versucht, dem mit neuer, besserer Infrastruktur entgegen zu wirken. Ein weiteres Krisengebiet, Sikkim, liegt an einer Engstelle, die die einzige Verbindung zwischen dem Westen und Osten Indiens darstellt. Immer wieder Truppen beider Länder gegenüber, genau wie im Krisengebiet Ladakh.

Im Himalaya führt China einen erbitterten Krieg um Wasser: Am Fluss Yarlung Tsangpo, der in Tibet entspringt, sollen Turbinen mit einer Rekordleistung von 60 Gigawatt installiert werden – fast dreimal so viel wie im bisher weltgrößten Wasserkraftwerk, dem Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtse. Der Yarlung Zangbo ist der größte Hochgebirgsfluss der Welt. Er fließt 1 700 Kilometer über das Tibet-Plateau auf einer Höhe von etwa 4 000 Metern und folgt dabei der Nahtstelle zwischen Indien und Eurasien. Im Ost-Himalaya bricht er aus dem Hochplateau in der weltbekannten, hufeisenförmigen Zangbo-Schlucht nach Indien durch. Der Fluss, der in Indien Brahmaputra heißt, ist der wasserreichste Fluss Asiens, auf den hunderte Millionen Menschen angewiesen sind. Die Wasserstände dort sind zuletzt auf ein „besorgniserregend niedriges Niveau“ gefallen, wie die Mekong-Flusskommission – eine zwischenstaatliche Organisation von Mekong-Anrainern, an der China nicht beteiligt ist – mitteilte.

Auch der Mekong entspringt auf chinesischem Territorium. Der größte Fluss Südostasiens setzt seinen Weg fort durch Myanmar, Laos, Thailand, Kambodscha und Vietnam. China hat ihn mit insgesamt 11 Dämmen gestaut, ein wichtiger darunter ist der Jinghong-Damm in der Provinz Yunnan. „Die chinesischen Staudämme haben verheerende Folgen für die Menschen, die flussabwärts leben“, kritisiert die Umweltschutzorganisation International Rivers. Der Mekong tritt jedes Jahr zur Schneeschmelze im Himalaya und in der Monsunzeit in den Anrainerstaaten über die Ufer und befruchtet das Land mit wertvollen Sedimenten. Von 2019 bis April 2020 wurde der Nuozhadu- Damm mit Wasser gefüllt.2019 fiel der Fluss an der Grenze zwischen Thailand und Laos weitgehend trocken. Millionen von Fischen erstickten in kleinen übrig gebliebenen Pools. Die Situation war so dramatisch, dass Thailand seine Armee mobilisierte, um für Entspannung zu sorgen. Im selben Jahr gab es im Mekong-Delta keinen Monsun-bedingten Anstieg des Wassers. Millionen von Menschen im Delta sind immer wieder ohne Zugang zu Trinkwasser, weil von China so viel davon zurück gehalten wird. Zwischen Thailand und Laos wurden dagegen wiederholt zwischendurch plötzlich kurzzeitig enorme Überflutungen registriert. Das Wasser stieg innerhalb kürzester Zeit um mehrere Meter, richtete in den anliegenden Orten enorme Schäden an und sank ebenso plötzlich wieder. Peking behandelt seine Wasserpolitik als Staatsgeheimnis und teilt nichts dazu mit. Beobachtungen von Außen werden als Diffamierungen durch die USA behandelt.

Wir sollten niemals und zu keinem Zeitpunkt vergessen, aus welchem Beweggrund heraus China so konsequent agiert: Das Land will die nächste Supermacht werden. Die einzige Supermacht. Die Macht, die ihre Ansprüche im Zweifelsfall ohne Rücksicht auf Andere durchsetzen wird. Und die, die allen anderen diktiert, wie sie handeln; ja, was sie denken sollen.

Dabei kann das Land auf fast 1,5 Milliarden Menschen zurück greifen, die vom politischen System überzeugt sind; gar nicht anders können, als überzeugt zu sein. „Die Kommunistische Partei Chinas, die befürchtet, die Gewährung politischer Freiheit könnte ihre Macht gefährden, hat einen Orwellschen Hightech-Überwachungsstaat und ein ausgeklügeltes Internet-Zensursystem errichtet, um öffentliche Kritik zu überwachen und zu unterdrücken,“ vermerkt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem Jahresbericht 2020. „Peking hat lange Zeit die Kritik im eigenen Land unterdrückt. Nun versucht die chinesische Regierung, diese Zensur auf den Rest der Welt auszuweiten“, schreibt HRW-Chef Kenneth Roth in dem Bericht. Sollte China daran nicht gehindert werden, drohe eine „dystopische Zukunft“, in der sich niemand außerhalb der „Reichweite chinesischer Zensoren“ befinde. Zudem drohe das internationale Menschenrechtssystem so stark geschwächt zu werden, dass keine Überprüfung der Repression durch nationale Regierungen mehr möglich sei, warnte Roth. Dies zeigt sich laut dem HRW-Bericht bereits jetzt in den Gremien der Vereinten Nationen. Peking setze immer ausgefeiltere Technologien zur Unterdrückung ein und greife dadurch massiv in die Privatsphäre der Menschen ein. DNA-Proben würden unter Zwang gesammelt und große Datenanalysen sowie künstliche Intelligenz eingesetzt. „Ziel ist es, eine Gesellschaft frei von Dissens zu schaffen“, so die Menschenrechtler.

Human Rights Watch appellierte an die demokratischen Staaten, gemeinsam gegen Pekings Strategie vorzugehen. Sie sollen dafür etwa Alternativen zu chinesischen Krediten zur Verfügung stellen und das Vermögen chinesischer Regierungsvertreter einfrieren, die sich an der Unterdrückung der Uiguren beteiligten. HRW-Chef Roth wollte den Jahresbericht eigentlich in Hongkong vorstellen, doch wurde ihm am Flughafen der chinesischen Sonderverwaltungsregion die Einreise verweigert

Wie es aussieht, wenn sich ein Volk den chinesischen Eingliederungsbemühungen widersetzt, berichtet jedes Jahr die „Interntional Campaign for Tibet“ (ICT). Das Tibet-Jahr 2020:

Januar: Chinesische Behörden zerstören historische Gebäude in Lhasa und ersetzen sie durch Beton und Glas. Die ICT fordert die UNESCO auf, dagegen einzuschreiten.

Februar: Wegen Corona findet das tibetische Neujahrsfest Losar unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

März: Chinesische Drohgebärden zum Tag der Tibet-Solidarität am 10. März: Peking inszeniert einen marzialischen Truppenaufmarsch in Lhasa, während die Tibeter des Aufstands vom 10. März 1959 gedenken, nach dem ihr geistlicher Führer flüchten musste.

April: Der Mönch Gendun Sherab erliegt den langfristigen Folgen seiner schweren Folter in chinesischer Haft. Er hatte ein Dokument des Dalai Lama in die sozialen Medien weiter geleitet.

Mai: Wegen Corona erteilt der Dalai Lama am 16. Mai erstmals buddhistische Unterweisungen via Internet. Vor dem bedeutendsten Heiligtum des tibetischen Buddhismus, dem unter UNESCO-Schutz stehenden Jokhang-Tempel in Lhasa wurden zwei neue Pavillons im chinesischen Stil errichtet.

Juni: Im Rahmen einer „Umweltsäuberung“ befehlen Behördenvertreter und Polizisten der tibetischen Bevölkerung, ihre Gebetsfahnen in den Dörfern und auf Bergspitzen zu entfernen. Bilder des Dalai Lama dürfen sie schon lange nicht mehr besitzen.

Juli: Der Dalai Lama wird 85. Der Komponist Khadro Tseten wird zu sieben, der Sänger Tsego zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Beide haben ein Lied zu Ehren des Dalai Lamas eingespielt und verbreitet.

August: Hochrangige Menschenrechtler der UNO kritisieren Pekings „Reinkarnationsregeln“ für tibetische Lamas und fordern Zugang zum verschwundenen Panchen Lama Gendum Choekyi Nyima. Schwer krank wird die Tibeterin Dolkar aus chinesischer Haft entlassen, wo sie gefoltert und zu Schwerarbeit gezwungen wurde.

September: Zehn Mitglieder des Unterstützungskomittees für das örtliche Kloster werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die chinesischen Behörden zwingen hunderttausende Tibeter in ein staatliches „Arbeitsprogramm“ mit militärischen Umerziehungszentren und Transfers in chinesische Provinzen. Wenn sie vorgegebene Arbeitsquoten nicht erreichen, drohen Strafen.

Oktober: Der Tod der 36jährigen Lhamo wird bekannt. Sie starb in chinesischer Haft und wurde sofort eingeäschert, was eine Untersuchung unmöglich machte.

November: ICT-Geschäftsführer Kai Müller spricht bei einer Expertenanhörung im deutschen Bundestag. Er übergibt auch eine Petition im auswärtigen Amt. 2500 Menschen fordern die Bundesregierung auf, die Arbeitsprogramme in Tibet zu verurteilen und das Thema in Gesprächen mit der chinesischen Regierung auf den Tisch zu bringen.

Dezember: Der „Tibetan Policy and Support Act“ wird rechtskräftig. Das neue US-Gesetz ermöglicht persönliche Sanktionen gegen chinesische Funktionäre, die versuchen, sich in die Nachfolge es Dalai Lama einzumischen. Die chinesische Regierung teilt mit, die „Zentralregierung“ habe den religiösen Status und die Titel des Dalai Lama, sowie von Panchen Lama festgelegt. Offenbar sieht sie sich in deren Nachfolge. Die Stellungnahme der UN-Experten sei eine Einmischung in innere Angelegenheiten. Der tibetische Schriftsteller Gedrun Lhundrup ist verschwunden. Der tibetische Mönch Rinchen Tsultrim wird seit über einem Jahr ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten.

Im Januar 2021 ging es genau so weiter: Der 19jährigen Tenzin Nyima hatte im November 2019 für die Unabhängigkeit Tibets protestiert und wurde in der Folge mehrfach inhaftiert. Im Oktober 2020 wurden seine Angehörigen aufgefordert, den Mönch aus dem Gefängnis abzuholen. Er war so schwer geschlagen worden, dass er nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen konnte. Seine Familie brachte ihn noch in mehrere Krankenhäuser, aber man konnte ihm nicht mehr helfen.

Das Spendenkonto der International Campaign for Tibet, in deren internationalem Beirat unter anderem Harrison Ford und Desmund Tutu sitzen, deren internationaler Vorsitzender Richard Gere ist, ist bei der Bank für Sozialwirtschaft: IBAN DE20 1002 0500 0003 2104 00. Spenden können steuerlich abgesetzt werden.

Siehe auch:

Tibet: Ein Volk im Würgegriff protestiert mit immer mehr Selbstverbrennungen

Gesundheits-App und Sozialkredit: China ist ein Überwachungsstaat

Updates:

China – Indien: Unless a Complete Disengagement at Depsang and Demchok, Consider Doklam is Repeated

Hongkong wird nie mehr demokratisch wählen: China moves to overhaul Hong Kong’s electoral system

China can share with the world opportunities and experience

Volkskongress beschließt Stärkung des Militärs und  Konzept der „zwei Kreisläufe“

China will in Hongkong „Einfluss prodemokratischer Kräfte“ beschränken

China gegen die USA: Alle Zeichen stehen auf Konfrontation

US-Außenpolitik: Wer zieht mit gegen China?

„Evidence of Beijing’s ‚intent to destroy‘ Uyghur people“

Top US commander fears Chinese invasion of Taiwan by 2027

China bestätigt Analtests gegen Corona an Flughäfen

Diplomatentreffen USA-China: Konfrontation mit Ansage

A Taiwan Crisis May Mark the End of the American Empire

Apple warns Chinese apps not to dodge its new privacy rules

U.S. Spy Plane Sets Record With Close Flight Off Chinese Coastline

Wer Pekings Lied nicht singt, wird bestraft

Calls for boycotts in China against Nike and H&M over Xinjiang cotton

Appels au boycottage en Chine contre les marques qui refusent l’utilisation du coton du Xinjiang, lié au travail forcé des Ouïgours

US military cites rising risk of Chinese move against Taiwan

Erpressung: Impfstoff gegen Aberkennung der Souveränität Taiwans

Scientists call for new probe into COVID-19 origins: with or without China

Chinesische Geschäftsleute: „Spionage-Abwehr-Training“ gegen ausländische Einflüsse

„If China wins with its central bank digital currency, that’s the end of the American hegemony.”

Beijing takes pointers from Mao in protracted power struggle with US

Updates:

Tibet und der Preis für Olympia in China

Ein Fünftel der Kredite aller afrikanischen Staaten kommen aus China

China: Börseninterventionen, Produktionsstillstand, Verschuldung: Die Zweifel wachsen

Sorge um Chinas Entwicklung: Selbst die Häfen sind im Lockdown

Putin, Xi to discuss European security amid Ukraine standoff

Chinas Luftwaffe betreibt „Grauzonen-Kriegsführung“ in Taiwans Luftraum

Naval association rejects Taiwanese members after pressure from China

China droht den USA mit Krieg, falls sie weiter für die Unabhängigkeit Taiwans eintreten

Chinesischer Milliardär hat In Texas viel Land gekauft, um Windfarm zu errichten: Hintergrund

Singapore’s largest ETFs to be excluded from China connect scheme

China pledges ‚purification‘ of the internet ahead of the Beijing Winter Olympics

Sportler und Offizielle bei Olympiade 2022 in Peking müssen App laden, die sie ganz leicht ausspionieren könnte

Chinese Panchen Lama visit to Nepal a political gimmick

Bundesregierung lehnt Investitionsgarantien für ein deutsches Unternehmen ab

China is pursuing a Pacific-wide pact with 10 island nations 

China baut Verbindungen in den Südpazifik aus

China will help us weather financial crisis, says Sri Lanka

Nasa-Chef Nelson warnt vor chinesischem Weltraumprogramm: «China will den Mond»

Unipolar vs Multipolar. G7 vs BRI. US vs China. EU vs Russia. China & Taiwan. Russia & Ukraine. What Is Going On?

China Has Urged The West To Read The New 14th BRICS Summit Declaration Carefully. This Is What It Says:

The United States Should Be Wary of Engaging Cuba

„Disloyal“: Was muss passieren, damit ein Süchtiger geht?

Was muss passieren, damit ein Co-Narzisst einen Narzissten verlässt? Diese spannende Frage beantwortet der langjährige Anwalt von Präsident Donald Trump: NICHTS lässt einen Süchtigen wirklich Abschied nehmen. „Disloyal“ – abtrünnig – heißt das Buch, das Michael Cohen im Gefängnis geschrieben hat. Es zeigt auf, wie grenzenlos dieser Mann bereit war, für Donald Trump einzustehen, und warum er schließlich „abtrünnig“ wurde: Weil ihm außer seiner Geschichte nichts geblieben ist. Nichts plus etwas unglaubliches: Die Zuneigung zu dem Mann, dem er erlaubte, sein Leben zu zerstören.

Michael Cohen und Donald Trump haben einiges gemeinsam: Beide suchen nach größtmöglicher Macht, nach Ansehen in der Gesellschaft; nach Reichtum und Statussymbolen. Beide sind bereit, dafür zu tun, was immer nötig ist – egal, ob im Rahmen der Gesetze, oder nicht. Wäre das nicht so, hätten sie sich vielleicht nicht so einfach gefunden. Der Eine, Donald Trump, verfügt über ein unglaublich manipulatives Charisma und einen schlafwandlerischen Sinn für Opfer. Der Andere, Michael Cohen, ist getrieben von der unstillbaren Sehnsucht, einem reichen, mächtigen, charismatischen Menschen wie Trump dienen zu dürfen, damit eine geheime Macht über ihn zu erlangen und ihn an sich zu binden. Auf diese Weise, im Schatten des bewunderten Menschen, sieht er sich wachsen als Mann im Hintergrund, der die Strippen zieht und die wahre Macht übernimmt, auch wenn nur er selbst es weiß.

Cohen stürzt genau in dem Moment, als er sich auf dem Gipfel wähnt. Er stürzt und wird von Donald Trump wortlos fallen gelassen, so wie alle vor ihm, die den gleichen Wunsch hatten. Halb aus Rache, halb als Versuch der Selbsttherapie entscheidet er sich, der ganzen Welt in einem Buch die Wahrheit zu sagen. Zu dieser Wahrheit gehört aber auch: Michael Cohens Zuneigung zu Donald Trump ist ungebrochen.

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Gaspipe Casso
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Roy DeMeo

Michael Cohen wird am 25. August 1966 in eine wohlhabende jüdische Familie als zweites von drei Kindern geboren. Sein Vater, ein polnischer Jude, hat den Holocaust überlebt und praktiziert in New York als Arzt. Der junge Michael hat schon als Kind einen starken Sinn für Loyalität – und zwei Seelen in der Brust. Vordergründig lebt er, wie man es von ihm erwartet: Er geht zur Schule, später zur Uni, studiert mit möglichst geringem Kraftaufwand, um den von den Eltern gewünschten bürgerlichen Beruf zu ergreifen, heiratet die Liebe seines Lebens. Seine zweite Seite ist dunkler. Groß ist die Bewunderung des Teenagers für die Gangster, die in den 80er Jahren die Stadt beherrschen und sich in stattlicher Zahl im „Club“ seines Onkels Morty Levine einfinden, dem El Caribe. Dort hilft der geschäftstüchtige junge Mann bis zum Ende seines Studiums immer wieder aus und betreibt auch einen eigenen Eisstand. Er lernt die harten Jungs seiner Zeit kennen, die teilweise Dutzende von Morden auf dem Konto haben, so etwa „Gaspipe“ Antony Salvatore Casso, Roy DeMeo, Anthony Senter, Joey Testa oder Frank Lastorina. Als er eines Tages Zeuge eines Mordes wird, zeigt er sich loyal und verrät der Polizei nichts. Dafür belohnt ihn der Mörder mit 500 Dollar.

In seiner Kanzlei ist Anwalt Michael Cohen schnell erfolgreich und verdient gutes Geld, das er in Taxi-Lizenzen und Immobilien investiert. Für seine junge Familie, Ehefrau Laura und die beiden Kinder, kauft er drei Appartements in einem Trump-Gebäude, die er zu einer einzigen Wohnung umbauen lässt. Bei dieser Gelegenheit freundet er sich mit Donald Trump junior an. So kommt es, dass er eines Tages im Jahr 2006 einen Anruf von dessen Vater erhält, der ihn um ein Treffen bittet. Der analytische Verstand Cohens begreift bei diesem Treffen innerhalb kürzester Zeit, worauf er sich einlässt: Auf einen Menschen, der stets gelobt werden muss, der so lange lügt, bis er selbst an seine eigene Geschichte glaubt, und der absolute persönliche Loyalität verlangt, völlig egal, ob er innerhalb des Rechts agiert, oder nicht.

Nach einigen Testaufträgen erwirbt er sich Trumps Vertrauen und bezieht gegen den Rat seiner Familie ein Büro im Trump Tower. Von diesem Moment an lebt Michael in einem aufreibenden Chaos, in dem sich Drama an Drama reiht. Innerhalb kurzer Zeit lernt er, ohne dass man es im wörtlich sagt, was seine Aufgabe hier sein wird: Er ist der Mann für die schmutzigen Aufgaben, der Auskehrer hinter einem Menschen, der nach seinen eigenen Gesetzen lebt. Donald Trump ist wegen seiner lautstarken Wutausbrüche gefürchtet, ebenso wie wegen seiner ständigen Wortbrüche. Dazu gehört auch, dass er Rechnungen nicht bezahlt, wenn das Ergebnis der Leistung nicht seinen Vorstellungen entspricht. Privat ist er Raubtier in Sachen Sex. Immer wieder tauchen Frauen auf, die behaupten, sexuell bedrängt worden zu sein oder Affairen mit Donald Trump gehabt zu haben, die sie nun zu Geld machen wollen. Die Porno-Darstellerin Stormy Daniels ist wiederholt darunter. Das Geld, das sie schließlich bekommt, als Trump bereits Präsident ist, wird einer der Brocken sein, die Cohen das Genick brechen.

„Da wusste ich, dass dieser Mann einmal Präsident sein würde,“ schreibt er, nachdem er erlebt hat, wie Donald Trump sich im Beisammensein mit führenden Evangelikalen in einer bühnenreifen Darstellung als Mann Gottes präsentiert. Auch diesen Kontakt hat ihm sein persönlicher Anwalt vermittelt: Dessen Nachbarin ist nämlich Paula-Michelle White-Cain, eine Führungsfigur unter den Evangelisten, die das Zusammentreffen organisiert. Diese Wandlungsfähigkeit in der Selbstdarstellung, verbunden mit einem großen Geschäftssinn und dem Instinkt Trumps bei der Auswahl „nützlicher“ Menschen bewundert sein „Fixer“ rückhaltlos. In großer Detailgenauigkeit erfährt der Leser, wie und mit wem „der Boss“ Geschäfte macht (immer wieder mit Hilfe der persönlichen Kontakte Cohens), wie er dabei Menschen über den Tisch zieht, kleine Unternehmen einfach nicht bezahlt, wohl wissend, dass diese sich langjährige Gerichtsverfahren nicht leisten können. Der Anwalt spart nicht aus, wie oft er sich persönlich demütigen lassen muss, wenn Trump mal wieder einen Schuldigen braucht oder einfach seine Laune heben will. Er lässt es geschehen, so wie das ganze Umfeld Trumps, einschließlich seiner drei Kinder. Gelegentliches Lob und vor allem sein Gefühl, für den „Boss“ unersetzlich zu sein und zu dessen innerstem Kreis zu gehören, honorieren ihn nach eigener Wahrnehmung reichlich. Dafür lässt er sich das Gehalt halbieren, setzt persönliche Freundschaften und sogar seine Familie auf’s Spiel.

Über seine persönliche Entwicklung schreibt Michel Cohen: „In den Tagen, als ich auf die kommende Kandidatur zu schwebte, begann ich zu fühlen, wie ich mich veränderte: Ich schien eine härtere und entschlossenere Version meiner selbst zu werden – bereit, willens und fähig, Trump zu gefallen – egal womit. Da entstand eine neue Version von Schamlosigkeit, eine Persönlichkeit, körperlos und im Äther fließend, wie ein Cartoon von bully boy. Kurz: Ich wurde zu Trump.“

Die Weise wie sich der spätere Präsident Aufmerksamkeit verschafft, ist oft tief unter der Gürtellinie. So ist der Hass auf seinen Vorgänger Barack Obama „grenzenlos“. Nach dessen Amtseinführung 2008 geht Trump so weit, ein Video mit einem Obama-Double drehen zu lassen, in dem er diesen rituell feuert. Er versucht, Obama zu diskreditieren, indem er öffentlich anzweifelt, ob dieser in den USA geboren ist. Ähnlich ergeht es anderen seiner Feinde: Einem unterstellt der die Nähe seines Vaters zum Killer von Präsident Kennedy, Lee Harvey Oswald. Ob sich seine Anschuldigungen beweisen lassen, ist ihm egal: Durch das Streuen des Verdachts sichert er sich selbst Medienpräsenz und etwas bleibt immer hängen. Trump – und in seinem Namen Michael Cohen – droht, wütet, erpresst, pokert und lügt, um Recht zu haben und zu gewinnen. „Er war rücksichtslos. Er beschuldigte immer wieder Andere dessen, was er selber tat. Das war Teil seines Modus operandi.“

Immer wieder nimmt der Anwalt das Chaos und Drama um Donald Trump als völlig andere Realität wahr. Eine Lüge wird erfunden und so lange wiederholt, bis Trump selbst und alle um ihn herum glauben, es handele sich um die Wahrheit. „Niemand sagt Trump je die Wahrheit über sein Benehmen, seine Überzeugungen oder darüber, welche Konsequenzen sein Verhalten, seine Ignoranz und Arroganz haben. Er lebt in einer Blase, die nichts mit dem realen Leben zu tun hat. Alle lügen für ihn und loben ihn, aus Angst davor, für immer verbannt zu werden, wenn sie es nicht tun.“

Der Tag, an dem Donald Trump seine Kandidatur öffentlich macht, wird zu einem Albtraum für seine ganze Mannschaft und seine Kinder. Statt sich als integrative Führungsperson zu zeigen, hält er eine Hassrede. Mexikaner seien Vergewaltiger, bringen Drogen und Gewalt ins Land, der amerikanische Traum sei vorbei und er werde seine Kampagne aus eigenen Mitteln finanzieren. Nachdem sich das erste Entsetzen gelegt hat, erkennt Michael Cohen das System dahinter: „Trump hat die Gefühle derer aufgenommen, die in den Obama-Jahren Rassisten genannt wurden: Weiße, Konservative, Christen; Menschen, die die Nase voll haben von politischer Korrektheit, davon, illegale Immigration zu tolerieren und vorgeben zu müssen, an Dinge zu glauben, von denen sie einfach nicht überzeugt sind. Für all diese Leute ist Trump der Champion. Der wenig Gebildete, der Reaktionär, die Leute, die glauben, dass Abtreibung Mord ist – sie alle sehen einen furchtlosen Geschäftsmann vor sich, der die politische Ordnung Amerikas Bullshit nennt. Die Globalisierung, der Klimawandel, die gleichgeschlechtliche Ehe, der Verlust amerikanischer Arbeitsplätze an die Dritte Welt, Immigration, die zentrale Rolle Gottes – all die trauernden Menschen, die Menschen mit starken Ressentiments, haben in ihm ihren Anwalt gefunden.“

Eine große Verantwortung dafür, dass Donald Trump Präsident werden konnte, so der Anwalt, tragen die Medien. „Trump ist ein Produkt der freien Medien. Frei wie kostenfrei. Die freie Presse gab Trump Live-Shows, Tweets, Pressekonferenzen, idiotische Interviews, rechte, linke und moderate Präsenz im Fernsehen, im Radio im Internet, in Facebook. Sie hat Trump gewählt und könnte ihn sehr gut auch wiederwählen. Der Boss weiß, wie man die Gier und Käuflichkeit der Journalisten ausnutzt; darin war und ist er Experte. Trump war immer eine gute Story mit den ständigen Chaos und Drama um ihn herum. CNN, die Times und Fox News fraßen ihm pflichtschuldig aus der Hand.“

Ähnlich sieht Michael Cohen die Situation vor der neuen Wahl. „Trump witzelt über eine zweite und weitere Präsidentschaften. Aber Donald Trump macht niemals Witze.“

Das Sex-Raubtier Trump ist sehr angetan von russischen Geschäftspartnern, die ihre Freude an besonders vulgärem Sex haben. Michael Cohen erlebt, wie begeistert sein Boss eine Darstellung von goldenen Duschen erlebt (urinieren auf eine Person). Er weiß nicht, ob es wirklich ein Video gibt, in dem der Präsident sich in einem russischen Bett, in dem bereits das Ehepaar Obama geschlafen hat, von Prostituierten goldene Duschen geben ließ. Aber er wäre, wie er schreibt, nicht erstaunt darüber. Er hört Donald Trump immer wieder auf vulgärste Weise über Frauen, Titten und Ärsche reden. Obwohl es ihn anekelt, nimmt er sogar hin, dass Trump seine eigene Tochter mit entsprechenden Vokabeln bedenkt.

Als der „Boss“ schließlich Präsident wird, macht Stormy Daniels einen weiteren Vorstoß, an Geld zu kommen. Sie hat Trump in der Hand, so dass dieser sich bereiterklärt, 130 000 Dollar zu zahlen. Aber die Spuren müssen verwischt werden. Donald Trump hat jedoch seinen Mann für solche Fälle, den CEO der American Media, David Pecker, vergrätzt.

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Dieser hat 150 000 Dollar an das Playmate Model Playboy-Model Karen McDougal gezahlt, um sie 2016 mit ihren Sex-Vorwürfen mundtot zu machen. Trump erstattet ihm das Geld jedoch nicht. Nun findet sich niemand mehr, der bereit ist, seinen Namen und sein Geld für die Überweisung herzugeben. Schließlich nimmt Michael Cohen, ohne seiner Frau etwas davon zu sagen, einen Kredit über 130 000 Dollar auf und gründet eigens eine Firma, um dieses Geld möglichst ohne Spuren an Daniels zu leiten. Trump macht auch hier keine Anstalten, ihm die Summe zu erstatten, kürzt vielmehr am Jahresende auch noch seinen Bonus auf geradezu lächerliche 50 000 Dollar.

Viel später, als Trump lange Präsident ist und sein Schwiegersohn Jared Kuschner zum neuen Stern an seiner Seite geworden ist, gibt es schließlich ein Agreement: Cohen arbeitet wieder in seiner Kanzlei, will den „Boss“ aber weiter in speziellen Angelegenheiten beraten und bekommt dafür monatliche Schecks bis zur Höhe der Summe. So macht Trump erneut ein Geschäft: Er kann mit Hilfe der Rechnungen auch noch Steuern sparen.

Wenig später, Cohen hat gerade ein Gespräch Donald Trumps mit dem Sheikh Hamad bin Jassim bin Jaber bin Mohammed bin Thani Al Thani aus Katar, einem der reichsten Menschen der Welt arrangiert, taucht plötzlich das FBI in seiner Privatwohnung auf, durchsucht alles und konfisziert seine Handies und Laptops.

Mit ungläubigem Staunen verfolgt der treu ergebene Anwalt in den Medien, wie sein „Boss“ ihn nicht nur fallen lässt, sondern auch seine für ihn so wichtige exklusive Rolle herunterspielt und schließlich aufhört, seine Anwälte zu zahlen. Gebunden an eine Schweigeverpflichtung erlebt Michael Cohen, wie der Staat Anschuldigungen gegen ihn erhebt, die er nicht zu verantworten hat, wie man öffentlich über ihn lacht, dass er aus eigenem Vermögen Trumps Sexgeschichten bezahlt. Er beschließt, mit den Behörden zu kooperieren. Das löst aktive Gegenwehr des Präsidenten aus, der nun alles tut, seinen einstigen Ausputzer und „Fixer“ unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Wie in einem schlechten Film erlebt dieser nun am eigenen Leib, was er selbst mehr als zehn Jahre lang zugunsten Trumps so vielen angetan hat. Über das Justizministerium versucht sein „Boss“, ihn unterschreiben zu lassen, dass er niemals über seine Geschichte sprechen wird und auch alle anderen, die etwas davon wissen, davon abhalten wird. Er unterschreibt nicht. Schließlich stellt man Cohen vor die Wahl: Entweder erklärt er sich schuldig in acht Punkten, von denen er einige gar nicht begangen hat, und wird verurteilt, oder man wird sein Vermögen von über 50 Millionen Dollar einfrieren und sowohl ihm, als auch seiner völlig unbeteiligten Ehefrau Laura den Prozess machen. Daraufhin verlangt sein Anwalt sofort ein Millionen-Honorar und droht damit, die Verteidigung abzugeben. Der Gefallene hat keine Wahl: Er bekennt sich schuldig und wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Nachdem er zunächst relativ komfortabel untergebracht ist, gerät der Anwalt später an Wärter, die zu den Trump-Anhängern zählen und ihn schikanieren. Er verbringt mehr als einen Monat in Einzelhaft und grübelt die ganze Zeit darüber nach, wie es geschehen konnte, dass er für Donald Trump alle seine rechtlichen Pflichten als Anwalt über Bord werden konnte. Ganz langsam erkennt er, wie und warum er in immer tiefere Abhängigkeit von einem charismatischen, aber selbstsüchtigen, empathiefreien Menschen geraten konnte – und wird dennoch nicht frei von ihm. Seine Existenz ist zerstört, sein Vermögen zum größten Teil aufgebraucht. So entscheidet er schließlich, ein Buch zu schreiben, das rückhaltlos ehrlich ist. Er wird abtrünnig, verlässt den Kreis des Schweigens und analysiert dabei gnadenlos sein eigenes Verhalten. Er wird zum Büßer und zum Rächer: Untreue gegen Untreue.

Und doch brennt und weint sein Herz: Noch immer will es Donald Trump nicht loslassen.

Siehe auch:

Narzisstische Wut will vernichten: H.G. Tudor und Donald Trump

Warum landen manche Menschen immer wieder bei „den Falschen“?

„Mein wahres Ich wirst du nie erreichen“

„Warum heilen wir uns nicht gegenseitig?

Ein tragisches doppeltes Trauma

„Der Mann meines Lebens ist ein Narzisst“ und die dortigen Links

„Mein wahres Ich wirst du nie erreichen“

Ein tragisches doppeltes Trauma

„Warum heilen wir uns nicht gegenseitig?

Siehe ausserdem: „Make America great again“: Mit Donald Trump kommt ein Lügner und Betrüger ins Amt und

„Donald Trump zu unterschätzen, wäre ein tödlicher Fehler“

Update: Donald Trump hat mindestens eine Milliarde Schulden

Update: Trump hat insgesamt 1,1 Milliarden Dollar Schulden – eine Auflistung

10 Jahre Irak-Krieg: 160 000 Menschen starben wegen einer Lüge

Dieser Krieg hat es mir zum ersten Mal in aller Härte klar gemacht: Die Menschen in den USA, die ich überwiegend als freundlich und hilfsbereit kennengelernt habe,  sind das Eine – die Regierung das Andere. Die Regierung will Macht über die Welt und wird die Energieversorgung der Staaten mit allen Mitteln sichern – egal mit welchen.

Vor zehn Jahren begann der Krieg gegen den Iran.

Die hier eingebettete ZDF-Dokumentation zeigt in aller Klarheit auf, wie ein einzelner Mann, der in Deutschland eine neue Heimat finden wollte, nicht nur den deutschen Geheimdienst lächerlich gemacht hat – der ihn ein Jahr lang fürstlich honorierte für frei erfundene Geschichten. Sie zeigt auch, wie die Regierung Bush sich gegen alle – schließlich doch gewonnenen – Erkenntnisse genau dieses Mannes bediente, um einen Krieg um Öl zu beginnen, der schließlich mindestens 160 000 Menschen das Leben kostete.

Und er zeigt noch viel mehr: Wie schwer es ein Land hat, das mit den USA verbündet ist, auch ungerechtfertigtem Druck von dort zu widerstehen – und wie USA-hörig unsere Medien sind, die nach der Weigerung Deutschlands, sich aktiv am Krieg zu beteiligen, nicht müde wurden zu postulieren, dass Deutschland nun weltweit isoliert sei.

Ein Erfolg war der Irak-Krieg trotz riesigen Aufwandes nicht: Etwa 30 Experten von der Brown University kommen zu dem Schluss, dass der Krieg den USA wenig gebracht habe, während der Irak ein Trauma durchlitt. Er habe radikalen Islamisten Auftrieb gegeben, den Frauenrechten geschadet und das ohnehin angeschlagene Gesundheitssystem geschwächt. Das 212 Milliarden Dollar teuere Wiederaufbau-Programm sei im Wesentlichen ein Fehlschlag (Quelle: Reuters). Es gab nicht nur zwischen 160 000 und 190 000 Tote, sondern auch extremen Image-Schaden für die „Befreier“, als Die Folterungen irakischer Soldaten bekannt wurden. Es gab rund 4500 tote US-Soldaten, rund 32 000 US-Verwundete und ungezählte traumatisierte Menschen auf beiden Seiten.

Der Spiegel zieht dazu ein klares Fazit: „Wir müssen uns verabschieden von der Unsitte moralisch überhöhter Schwarz-Weiß-Malerei. Begriffe wie „Achse des Bösen“ oder „Schurkenstaat“ taugen schlecht als Kategorie für verantwortliche Außenpolitik“.

Und das Öl?

Auch hier hat sich der Irak-Krieg für Amerika nicht gelohnt. China und Russland stoßen in die Lücken vor, mit Exxon musste der letzte US-Multi seine Verträge aufgeben.

Ob das in Sachen Iran nun ein lehrreiches Beispiel war?

Ich bin nicht sicher.

Update: Zehn Lehren aus Amerikas Krieg

Update: Wutbrief eines Todgeweihten

Update: Thomas Young: Ein Kämpfer gibt auf

Update: Studie macht CIA unter Regierung Busch schwere Foltervorwürfe

Update: Obama schickt keine Truppen gegen die Dschihadisten

Update: Bagdad bereitet sich auf den Angriff der Dischihadisten vor

Update: Warum die Isis-Kämpfer im Irak leichtes Spiel haben

Update: Guide to understanding the conflict in Irak

Update: Warum Isis so gefährlich ist

Update: Im Irak zählt nur das Öl

Update: Der leise Abschied der Nato in Kabul

 Update: Warum auch Afghanistan wertvoll ist

Update: Invasion im Irak: Telegramm belastet George Bush schwer

Update: Streit in den USA über Irak-Invasion: Rumsfeld redet sich raus

Update: 20 Jahre Irakkrieg: Ein fatales historisches Erbe und seine Folgen für die Ukraine 

Update: US-Senat stimmt für Abschaffung von rechtlicher Grundlage für Einmarsch in Irak 2003

UN-Menschenrechtskommission stellt Israels Siedlungspolitik an den Pranger

Mit seiner umstrittenen Siedlungspolitik verletzt Israel nach Einschätzung von UN-Experten andauernd die Menschenrechte von Palästinensern. Mit dem System abgeschlossener Wohngebiete allein für Israelis auf widerrechtlich besetzten Gebieten werde Palästinensern das grundlegende Recht auf Selbstbestimmung verwehrt, stellte eine vom UN-Menschenrechtsrat berufene Kommission am Donnerstag in Genf fest.

„In Übereinstimmung mit Artikel 49 der Genfer Konvention muss Israel alle Siedlungsaktivitäten ohne Vorbedingungen einstellen“, erklärte die Leiterin der Kommission, Christine Chanet (Frankreich). Die Siedlungspolitik sei verbunden mit der Vertreibung von Menschen, wie sie in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag falle. Seit Jahren mache sich Israel einer „systematischen und alltäglichen Diskriminierung des palästinensischen Volkes“ schuldig.

Israel kritisierte den Bericht als „kontraproduktiv“. Nur direkte Verhandlungen ohne Vorbedingungen könnten alle bestehenden Probleme zwischen Israel und den Palästinensern lösen, einschließlich des Siedlungsproblems, teilte die israelische UN-Mission in Genf mit. „Kontraproduktive Maßnahmen wie der heute veröffentlichte Bericht werden die Bemühungen um eine tragfähige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nur erschweren.“

Die Kommission wirft Israel auch vor, Palästinenser aus ihren angestammte Wohngegenden zu vertreiben: „Die Absicht hinter Gewalt und Einschüchterung gegenüber Palästinensern besteht darin, die lokale Bevölkerung von ihrem Land zu vertreiben, damit die Siedlungen ausgeweitet werden können“, erklärte Kommissionsmitglied Unity Dow (Botswana).

Ungeachtet internationaler Kritik hatte Israel erst Mitte Januar den Bau von etwa 200 neuen Häusern in zwei Siedlungen im Westjordanland angekündigt. Am Dienstag sorgte Israel im Zusammenhang mit der Siedlungspolitik für einen Eklat im UN-Menschenrechtsrat: Als erster UN-Mitgliedsstaat boykottierte Israel eine Überprüfung der Menschenrechtssituation auf seinem Staatsgebiet durch das zuständige Gremium der Vereinten Nationen. Dabei sollten Vertretern Israels auch Fragen zur Siedlungspolitik gestellt werden.

Die Regierung in Tel Aviv hatte bereits im Frühjahr 2012 die Einstellung der Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtsrat angekündigt, der „parteiisch und nicht objektiv“ sei. Der jüngste Bericht bestätige diese Haltung, hieß es am Donnerstag. Die Einsetzung der Kommission zur Überprüfung der israelischen Siedlungspolitik war im März 2012 von der 19. Tagung des UN-Menschenrechtsrates beschlossen worden. (dpa)  Quelle: Sächsische Zeitung 

Hier finden Sie das komplette Dokument der Menschenrechtskommission

Update: Israelische Soldaten brüskieren im Westjordanland ausländische Diplomaten

Update: Passend zum WM-Halbfinale: Heftige Raketenangriffe und Gefechte Israel-Hamas

Update: Israel reagiert auf Gewalteskalation: Harsche Methoden gegen jüdische Extremisten

Die Atommacht Israel entzieht sich jeder internationalen Kontrolle

Baut der Iran die Bombe? Ja, er tut es, sagt der israelische Präsident Netanjahu und versucht seit Monaten sehr aggressiv sowohl die USA, als auch Europa von der Notwendigkeit eines Erstschlages zu überzeugen. Das ausschlaggebende Argument: Der Iran verweigere Kontrolleuren umfassenden Einblick.

Sicher ist dabei aber vor allem eines: Israel hat die Bombe schon lange. Aber Israel weigert sich nicht nur, dieses Thema überhaupt zu diskutieren; es reagiert auch mehr als ungehalten, wenn man es auffordert, seine atomaren Aktivitäten durch internationale Gremien kontrollieren zu lassen. Diese Tatsache wird, zusammen mit den zunehmenden verbalen Attacken gegen den Iran immer mehr Menschen deutlich als nicht  vertrauenswürdig bewusst.

Wenn noch dazu kommt, dass diesbezügliche Kritik an Israel von den europäischen Medien praktisch totgeschwiegen wird, drängt sich ein weiterer Eindruck geradezu auf: Hier wird einseitig Stimmung für einen möglichen Iran-Krieg bei maximaler Schonung Israels gemacht.

A vote by the United Nations has called on Israel to open its nuclear programme to inspectors

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat am 4. Dezember 2012 Israel mit überwältigender Mehrheit aufgefordert, sein Atomprogramm offenzulegen und UN-Inspektoren Zugang zu gewähren. Israel solle „ohne weitere Verzögerung“ dem Atomwaffensperrvertrag beitreten, hieß es in einer Resolution, die am Montag mit 174 gegen sechs Stimmen bei sechs Enthaltungen angenommen wurde. Nur die USA, Kanada, die Marshall-Inseln, Mikronesien und Palau stimmten gegen die Resolution.

Gleichzeitig wurde Israel aufgerufen, eine Atomkonferenz zu unterstützen, bei der es um einen atomwaffenfreien Nahen Osten gehen sollte. An der Konferenz Mitte Dezember in Helsinki in Finnland wollten alle arabischen Staaten und der Iran teilnehmen, aber die USA teilten Ende November mit, dass die Konferenz nicht stattfinden werde. Als Grund wurden die politischen Unruhen in der Region und das iranische Atomprogramm genannt. Der Iran und einige arabische Staaten vermuteten aber, dass der tatsächliche Grund die Weigerung Israels war, an der Konferenz teilzunehmen. Der syrische Diplomat Abdullah Hallakäußerte seinen Unmut über die Stornierung der Konferenz wegen der Launen nur eines potentiellen Teilnehmers, “eines Teilnehmers mit Nuklearwaffen.”  Weitere Informationen: press.tv oder The Guardian

Israel wird sein Atomprogramm nicht offenlegen. Das gab das israelische Außenministerium am  Dienstag letzter Woche bekannt. Die Resolution sei „bedeutungslos“ und „routinemäßig“, hieß es von israelischer Seite. Sie sei bereits vor zehn Jahren verfasst worden, werde jedes Jahr vor die Generalversammlung gebracht und mit großer Mehrheit verabschiedet, sagte der Sprecher des Außenministeriums Jigal Palmor laut der israelischen Tageszeitung „Jerusalem Post“. Aufgrund dieser routinemäßigen Abstimmungen, die automatisch von einer Mehrheit getragen würden und Israel aussonderten, verliere die UN-Vollversammlung an Glaubwürdigkeit, fügte Palmor hinzu. Die Resolution fordert Israel außerdem dazu auf, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Quelle: Israelnetz.de-Newsletter vom 05.12.2012

Man schätzt, dass Israel über 75 bis 200 Atomwaffen und hochentwickelte Trägersysteme verfügt. Damit rückt das Land auf Platz fünf in der Liste der Atomwaffenmächte, hinter Frankreich und China. Israel hält jedoch jegliche Informationen über seine Atomwaffen streng geheim. Der letzte Mensch, der etwas darüber veröffentlichte, war Mordechai Vanunu. 1985 berichtete der Atomtechniker der britischen Presse Details über Israels Atomwaffenprogramm. Er wurde wegen Spionage zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt; davon wurde er die meiste Zeit in Isolierhaft gehalten.

Dimona

Im November 1999 veröffentlichte die populäre Tageszeitung „Yediot Ahronot“ Auszüge aus mehr als 1.200 Seiten von Abschriften Vanunus. Dadurch ist bekannt, dass die israelischen Atomwaffen im Negev Atomforschungszentrum bei Dimona entwickelt und gebaut wurden. Mit Hilfe von Frankreich baute Israel dort einen Atomreaktor und eine Plutoniumherstellungsanlage. Dimona ging 1964 in Betrieb, kurz danach begann die Wiederaufarbeitung von Plutonium. Zum Zeitpunkt seiner Enthüllungen, so berichtete Vanunu, war Israel im Besitz von 100 bis 200 hochentwickelten Atomwaffen. Heute dürfte die Zahl höher sein. Quelle: atomwaffena-z.info

1985 machte Vanunu erstmals öffentlich, dass Israel Nuklearwaffen besitze. Fotos von israelischen Atomsprengköpfen wurden in der Londoner Sunday Times veröffentlicht. Um sicher zu gehen, ließ die Zeitung das Material vorher durch die Experten Frank Barnaby und Theodore B. Taylor prüfen. Vananu gehörte zu den 150 Personen, die zum Komplex Machon 2 (von insgesamt zehn mit mehreren tausend Beschäftigten) Zutritt hatte. Hier wird in den sechs unterirdischen Etagen Plutonium getrennt und als Bombenkomponenten auch Tritium und Lithium (Isotop 6Li) (für eine höhere Energieausbeute bei thermonuklearen Waffen verwendbar) hergestellt. Vanunu wurde 1986 noch vor der Presseveröffentlichung von der israelischen Agentin Cheryl Ben Tov von London nach Rom gelockt, dort verschleppt und wegen Landesverrats zu 18 Jahren Haft verurteilt. Die Dokumentation am Ende dieses Beitrags berichtet ausführlich über seine Geschichte. Nach seiner Freilassung erklärte er erneut, Israel baue auch Wasserstoffbomben und Neutronenbomben. Vanunu wurde 2007 wieder inhaftiert. 

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Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert deutete bei seinem Besuch in Deutschland in einem Interview am 11. Dezember 2006 bei N-24 Israel als Atommacht an: „Iran hat offen, öffentlich und ausdrücklich damit gedroht, Israel von der Landkarte ausradieren zu wollen. Kann man sagen, dies ist das gleiche Niveau, wenn man nach Atomwaffen strebt, wie Amerika, Frankreich, Israel, Russland?“ Gernot Erler (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, kommentierte hierzu, es sei in der Welt lange bekannt, dass Israel Atomwaffen habe.

Die Schätzungen über die Anzahl der Nuklearsprengköpfe beruhen in der Regel auf Berechnungen, wie viel waffenfähiges Material die Reaktoren in Israel jährlich produzieren können. Israelische Wissenschaftler nannten 1982 die Zahl von 250 Sprengköpfen. Die Federation of American Scientists vermutete 2007, dass Israel über 100 bis 250 Atomsprengköpfe für Mittelstreckenraketen verfüge. Oberstleutnant Warner D. Farr von der Air University der US-Luftwaffe schätzte die Zahl der Atomsprengköpfe für das Jahr 1997 auf über 400. Das International Institute for Strategic Studies vermutete 2009 hingegen eine Zahl von bis zu 200 Sprengköpfen.

Die 1973 in Dienst gestellte Jericho-Rakete ist für konventionelle, chemische oder nukleare Sprengköpfe geeignet. Die Jericho 2, entwickelt auf Basis der Shavit, besitzt eine Reichweite von etwa 5000 km bei etwa 1000 kg Nutzlast. Von der Militärbasis Sdot Micha südlich von Tel Aviv aus können sämtliche Länder erreicht werden, mit denen sich Israel jemals im Krieg befunden hat. Raketen des Typs Jericho 3 mit 5000 bis 7500 km Reichweite könnten nach Auffassung des russischen PIR-Centers seit 2010 einsatzbereit sein.

Die Ausstattung von U-Booten der Dolphin-Klasse mit nuklear bestückbaren Marschflugkörpern für einen nuklearen Zweitschlag wird seit längerem vermutet. Die U-Boote wurden von HDW für die Israelische Marine gebaut und von Deutschland zum Teil komplett finanziert. Drei Boote wurden von 1999 bis 2000 in Dienst gestellt. Drei weitere Boote folgen ab 2012. Hauptstützpunkt ist die Marinebasis Haifa. Israel beabsichtigt nach seiner Aussage nicht, U-Boote in der Marinebasis Eilat am Roten Meer zu stationieren. Der israelische Marschflugkörper Popeye Turbo erlaubt einen Abschuss von den U-Booten der Dolphin-Klasse aus; erste Tests fanden im Mai 2000 statt. Der deutsche Ex-Verteidigungsstaatsekretär Lothar Rühl und der ehemalige Leiter des Planungsstabes der Hardthöhe, Hans Rühle, erklärten 2012, sie seien schon immer davon ausgegangen, dass Israel auf den U-Booten Nuklearwaffen stationieren werde. Rühl habe auch mit Militärs in Tel Aviv darüber gesprochen. Die Bundesregierung erklärte hingegen, sie beteilige sich nicht mit Spekulationen über die Bewaffnung der U-Boote. Quelle: Wikipedia

Israel hat den Atomwaffensperrvertrag nie unterzeichnet und verfügt nach allgemeiner Einschätzung seit den sechziger Jahren über Atomwaffen, die im Negev Nuclear Research Center entwickelt worden sind. In den siebziger Jahren gab es eine geheime gemeinsame Atomwaffenforschung mit Südafrika. Die offizielle Politik der Regierung ist, diese Frage nicht zu kommentieren, also den Besitz weder zuzugeben noch ihn abzustreiten (die so genannte Politik der „atomaren Zweideutigkeit“). Ein Interview im Dezember 2006, in dem Premierminister Ehud Olmert in einer Aufzählung von Atommächten neben Frankreich, den USA und Russland auch Israel nannte, wurde von der internationalen Presse als indirektes Eingeständnis für einen israelischen Atomwaffenbesitz und gleichzeitig als Drohung und Replik in Richtung Iran gewertet.

Die israelischen Streitkräfte gelten als stärkste Streitmacht der Region. Die Personalstärke und die Anzahl der Waffensysteme unterliegen der Geheimhaltung. Schätzungen gehen von einem Personalstand von rund 176.500 Männern und Frauen (davon Heer: 133.000, Luftwaffe: 34.000, Marine: 9500) aus, die im Verteidigungsfall auf über 600.000 verstärkt werden können.

In Israel gilt eine Wehrpflicht von 36 Monaten für Männer und 24 Monaten für Frauen. Nur Frauen ist es gestattet, der Wehrpflicht aus Gewissensgründen nicht nachzukommen; sie leisten dann einen zivilen Ersatzdienst von ein bis zwei Jahren. Bei einer Wehrdienstverweigerung kann eine Haftstrafe verhängt werden. Die Streitkräfte führen auch in Kooperation mit den USA und anderen NATO-Ländern regelmäßig Übungen durch und schicken ihren Führungsnachwuchs häufig zur Ausbildung in diese Staaten.

Das Rückgrat des Heeres ist die Panzertruppe mit rund 1500 modernen Kampfpanzern des Typs Merkava. Darüber hinaus sind noch etwa 2000 ältere Modelle, v. a. M60 (Magach), überwiegend bei Reserveeinheiten, im Einsatz. Die Luftstreitkräfte verfügen über ca. 500 Kampfflugzeuge und 200 Hubschrauber; diese entstammen zwar fast ausschließlich US-amerikanischer Produktion, wurden jedoch oft bereits beim Bau oder nachträglich für die spezifischen Erfordernisse der israelischen Streitkräfte modifiziert. Die Israelische Marine verfügt u. a. über rund 40 Patrouillenboote, zehn Raketenboote, drei Korvetten und drei moderne U-Boote der Dolphin-Klasse. Neben der amerikanischen ist oft auch die deutsche Rüstungsindustrie an der Entwicklung und Lieferung von Waffen für Israel beteiligt – etwa bei den Dolphin-U-Booten oder bei Komponenten für die Merkava-Panzer.

Zur Luftverteidigung verfügt Israel seit 1991 über das Patriot-Flugabwehrsystem (Version PAC 2) und bereits seit den 1960er Jahren über das Hawk-Flugabwehrsystem. Israel verfügt seit 2000 über das Arrow-Raketenabwehrsystem (Version Arrow 2) gegen Mittel- und Interkontinentalraketen, hatte jedoch lange Zeit gegen den Beschuss mit Qassam-Raketen, die die Hamas vom Gazastreifen aus einsetzt, sowie die Katjuscha-Raketen der Hizbollah aus dem Südlibanon aufgrund ihrer kurzen Reichweite mit dementsprechender Flugzeit kein Abwehrmittel. Gegen die Bedrohung durch Raketen mit einer Reichweite von bis zu 70 Kilometern wurde das Abwehrsystem Iron Dome entwickelt, die ersten Batterien wurden im März 2011 nahe Be’er Scheva in Betrieb genommen und konnten kurz danach bereits Raketen der Hamas abfangen. Gegen Raketen mit einer Reichweite zwischen 70 und 250 Kilometern ist ferner das Abwehrsystem David’s Sling geplant. Zur Erhöhung des Schutzes gegen ballistische Raketen ist seit kurzem die verbesserte PAC 3 Version des Patriot-Flugabwehrsystem im Einsatz und eine verbesserte Version von Arrow (Arrow 3) in der Entwicklung.  Quelle: Wikipedia

Siehe auch: 81 Prozent der Israelis erwarten die Wiederwahl Netanjahus

Update: Veto der USA im UN-Sicherheitsrat gegen Verurteilung der israelischen Siedlungspolitik – die 14 anderen Staaten reagieren mit Einzel-Erklärungen

Update: Mursi über Israel: „Blutsauger, Nachfahren von Affen und Schweinen“

Update: US discloses Israel’s top-secret military base outraging Tel-Aviv

Update:  Israel’s chemical arsenal under new scrutiny

Update: Israelischer Professor: „Wir könnten alle europäischen Hauptstädte zerstören

Update: The truth about Israel’s secret nuclear armor

Update: Netanjahu will Iran-Atomwaffenabkommen nachträglich verhindern

Tantra: Das Geheimnis der Vereinigung von Shiva und Shakti

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Tantraschulen, Tantrakurse, die Kunst des Tantra – darunter versteht man im Westen vor allem eines: Die Kunst der (körperlichen) Liebe zwischen Mann und Frau. Das ist allerdings die Reduzierung eines großen spirituellen Weges auf nur  eines seiner Details.

„Gewebe, Kontinuum, Zusammenhang“ – so wird das Sanskrit-Wort Tantra übersetzt. Es ist der Ausdruck einer Strömung innerhalb des Hinduismus, die auch ihren Weg in den Buddhismus fand. Frei übersetzt  könnte man sie in das bekannte Bild „wie oben, so unten“ zusammenfassen.  Die tantrische Philsosophie geht davon aus, dass der Mensch sowohl Teil des göttlichen Ganzen ist, als auch alle Teile dessen in sich enthält. Dies muss dem Einzelnen jedoch erst wieder bewusst werden.

Wie kann man sich vorstellen, eins mit dem Absoluten zu sein und gleichzeitig all dessen Teile zu enthalten?

Das Studium der in der Natur vorkommenden Fraktale hat uns in jüngster Zeit auf wundervolle Weise deutlich gemacht, wie das in der Praxis aussieht. Mittels abgeleiteter mathematischer Formeln lassen sich Wiederholungen immer gleicher Formen per Computer deutlich machen, und das Ergebnis ist reine Faszination: Die im Großen enthaltenen Schemata und Farben wiederholen sich im Kleinen (nach unten) immer wieder neu in der gleichen Ausprägung und Darstellung.

Ausgehend von der hinduistischen Denkweise enthält das gesamte Universum zwei wesentliche Strömungen: das männliche Prinzip, symbolisiert durch Shiva und das  weibliche, symbolisiert durch Shakti. Diese beiden durchdringen sich gegenseitig und brauchen ein Gleichgewicht. Deshalb wird Tantra oft durch das Symbol der sexuellen Vereinigung dargestellt.

Dem entsprechend  haben die Götter im hinduistischen Pantheon jeweils einen weiblichen Gegenpart, eine Shakti: Zu Brahma, dem Schöpfer, gehört beispielsweise Sarasvati, die Göttin der Künste und der Wissenschaft. Zu Vishnu, dem Erhalter, gehört Lakshmi, Göttin des Glücks, der Schönheit und des Reichtums. Shiva, der Erlöser und Zerstörer, wird begleitet von Parvati, der lebensspendenden Mutter.

Wie die männlichen Götter haben auch die Göttinnen sowohl eine Leben spendende, als auch eine dunkle, zerstörerische Seite, die immer dann erscheint, wenn es gilt, die Erde zu verteidigen und Dämonen zu besiegen. Dies sind jedoch nur scheinbar Gegensätze: In Wahrheit sind es Teile des selben Mosaiks.

Das Erkennen dieser Nicht-Dualität ist das wesentliche Ziel des Tantrismus. Um es zu erreichen, geht der Mensch einen langen spirituellen Weg, während dessen er sich jedoch nicht zurückzieht in die Einsamkeit einer Zelle, sondern lernt, alles Materielle als Ausdruck feinstofflicherer Energien zu begreifen und entsprechend zu meistern.

So erreicht er schließlich einen Zustand, in dem er frei von Täuschungen die höchste Wahrheit erkennen kann.

Um dort hin zu kommen,  bedient man sich diverser Mittel. Die Arbeit mit Mantras und Mudras stimmt Körper und Seele auf das Ziel ein. Symbole wie Yantras und Mandalas verdeutlichen das Prinzip „wie oben so unten“, also die Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos.  Das System der Chakren (Energiezentren) und Nadis (Energiekanäle) im Körper sowie deren Fortsetzung in den feinstofflichen Raum mittels meditativer Praxis wird ergänzt durch Visualisierung von Gottheiten, bzw. göttlicher Prinzipien und innerlicher Vereinigung mit diesen.

Hier treffen wir auch wieder die rituelle sexuellen Vereinigung, mittels derer die Dualität zwischen Mann und Frau überwurden werden kann.

Innerhalb des menschlichen Körpers ist die weibliche und mütterliche Energie als Kundalini im Unterleib gesammelt. Sie wird dargestellt als Bild einer zusammen gerollten Schlange. Wenn Kundalini erweckt wird, steigt sie entlang der Wirbelsäule über die Chakren auf, bis sie sich schließlich im obersten Chakra, dem Sahasrara, mit Shiva, dem männlichen Prinzip vereinigt. Dann wird aus aller Dualität eine vollkommene Einheit: beginnend von den Körperfunktionen bis hin zum seelischen Befinden.

Diese Erfahrung geht einher mit einem großen Glücksempfinden und höchster Einsicht in spirituelle Zusammenhänge. Deshalb streben viele Menschen an, die Kundalini in sich zu erwecken – ein nicht ungefährliches Ziel: Ohne vorherige Einsicht in notwendige Läuterung kann der durch Kundalini freigesetzte Energiestrom stärkste körperliche und seelische Nebenwirkungen hervorrufen.

Im Buddhismus wurde die tantrische Lehre des Hinduismus in großen Teilen übernommen. Ziel ist die Befreiung von allem Leid, das durch Gier, Neid und Hass entstanden ist, zum Wohle aller fühlenden Wesen. Die Idee dahinter ist, dass jeder Mensch das perfekte Ganze bereits enthält, sich dessen aber nicht bewusst ist. Durch Konzentration und Beherrschung körperlicher und geistiger Energien gilt es nun, den „Spiegel zu reinigen“ – also los zu lassen, was die Sicht auf die Erkenntnis verstellt. Ziel ist es, im ganz alltäglichen Leben immer mehr Freuden zu erfahren, ohne diesen jedoch wie in einem Hamsterrad ständig nachzulaufen.

Neben täglicher konsequenter Übung verlangt dies auch große Ehrlichkeit des tantrischen Schülers sich selbst gegenüber. Es gilt, grundsätzlich zwei Dinge zu unterscheiden:

Verlange ich sehr nach einem bestimmten Genuss, beherrsche ihn aber, indem ich ihn mir nur unter bestimmten Bedingungen gestatte? Dann muss ich noch viel lernen.

Oder brauche ich einen bestimmten Genuss eigentlich nicht mehr, kann ihn aber, wenn er mir zufällt, aus vollem Herzen genießen und dann wieder verabschieden? In diesem Fall bin ich auf dem richtigen Weg.

Quellen, bzw. weiterführende Informationen:

http://de.wikipedia.org/wiki/Tantra

http://de.wikipedia.org/wiki/Shakti

http://de.wikipedia.org/wiki/Shiva

Helmut Poller   http://www.tantra-tradition.de

Pleiten, Pech und Pannen bei Abwasserbeiträgen: Ärger im Kirner Land

Kirn-Land. Eine regelrechte Völkerwanderung war heute abend in Richtung Gesellschaftshaus Kirn unterwegs, wo die Verbandsgemeindeverwaltung die neue Beitrags- und Gebührenordnung in Sachen Ab- und Schmutzwasser erläuterte. Nicht nur der große Saal, sondern auch die Empore war voll besetzt, als Bürgermeister Thomas Jung sich für Pleiten, Pech und Pannen bei der neuen Ordnung entschuldigte und erklärte, was sich die Verbandsgemeindewerke dabei gedacht haben.

Aber von vorn: In der Fusionsvereinbarung zwischen der Stadt Kirn und der damaligen Verbandsgemeinde Kirn-Land vom 30. Januar 2019 ist folgendes festgelegt: Die Aufgaben der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung der bisher verbandsfreien Stadt Kirn und der Verbandsgemeinde gehen vollständig auf die neu zu gründende Verbandsgemeinde Kirner-Land über. Dazu gehören auch die entsprechenden finanziellen Verpflichtungen und der Betrieb des Jahnbades. Die neue Verbandsgemeinde führt zum 1.1. 2020 für den Bereich Abwasserentsorgung ein neues, einheitliches Beitrags-, Entgelt- und Gebührensystem ein. Zum 1.1.2023 soll das gleiche für die Wasserversorgung passieren.

Mit satter Verspätung verschickte die Verbandsgemeindeverwaltung Kirner Land am 28. November 2023 Grundlagenbescheide zur Festsetzung wiederkehrender Beiträge für die Niederschlagsabwasser- und Schmutzwasserbeseitigung. Die versetzten die Einwohner der Landgemeinden und der Stadt gleichermaßen in Wut. Rückwirkend zum 1.1. 2022 wurden da beitragsfähige Flächen für Schmutzwasser berechnet, die wegen der Hinzuziehung von Vollgeschossflächen als zulässige Bebauung auf einmal deutlich größer waren als die Grundstücksflächen selbst. Vollgeschosszuschläge für Schmutzwasser wurden sogar auf unbebaute Grundstücke berechnet. Dazu kam die Festsetzung eines wiederkehrenden Beitrags für die Entsorgung von Niederschlagsabwasser, der erneut für einen Sturm der Empörung sorgte: Weder waren darin Maßnahmen zur Sammlung und Weiterverwendung des Niederschlagwassers auf den jeweiligen Grundstücken einbezogen, noch akzeptierte die Mehrheit der Einwohner überhaupt eine Notwendigkeit, hier wiederkehrende Beiträge zu zahlen; schließlich versickere das Wasser doch im Boden.

Am 12. April 2024 wurden nun konkrete Beitragsbescheide über 70 Prozent der voraussichtlichen Gesamtsumme rückwirkend bis 1.1.2022 verschickt, deren Höhe den Hausbesitzern die Zornesröte ins Gesicht trieben, weil sie teilweise um bis zu 50 Prozent höher als im Vorjahr waren. Für 2023 waren keine Vorausleistungen erhoben worden, so dass Besitzer von Einfamilienhäusern am 1. Mai 2024, wenn die einmaligen Beiträge für 2023 eingezogen werden, teilweise mehrere hundert Euro los sind. Die wesentlich geringeren Beiträge für 2022 werden „zur Entlastung“ der Bürger erst am 1. August eingezogen.

Bürgermeister Thomas Jung, Werkleiter Jochen Stumm und die Mitarbeiter Drusenheimer und Feistel der neuen Verbandsgemeindewerke standen nun bereit, um nach einem Informationsteil Fragen Betroffener zu beantworten. Solche Informationsveranstaltungen wurden in allen Orten der Verbandsgemeinde abgehalten. Sie begannen überall gleich: Mit einer Entschuldigung der Verantwortlichen für das Chaos, das sie angerichtet haben. Um überhaupt aussagekräftige Daten zu den 7500 Grundstücken in der Verbandsgemeinde zu erhalten, so der Bürgermeister, habe man diese von Drohnen überfliegen lassen und einen externen Dienstleister gebeten, die Foto-Ergebnisse zusammen mit den Ergebnissen der 2023 verschickten Erhebungsbögen auszuwerten. Der Rückfluss der Erhebungsbögen sei mit 35 Prozent sehr gering gewesen; von diesen wiederum war rund die Hälfte nicht vollständig ausgefüllt.

Der externe Dienstleister habe Fehler über Fehler gemacht, so dass man mittlerweile mit Schadensersatzansprüchen gegen ihn vorgehe. Trotzdem hatten die Verbandsgemeindewerke, wie Werkleiter Jochen Stumm bestätigte, die letzte Datensammlung mit angeblich korrigierten Fehlern nicht mehr überprüft und deshalb vielfach auf fehlerhaften Daten basierende Abrechnungen verschickt. Daneben hatten die Verbandsgemeindewerke ein Ingenieursbüro beauftragt, sämtliche Entsorgungsleitungen mit Kameras zu untersuchen, um herauszufinden, ob die Kanaldurchmesser zu eng oder zu breit seien, wo es Beschädigungen gebe, und welche Kanäle für die Mischentsorgung von Oberflächen- und Schmutzwasser oder nur für Schmutzwasser genutzt werden. Sind die Durchmesser zu breit, müssen die Kanäle häufiger gespült werden, weil sich Reste in ihnen festsetzen.

Eines sei schonmal sicher, so der Bürgermeister: Die Sache mit den hinzu gerechneten Vollgeschossen müsse nochmal genau überdacht werden. Außerdem decken die jetzt verlangten Beiträge bereits die Gesamtkosten der Aufwendungen ab, mit weiteren Forderungen sei also nicht zu rechnen. Warum die Gesamtsumme so viel höher war als in Vorjahren ergab sich unter anderem aus der völlig anderen Berechnung der Grundstücksflächen. Die Größe für die wiederkehrenden Beiträge Schmutzwasser war von 6.888.000 auf nun 8.359.930 Quadratmeter gestiegen, die für das Niederschlagswasser von 2.876.000 auf 3.999.389 Quadratmeter. Dazu kommt, so der Werksleiter, „dass die allgemeinen Kostensteigerungen der letzten Jahre auch an uns nicht spurlos vorübergegangen sind.“ Dazu kommentierte Unternehmer Buss: „Wenn ich meinen Kunden 50 bis 60 Prozent an Preiserhöhungen für meine Waren innerhalb eines Jahres mit Kostensteigerungen erklären wollte, könnte ich gleich zumachen.“

Einmal öffentlich zu machen, wie diese Kosten sich zusammensetzen wünschten sich anschließend gleich mehrere Redner bei den Fragen an die Verwaltung. Auch dem Haushaltsplan der Verbandsgemeindewerke sind dazu keine Details entnehmbar. Im Erfolgsplan 2024 stehen im Bereich der Abwasserbeseitigung Einnahmen von 4.078 Millionen, Aufwendungen von 4.015 Millionen Euro, im Vermögensplan Einnahmen und Ausgaben von 8.591 Millionen Euro Schulden von insgesamt 7,75 Millionen Euro gegenüber. Verpflichtungsermächtigungen für Abwasserentsorgung, Wassergewinnung und Wasserversorgung für 2022 und folgende Jahre sind mit 8.467 Millionen Euro veranschlagt. Weder ist aufgeschlüsselt, woraus sich die jährlichen Aufwendungen zusammensetzen, noch weshalb eine so hohe Schuldenlast besteht. Darauf wurde auch in der heutigen Versammlung nicht eingegangen.

Die hohe Belastung größerer Grundstücke sei so nicht gewollt gewesen und werde auf jeden Fall noch verändert, sagte Bürgermeister Jung, der nach eigenen Angaben selbst ein Grundstück von 1800 Quadratmetern in Kirn besitzt. Auch das rief Ärger hervor: Sollen die kleinen Grundstücke dann zugunsten der großen mit höheren Beiträgen herangezogen werden? Besonders ärgerlich finden viele, dass überhaupt wiederkehrende Beiträge angesetzt werden, deren Höhe man durch Änderung des Verbrauchsverhaltens nicht steuern kann. Carl Christian Rheinländer als Mitglied der BI Limbachtal wies darauf hin, dass es ausschließlich in Rheinland-Pfalz überhaupt wiederkehrende Beiträge gebe; der Rest Deutschlands komme ohne aus. Das allein sei Beweis genug, dass es auch ohne gehe. Überhaupt vermisse er Nachhaltigkeit in der Wasserversorgungs-Planung. Der Hauptteil des wertvollen Nasses für die ganze Verbandsgemeinde komme aus Limbach- und Großbachtal, und die dortigen Quellen seien an ihrer Belastungsgrenze angekommen.

Während Werkleiter Stumm wiederkehrende Beiträge als einzige Möglichkeit bezeichnete, auch die Besitzer unbebauter Grundstücke zur Kasse bitten zu können, sagte Rheinländer, dieses Argument sei Quatsch. Es handele sich um reine Behördenwillkür und eine weitere Grundsteuer, zu der man die Bürger zur Kasse bitte. Auch die Kommunalberatung, mit der die Verbandsgemeinde zusammengearbeitet hatte, sei keine Behörde, sondern eine gewinnorientiert arbeitende Tochter des Städte- und Gemeindebundes, die hier gezielt gegen die Interessen der Bürger arbeite. Er plädierte dafür, dass man, wenn jetzt sowieso alle neu geregelt werde, man es auch „gleich richtig machen“ und zum Beispiel einen progressiven Tarif einführen könnte. Aus der Gemeinnützigen Baugenossenschaft war zu hören, dass die auf die Mieter umzulegenden Kosten im Jahr 2022 um 50 und im Jahr 2023 nochmal um 25 Prozent gestiegen sind. Das müsse erstmal vermittelt werden.

Sehr viel Kritik sei bei den Informationsveranstaltungen an die Verbandsgemeinde heran getragen worden, so Bürgermeister Jung. Nun wolle man es besser machen. Nicht nur überprüfen die Mitarbeiter der Verbandsgemeindewerke jetzt alle Datensätze des externen Dienstleisters zu den 7 500 Grundstücken noch einmal auf Richtigkeit. Auch sitze ein Ausschuss wöchentlich beisammen, um erneut zu beraten, ob man die richtige Wahl der Abrechnung getroffen habe. Man habe sich bereits mit einem Bürgermeister ausgetauscht, dessen gesamte Einnahmen nur über Gebühren und ohne wiederkehrende Beiträge kostendeckend seien. Auch dieser Gedanke stehe zur Diskussion – wobei Werkleiter Stumm darauf hinwies, dass die Bebauung der Verbandsgemeinde Kirner Land im Vergleich jedoch „viel weniger homogen“ sei. Es sei schwierig und teuer, sehr kleine Gemeinden mit wenigen Haushalten an das Netz anzuschließen.

Fazit: Die Verbandsgemeinde bucht zum 1. Mai erstmal ab. Was danach geschieht? Nichts genaues weiß man nicht. Offenbar bestehen starke Kräfte auf dem System der wiederkehrenden Beiträge. Aber auch der andauernde Protest der Einwohner hat die Verwaltung offensichtlich beeindruckt. Man kann also nur hoffen, dass dem Ausschuss noch etwas kluges einfällt, und dass es der Verwaltung gelingt, den externen Dienstleister in Regress zu nehmen, damit die Beitragszahler für dessen Murks nicht auch noch aufkommen müssen. Und die Einwohner? Sie standen nach der Veranstaltung noch Schlange, um weitere Fragen zu besprechen, nicht eingetroffene Erfassungsbögen zu melden und genaues Nachmessen ihrer Grundstücke zu fordern (siehe Bild oben). Zufrieden ist trotz Informationsveranstaltung auch jetzt keiner.

Manifest für einen neuen Rundfunk mit Teilhabe der Beitragszahler

„Nutzen Sie noch die öffentlich-rechtlichen Medien? 

Falls ja: Löst das bei Ihnen wachsende Unzufriedenheit aus? 

Dann sind Sie damit nicht allein!

Auch wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio, vermissen Meinungsvielfalt in der Berichterstattung. Auch wir zweifeln angesichts publik gewordener Skandale an den bestehenden Strukturen der öffentlich-rechtlichen Medien. Doch wir schätzen das Prinzip eines beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks als wichtige Säule von Demokratie und Kultur. Wir sind von seinen Grundsätzen und dem Programmauftrag überzeugt. Beides sehen wir allerdings in Gefahr.“

So werben Medienmacher und Unterstützer der öffentlich-rechtlichen Programme für ein Manifest, das an Deutlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. Um damit Erfolg zu haben, ist es mit einer Petition verbunden, die 50 000 Stimmen erreichen muss. Unterzeichner sind also jederzeit willkommen. Es geht um nichts weniger als die Erneuerung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Um die Einbeziehung derer, die diesen Rundfunk mit ihren Gebühren finanzieren. Und um das Entfernen des stetig zunehmenden Einflusses der Politik. In Zeiten, in denen man kaum noch unterscheiden kann, was fake news und was echte Nachrichten sind, wird diese Erneuerung jeden Tag wichtiger. Es muss Nachrichtenquellen geben, bei denen man sich in alle Richtungen informieren kann, die nicht von Werbetreibenden, und auch nicht von Politikern manipuliert werden.

Ein kleines Beispiel, warum das so wichtig ist: Israel will den arabischen Sender Al Jazeera abschalten, weil es sich um ein „Hetzblatt gegen Israel und zugunsten der Hamas“ handele. Die Bundesregierung zeigt sich „äußerst besorgt“ über die Beschneidung der Meinungsfreiheit. Aber: In Deutschland wurden russische Sender wie Russia today abgeschaltet, weil sie nach Ansicht der Bundesregierung fake news verbreiten und versuchen, die Bundesbürger im Sinne Russlands zu manipulieren. In der Ukraine wurde unter Präsident Selensky und Kriegsbedingungen 2023 ein neues Mediengesetz verabschiedet, das der ukrainischen Regierung volle Kontrolle über sämtliche Medien des Landes bis hin zu Bloggern gibt – alle können nach Bedarf zensiert werden. Bei den US-Medien sorgte das für größte Besorgnis und Aufrufe an Selensky, dies nicht zu tun – in Deutschland wurde gar nicht erst über das Gesetz berichtet.

Besonders auffällig wurde der Einfluss der Bundespolitik auf die Medien während Corona. Auch die öffentlich-rechtlichen Sender plusterten sich in Empörung der „Gerechten“ gegen jede Stimme auf, die sich gegen die restriktiven Maßnahmen der Regierung zu stellen wagte – das ging bis hin zur Heute-Show, die sich eigentlich der Satire verschrieben hat. Wer es wagte, sich öffentlich gegen die Impfflicht zu stellen, wurde von den Medien ausgegrenzt und verurteilt. Über die Sorgen der Menschen bezüglich der Impfungen und möglicher Nebenwirkungen wurde, wenn überhaupt, abwertend berichtet. Impfschäden wurden lange völlig tot geschwiegen. Die öffentlich-rechtlichen Medien sind immer öfter Sprachrohr der Regierungspolitik, bezeichnen sich aber trotzdem als unabhängig.

Die oben genannte Petition richtet sich an ARD/ZDF/DLR Rundfunkräte und Intendanten, die Rundfunkkommission der Länder und den Deutschen Bundestag.

Die Rundfunkräte überwachen die Einhaltung des gesetzlichen Sendeauftrags und sollen im Sinne des vom Gesetzgeber erdachten Vielfaltssicherungskonzepts die Offenheit des Zugangs zum Programm der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten für verschiedene gesellschaftlich relevante Gruppen garantieren. Der Rundfunkrat bestimmt nicht die Programmplanung; diese ist Aufgabe des Intendanten, sondern berät ihn lediglich.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 ein Urteil zur Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesprochen. Das Gericht erließ dabei ein „Gebot der Vielfaltsicherung“ bei der Besetzung der Rundfunkräte. Der „Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder“ wurde ausdrücklich auf höchstens ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums begrenzt, um die Staatsferne sicherzustellen.

Kritik wird beispielsweise daran geübt, dass zwar die Kirchen im Rundfunkrat vertreten sind, jedoch meistens keine Vertreter von anderen relevanten Religionsgemeinschaften, Atheisten und Agnostikern. Auch kann einem sich ändernden Bevölkerungsquerschnitt nur durch einen neuen Staatsvertrag Rechnung getragen werden. Ein weiterer Kritikpunkt des Gerichtes ist, dass die Beitragszahler bei der Zusammensetzung des Rates keinerlei Mitsprache- oder Wahlrecht haben.

In einer Studie des Netzwerkes Neue Deutsche Medienmacher*innen untersuchte Fabian Goldmann alle 542 Mitglieder der Rundfunkräte (ARD-Anstalten, Deutschlandradio, Deutsche Welle und ZDF). Er kommt zu dem Ergebnis, dass weder die Räte ihrem Anspruch, die Vielfalt der Gesellschaft zu repräsentieren, gerecht werden, noch dass benachteiligte Gruppen ausreichend anzutreffen sind. Goldmann kommt zum Fazit, dass eine gerechtere Repräsentation am fehlenden politischen Willen scheitere. Zur Verbesserung schlägt er unter anderem rotierende Sitze, Losverfahren und regelmäßige Neubewerbungen für einige Plätze vor.

Beispiel ARD: Die Verwaltungsräte der ARD-Landesrundfunkanstalten werden ausschließlich oder überwiegend vom Rundfunkrat gewählt. Die Aufgaben bestehen vor allem darin, den Wirtschaftsplan und den Jahresabschluss zu prüfen, den Dienstvertrag mit der Intendantin oder dem Intendanten abzuschließen und dessen bzw. deren Geschäftsführung zu überwachen. Gesetzliche Basis sind der ARD-Staatsvertrag (insb. §7 Abs. 2) und die ARD-Satzung (insb. §5a Abs. 1 und 2). Da Rundfunk Ländersache ist, orientieren sich die Gremien bei ihrer Arbeit jeweils an den für ihre Landesrundfunkanstalt geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Nun sollte man also meinen, durch die verschiedenen Kontrollgremien seien einem Missbrauch von Rundfunkgebühren genügend Sicherheitsriegel vorgeschoben. Aber dem ist nicht so.

2022 wurde öffentlich, welche komfortable Versorgung sich die Intendantin des rbb, Patricia Schlesinger, für die juristische Direktorin des Senders, Susann Lange, im Jahr 2020 unterschrieben hatte: Ihr Anstellungsvertrag sicherte dieser eine Grundvergütung von 195.000 Euro brutto jährlich, sowie eine „variable Vergütung“ von bis zu 8,33 Prozent, außerdem eine monatliche Aufwandsentschädigung von 250 Euro plus eine Kfz-Pauschale von 500 Euro. Dazu kam eine üppige, lebenslange Ruhestandsregelung: Sie errechnet sich aus einer vereinbarten Vergütung von 212.719 Euro (Grundvergütung plus variabler Anteil) jährlich. Der Vertrag der Juristischen Direktorin ist auf fünf Jahre befristet und endet Ende 2025.

Die Familie der Direktorin war im Vertrag gleich mit versorgt: Im Todesfall sichert dieser ein jährliches Witwengeld von 60 Prozent des Ruhegeldes zu, das an ihrem Todestag fällig werden würde. Waisen erhielten 20 Prozent davon und Halbwaisen 12 Prozent des Ruhegeldes. Darüber hinaus wurden auch andere Hinterbliebene mit einem sogenannten „Sterbegeld“ versorgt. Dazu zählen laut Vertrag nicht nur der Ehepartner oder die Ehepartnerin, sondern auch leibliche und angenommene Kinder, Verwandte der aufsteigenden Linie, Geschwister und Geschwisterkinder sowie Stiefkinder, die zum Zeitpunkt des Todes zur häuslichen Gemeinschaft der rbb-Juristin gehört haben…

Die Direktorin wurde vom Rundfunkrat auf Vorschlag der Intendantin gewählt. Ein Arbeitsvertrag wurde dem Rat nicht vorgelegt. Das Gehalt der Direktorin, die offenbar nicht die einzige beim rbb mit einem solchen Vertrag gewesen sein soll, war deutlich höher als beispielsweise das des Ministerpräsidenten. Nadia Pröpper-Schwirtzek, zertifizierte Compliance-Anwältin mit Spezialisierung auf Arbeitsrecht, hält die Vergütungs- und Versorgungsansprüche in den Verträgen für deutlich unangemessen, und deshalb in Teilen sittenwidrig.

Susann Lange wurde, genau wie Patricia Schlesinger, aus dem Amt entfernt. Der Intendantin selbst werden umstrittene Beraterverträge, Schlesingers Gehaltserhöhung auf 303.000 Euro, zusätzliche Boni, einen hochwertigen Dienstwagen (Wert: 145 000 €, mit Massagesitzen) samt zwei Chauffeuren , die Renovierung der Chefetage und Abendessen in ihrer Privatwohnung auf RBB-Kosten mit angeblich falschen Rechnungen vorgeworfen. Sie soll außerdem mehr als ein halbes Dutzend Urlaubsreisen auf Kosten des rbb gemacht haben, bei denen sie teilweise Familienangehörige begleiteten. Patricia Schlesinger klagte umgehend sowohl gegen ihre Entlassung, als auch um ein Ruhegeld von 18 400€ im Monat, das ihr laut Arbeitsvertrag lebenslang zusteht.

„Wie konnte Rundfunkrat und Verwaltungsrat entgehen, dass eine Frau an der Senderspitze die Bodenhaftung verloren hat, offenbar Regeln verletzte und womöglich Gesetze brach? Die Staatsanwaltschaft sieht bei Schlesinger, ihrem Ehemann und Ex-Verwaltungsratschef Wolf-Dieter Wolf mittlerweile einen Anfangsverdacht wegen Untreue und Vorteilsnahme“, schrieb im August 2022 der zur Springer-Presse gehörende Business-Insider, der den ganzen Skandal enthüllt hatte. Da gab es ein Boni-System, das Zusatzeinkommen garantierte, es gab geheime Absprache-Sitzungen vor den offiziellen Verwaltungsratstreffen, Wolf-Dieter Wolf hatte Schlesingers Ehemann Gerhard Spörl Honorare über rund 140 000 € verschafft, so die NZZ. Das komplette Gehalt der Intendantin wurde nie vorgelegt; auch die Wirtschaftsberichte des Senders blieben unter Verschluss. Obwohl hunderte von Seite stark, gab es für die Öffentlichkeit jährlich nur eine knappe Mitteilung über den jeweiligen Jahresverlust. Im Ranking der ARD-Sender belegt der rbb den letzten Platz.

Jörg Wagner vom rbb veröffentlichte im „Medienmagazin“ bei Radio Eins den kritischen Beitrag einer Journalistin über die ganze Affaire, der RBB-Finanzchef Claus Kerkhoff nicht gut aussehen ließ. Den Beitrag ließ der rbb, wie ebenfalls business Insider berichtete, nachträglich löschen, „weil er den Prozess der redaktionellen Abnahme nicht wie vorgeschrieben durchlaufen“ habe.

Vor dem Untersuchungsausschuss des Landes Brandenburg verweigerten alle drei Beteiligten die Aussage. Der rbb soll mittlerweile Forderungen in sechsstelliger Höhe gegen Schlesinger haben. Diese hat jetzt einen in monatlich fünfstelliger Höhe dotierten Beratervertrag. Laut Arbeitsvertrag beim rbb darf sie bis zu 90 Prozent ihres Ruhegehaltes ohne Anrechnung dazu verdienen. Der Sender prüft jetzt, ob das Ruhegeld wenigstens bis zum Beginn des offiziellen Rentenalters Schlesingers zurück gehalten werden kann.

„Wir sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der öffentlich-rechtlichen Medien aus verschiedenen Regionen des Landes. Wir arbeiten in unterschiedlichen Gewerken, Abteilungen und Redaktionen. Wir sind Programmmacher, Techniker, Sachbearbeiter, Kameraleute, Moderatoren, Sprecher sowie Musiker aus den Rundfunkorchestern und -chören. Uns eint der Wunsch nach Erneuerung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,“ heißt es im Vorwort zur anfangs genannten Petition.

„Auch wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio, vermissen Meinungsvielfalt in der Berichterstattung. Auch wir zweifeln angesichts publik gewordener Skandale an den bestehenden Strukturen der öffentlich-rechtlichen Medien. Doch wir schätzen das Prinzip eines beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks als wichtige Säule von Demokratie und Kultur. Wir sind von seinen Grundsätzen und dem Programmauftrag überzeugt. Beides sehen wir allerdings in Gefahr. Wir haben uns zusammengetan und ein Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk entworfen. Damit wollen wir unsere Stimme und Expertise in die Debatte um dessen Zukunft einbringen: einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sein Publikum ernst nimmt, der Debatten zulässt und ein breites Meinungsspektrum abbildet, ohne zu diffamieren.

Wir beobachten schwindendes Vertrauen der Menschen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zweifel an der gebotenen Regierungsferne sind nicht zu überhören. Von vielen wird die immer größer werdende Lücke zwischen Programmauftrag und Umsetzung beklagt. Zugleich ist es immer wichtiger für den demokratisch-gesellschaftlichen Diskurs, vertrauenswürdige öffentlich-rechtliche Medien zu haben.

Wir fordern:

  • Rückkehr zu Programminhalten, die den im Medienstaatsvertrag festgelegten Grundsätzen wie Meinungsvielfalt, Pluralität und Ausgewogenheit entsprechen.
  • Teilhabe der Beitragszahlenden bei medienpolitischen, finanziellen und personellen Entscheidungen, beispielsweise durch einen Bürgerrat.
  • Ein Beteiligungsverfahren, durch das alle relevanten Verbände und Initiativen, die sich für Veränderungen in den öffentlich-rechtlichen Medien einsetzen, eingebunden werden. Eine Möglichkeit ist ein Medienkonvent.“
  • Meinungs- und Informationsvielfalt
  • Ausgewogenheit und Fairness
  • Transparenz und Unabhängigkeit
  • Förderung von Kultur und Bildung
  • Bürgerbeteiligung
  • beitragsfinanziert,

das sind die Punkte, die das Manifest fordert. Der Wortlaut ist absolut lesenswert, deshalb hier in ganzer Länge:

„Seit geraumer Zeit verzeichnen wir eine Eingrenzung des Debattenraums anstelle einer Erweiterung der Perspektive. Wir vermissen den Fokus auf unsere Kernaufgabe: Bürgern multiperspektivische Informationen anzubieten. Stattdessen verschwimmen Meinungsmache und Berichterstattung zusehends auf eine Art und Weise, die den Prinzipien eines seriösen Journalismus widerspricht. Nur sehr selten finden relevante inhaltliche Auseinandersetzungen mit konträren Meinungen statt. Stimmen, die einen – medial behaupteten – gesellschaftlichen Konsens hinterfragen, werden wahlweise ignoriert, lächerlich gemacht oder gar ausgegrenzt. Inflationär bedient man sich zu diesem Zwecke verschiedener „Kampfbegriffe“ wie „Querdenker“, „Schwurbler“, „Klima-Leugner“, „Putin-Versteher“, „Gesinnungspazifist“ und anderen, mit denen versucht wird, Minderheiten mit abweichender Meinung zu diffamieren und mundtot zu machen.

Das sorgfältige Überprüfen zweifelhafter Meldungen ist wichtig. Allerdings suggerieren sogenannte Faktenchecks oft durch ihre Machart, Überschrift und Formulierungen eine vermeintlich absolute Wahrheit, die selten existiert. Der freie gesellschaftliche Diskurs wird dadurch schmerzhaft beschnitten.

Innere und äußere Bedingungen führen dazu, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihren journalistisch-ethischen Standards nicht mehr genügen können. Dazu zählen innerbetriebliche Praktiken wie die schon vor Dreh- bzw. Reportage-Beginn feststehende Kernaussage von Beiträgen, die Zentralisierung der Berichterstattung über sogenannte Newsrooms oder Newsdesks, zu großer Zeitdruck bei der Recherche, eine überwiegend an Einschaltquoten orientierte Programmgestaltung, Sparmaßnahmen der Sender am Programm und nicht zuletzt die Tatsache, dass zwei Drittel des redaktionellen Personals nur Zeitverträge haben oder gar komplett ohne Angestelltenverhältnis als sogenannte Freie arbeiten müssen. Letzteres führt zu Existenzängsten, die wiederum entsprechend „angepassten“ Journalismus begünstigen. Aufgrund der hohen personellen Fluktuation bleibt zudem oft keine Zeit für fachlichen Wissenstransfer.

Innere Pressefreiheit existiert derzeit nicht in den Redaktionen. Die Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Medien sind zwar formal unabhängig, meist gibt es auch Redaktionsausschüsse, die über die journalistische Unabhängigkeit wachen sollten. In der Praxis aber orientieren sich die öffentlich-rechtlichen Medien am Meinungsspektrum der politisch-parlamentarischen Mehrheit. Anderslautende Stimmen aus der Zivilgesellschaft schaffen es nur selten in den Debattenraum.

Dazu erschwert äußere Einflussnahme durch Politik, Wirtschaft und Lobbygruppen einen unabhängigen Qualitätsjournalismus. Interessensverflechtungen von Politik und Wirtschaft werden zu selten in tagesaktuellen Beiträgen aufgezeigt und erörtert. Alltägliche Recherchen bleiben im Kern oft oberflächlich.

Bei der Programmgestaltung dürfen Faktoren wie Einschaltquoten, die derzeit als allgegenwärtiges Argument für die dramatische Ausdünnung und populistische Ausrichtung der Kultur- und Bildungsangebote sorgen, keine Rolle spielen. Der öffentlich- rechtliche Rundfunk muss auch vermeintliche „Nischenbereiche“ abbilden und zu vermitteln versuchen – was seinem Bildungsauftrag entspräche, jedoch immer weniger stattfindet. Zudem darf sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht die strikt und gleichförmig durchformatierten Programme privater Sender zum (schlechten) Vorbild nehmen, wie dies aktuell weitestgehend der Fall ist. Dies gilt auch und vor allem in musikalischer Hinsicht für die ARD-Radioprogramme.

An der Auswahl der Mitglieder der Rundfunk-, Fernseh- und Verwaltungsräte, der höchsten Kontrollgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, sind die Beitragszahler nicht direkt beteiligt. Die Verwaltungsräte kontrollieren die Geschäftsführung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, doch wer kontrolliert die Verwaltungsräte?

Das heißt: es gibt keine Partizipation der Beitragszahler bei medienpolitischen, finanziellen und personellen Entscheidungen.

Auch die Programme werden größtenteils ohne Publikumsbeteiligung erstellt. Die meisten Programmbeschwerden von Beitragszahlern finden kaum Gehör und haben entsprechend wenig Einfluss auf die Berichterstattung und generelle Programmgestaltung. Sowohl das Publikum als auch die Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden in der Regel nicht über die Reaktionen und Beschwerden zum Programm informiert.

Nur ein Teil der Inhalte der öffentlich-rechtlichen Medien ist im Internet abrufbar und meist nur für eine begrenzte Dauer. Diese Praxis widerspricht der Idee eines öffentlich- rechtlichen Rundfunks und dem Gedanken eines universellen Wissenszuwachses im Internet.“

So soll der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk von Morgen für die Ersteller des Manifestes aussehen:

„Das Prinzip der Rundfunkbeitragszahlung wird beibehalten. Es sichert die Unabhängigkeit des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das heißt: öffentlich-rechtliche Anstalten werden von der Bevölkerung finanziert, aber auch kontrolliert.

Finanzflüsse sind transparent und öffentlich einsehbar. Dies gilt insbesondere für die Budgetverteilung zwischen einzelnen Ressorts, Redaktionen und der Verwaltung. Die Bezahlung aller Mitarbeiter, einschließlich Führungsposten bis hin zur Intendanz, ist transparent und einheitlich nach einem für alle geltenden Tarifvertrag geregelt. Die Berichte der Landesrechnungshöfe sind auf den Plattformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks leicht auffindbar.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk verzichtet auf Werbeeinnahmen aller Art, sodass Werbeverträge nicht zu Befangenheit in der Berichterstattung führen können.

Den Beitragszahlern gehört der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk. Ihre mehrheitliche Einbindung in den Kontrollgremien ist daher selbstverständlich. Diese Arbeit wird angemessen honoriert. Sie schließt die Wahrnehmung eines weiteren Amts, welches Interessenkonflikte birgt, aus. Die repräsentative Zusammensetzung der Kontrollgremien könnte beispielsweise nach dem Vorbild der Besetzung von Bürgerräten erfolgen. Direkte Wahl, Rotationsprinzip oder Losverfahren sind Möglichkeiten, um die Gesellschaft repräsentativ abzubilden.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk fungiert als Vierte Säule der Demokratie. Im Auftrag der Bevölkerung übernimmt er wichtige Kontrollaufgaben gegenüber den Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative. Damit er diesen Auftrag erfüllen kann, ist seine Unabhängigkeit von Staat, Wirtschaft und Lobbygruppen garantiert.

Drehtür-Effekte zwischen Politik und dem neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind dank mehrjähriger Sperrfristen ausgeschlossen; professionelle Distanz ist jederzeit gewährleistet. Jegliche Art von Interessenskonflikt wird angegeben, wie es auch in wissenschaftlichen Arbeiten üblich ist. Das Führungspersonal ist verpflichtet, jährlich einen öffentlichen Transparenzbericht vorzulegen. Führungspositionen müssen öffentlich ausgeschrieben sowie nach einem transparenten Auswahlverfahren besetzt werden und sind zeitlich limitiert. Eine Vertragsverlängerung ist nur nach Abstimmung durch die direkt unterstellten Mitarbeiter möglich.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk kontrolliert die Politik und nicht umgekehrt. Die Politik hat keinen Einfluss auf Inhalte. Es wird neutral, multiperspektivisch und zensurfrei im Rahmen des Grundgesetzes berichtet.

Dazu gehört die Verpflichtung, vermeintliche Wahrheiten immer wieder zu überprüfen. Für die Berichterstattung bedeutet dies ergebnisoffene und unvoreingenommene Recherche sowie die Präsentation unterschiedlicher Sichtweisen und möglicher Interpretationen.

Das Publikum hat einen Anspruch darauf, sich mit einem Sachverhalt auseinandersetzen und selbstständig eine Meinung bilden zu können, anstatt eine „eingeordnete“ Sicht präsentiert zu bekommen.

Meldungen von Nachrichtenagenturen werden soweit möglich nicht ungeprüft übernommen. Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt seine Verantwortung wahr, Ereignisse jenseits von Agenturmeldungen zu recherchieren und darüber zu berichten.

Fairness und respektvoller Umgang im Miteinander stehen im Fokus unseres Handelns, sowohl innerhalb der Funkhäuser als auch mit unserem Publikum. Die Journalisten des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks benutzen kein Framing und verwenden keine abwertenden Formulierungen.

Petitionen und Programmbeschwerden seitens der Gebührenzahler werden vom neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ernst genommen. Eine Ombudsstelle entscheidet über deren Einordung, Umsetzung und Veröffentlichung. Inhaltliche Korrekturen der Berichterstattung werden an derselben Stelle kommuniziert wie die fehlerhafte Nachricht im Programm.

Zur Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Vielfalt gehört Lokaljournalismus als wesentliches Fundament des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auch Themen aus dünn besiedelten Regionen, die vermeintlich nur von lokaler Relevanz sind oder Minderheiten betreffen, müssen sich im Programm spiegeln. Die Entscheidung, auch aus Gegenden fernab von Ballungsgebieten oder Metropolen zu berichten, muss von journalistischem Anspruch geleitet sein und darf sich nicht dem Kostendruck beugen.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk kommt seinem Auftrag in gleichem Maße auch in Sachen Bildung und Kultur nach. Bildung und Kultur haben substanziellen Anteil am Programmangebot und werden angemessen budgetiert und personell ausgestattet.

Kultur in ihrer breiten Vielfalt ist ein wichtiger Baustein und Ausdruck der demokratischen Gesellschaft. Diese Vielfalt gilt es umfangreich zu präsentieren und dokumentieren. Das betrifft alle Disziplinen wie Musik, Literatur, Theater, Bildende Künste und andere. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den aktiven Förderaspekt gelegt, beispielsweise durch eigene Produktionen sowie die Unterstützung von regionalen Künstlern.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk setzt mit eigenen Klangkörpern wie Orchestern, Big Bands und Chören Akzente im kulturellen Leben und engagiert sich im Bereich der Radiokunst Hörspiel.

Die Archive des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind frei zugänglich. Sie sind wesentliche Wissens- und Identitätsspeicher unserer Gesellschaft und somit von großer kultureller und historischer Bedeutung mit immenser Strahlkraft. Aus den Archiven, die er kontinuierlich in breitem Umfange erweitern sollte, kann der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk anhaltend schöpfen und sich und die Gesellschaft damit der Relevanz von Kultur und Bildung versichern.

Die Inhalte der Archive und Mediatheken des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind dauerhaft abrufbar. Die bereits gesendeten Beiträge und Produktionen stehen zeitlich unbegrenzt zur Verfügung. So kann jederzeit auf das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft zurückgegriffen werden. Dies ist für die öffentliche Meinungsbildung unverzichtbar.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk verfügt über eine von Rundfunkbeiträgen finanzierte, nicht kommerzielle Internetplattform für Kommunikation und Austausch. Diese verwendet offene Algorithmen und handelt nicht mit Nutzerdaten. Er setzt in diesem Raum ein Gegengewicht zu den kommerziellen Anbietern, weil ein zensurfreier, gewaltfreier Austausch zu den Kernaufgaben des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehört.

Qualitätsjournalismus braucht eine solide Basis. Im neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten überwiegend fest angestellte Journalisten, damit sie weitestgehend frei von ökonomischen und strukturellen Zwängen sind. Dadurch sind sie unabhängig und ausschließlich dem Pressekodex verpflichtet. Für Recherche steht ausreichend Zeit zur Verfügung. Die individuelle Verantwortung des Redakteurs bzw. Reporters muss gewährleistet sein und nicht zentralistisch von einem Newsroom oder Newsdesk übernommen werden.

Journalistische Autonomie ist ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung journalistischer Qualität und Meinungsvielfalt. Deshalb wird die Weisungs-Ungebundenheit redaktioneller Tätigkeit im Hinblick auf Themenauswahl, Themengestaltung und Mitteleinsatz nicht nur in Redaktionsstatuten, sondern auch in den Landespressegesetzen und Rundfunk-Staatsverträgen festgeschrieben.

Outsourcing ist kontraproduktiv. Es verhindert öffentliche Kontrolle und fördert Lohndumping. Die Produktion von Programminhalten, die Bereitstellung von Produktionstechnik und -personal sowie die Bearbeitung von Publikumsrückmeldungen erfolgen deshalb durch die Sender.

Der neue (wie auch der jetzige!) öffentlich-rechtliche Rundfunk steht nicht in Konkurrenz zu den privaten Medien. Daher wird die vorrangige Bewertung nach Einschaltquoten bzw. Zugriffszahlen abgeschafft.

Die Stabilität unserer Demokratie erfordert einen transparent geführten neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk als offenen Debattenraum. Zu dessen Eckpfeilern gehört die Unabhängigkeit der Berichterstattung, die Abbildung von Meinungsvielfalt sowie die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern.“

Alle Fotos sind Screenshots von den Websites der Medienanstalten

Ein Leben lang traurig: Ein Mann isst sich über Jahre zu Tode

Schwül und warm bei oft bedecktem Himmel war der Sommer 1961. So war auch der Sonntag, 21. August, als die junge Mutter zuhause in den Wehen lag. Ewig zogen sich die Stunden dahin, immer wieder unterbrochen von schweren Blutungen. Die Hebamme war so besorgt, dass sie einen Boten zur Post schickte, dem Bauernhaus, in dem das einzige Telefon des Dorfes war, um den Hausarzt zu rufen. Zusammen arbeiteten sie daran, die junge Frau bei Bewusstsein zu halten, bis es endlich soweit war: Ein kleiner Junge mit merkwürdig bräunlicher Haut erblickte das Licht der Welt und war so erschöpft, dass er nicht schreien wollte. Regelrecht handgreiflich werden musste der beleibte, burschikose Hausarzt, bis sich das Kind entschloss, endlich zu atmen und ein leises, stotterndes Geräusch von sich gab. „Mein Gott, was für ein meckerndes Etwas“, kommentierte der Vater, bevor er das obligatorische Foto machte: Seine völlig erschöpfte Ehefrau mit dunklen Ringen unter den Augen, den Neugeborenen im Arm, daneben der ausgestopfte Reiher. Als Ersatz für den Klapperstorch, sozusagen.

Gerd war das dritte Kind seiner Mutter. Weil das zweite vor der Geburt gestorben war, nahm er nun dessen Platz ein. Er hatte eine massive Gelbsucht und Rachitis, als er zur Welt kam – und damit hatte er noch Glück gehabt: Erst im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte seine Frau das Einschlafmittel Contergan genommen. Später wurde bekannt, wie sehr dieses Medikament Kinder im Mutterleib geschädigt hatte: Vielen Neugeborenen fehlten Gliedmaßen, etliche kamen gehörlos oder mit anderen Organschädigungen zur Welt. Krankheit sollte dennoch auch zu Gerds zweitem Vornamen werden.

Ursprünglich wollte der Vater genug Kinder für eine Fußballmannschaft zeugen. Aber es sollte sich zeigen, dass seine neun Jahre jüngere Frau das anders sah. Drei Jahre nach Gerd kam Volker zur Welt. Er war ein Junge, wie ihn sich der Vater erträumt hatte: laut, wild, leidenschaftlich. Schön anzusehen war der dralle Junge mit seinen dunklen Augen, seinen schwarzen Haaren und den roten Bäckchen. Beide Eltern waren begeistert von ihm. Gerd hatte es dagegen schwer: Der weißblonde Junge mit seinen grünen Augen war zart, ängstlich und von schwacher Gesundheit. Der strenge, laute Vater, der ihn so oft verächtlich ansah, verursachte panische Angst in ihm. Als er endlich sprechen konnte, stotterte Gerd so sehr, dass kaum jemand verstand, was er sagen wollte.

„Was für ein Schlappschwanz“ sagte dann der Vater zu seiner Frau, und sah sie an, als sei sie lebenslang schuldig für dieses Kind. Das Urteil hatte Wirkung: Das Gefühl lebenslanger Schuld verließ die Mutter nie mehr. Nach langjähriger Therapie mit Calcium und einem Solarium kurierte sich die Rachitis aus, und Gerds Knochen entwickelten sich normal. Bis dahin fiel das Kind immer wieder über seine eigenen Füße und stieß sich dabei übel den Kopf. Eltern und Geschwister folgten dem Rat des Hausarztes und halfen Gerd, gegen den „Stotterwolf“ anzukämpfen. Mit den Jahren wurde seine Sprache flüssiger – außer, wenn er sich der Wut des Vaters ausgesetzt sah: Dann erstarrte er und brachte kein Wort heraus.

In den 1960er Jahren probierte die Regierung neue Schulsysteme und neue Unterrichtsmethoden aus. Statt in der Dorfschule wurde Gerd im Nachbarort eingeschult und einer neuen Lernmethode unterworfen: Statt einzelner Buchstaben sollte das Kind über ganze Wörter lesen und schreiben lernen. Die Folgen seiner langen Krankheit traten jetzt überdeutlich zu Tage: Gerd lernte langsam, vergaß viel und hatte dazu noch die liebe Not, die Wörter, die er morgens in der Schule gelernt hatte, nachmittags bei den Hausaufgaben aufzuschreiben.

Foto: Adobe Stock

1968 beschlossen die Eltern, in einem etwa 30 Kilometer entfernten Dorf ein Haus zu bauen. In ihrem derzeitigen konnten sie nicht bleiben, ein Haus zu kaufen war zu teuer, und in Breidesheim, wohin die Schwester des Vaters geheiratet hatte, waren die Bauplätze unschlagbar günstig: 5 Mark kostete der Quadratmeter im Neubaugebiet. Der letzte Bauplatz in der Straße lag an einem Nordhang, bot aber eine eindrucksvolle Aussicht über das Tal zu den Mittelgebirgen und auf grandiose Sonnenuntergänge. 105 000 Mark kostete das Fertighaus, das die junge Familie kaufte. Aber es würde zu wenig Platz bieten, wenn die Kinder größer würden. Deshalb entstand darunter ein Kellergeschoss mit Tageslichtfenstern nach Norden. Dieses musste gemauert werden, und fortan fuhr der Vater jeden Tag nach der Arbeit noch für einige Stunden auf die Baustelle, um Handlangerdienste zu verrichten.

Neun Jahre nach der Geburt der ältesten Schwester hatte ein viertes Kind das Licht der Welt erblickt: Noria lächelte viel, war sehr ruhig und wurde von ihrer Mutter zärtlich „Musche“ genannt. Auch hier gab es viele Schuldgefühle: Verzweifelt darüber, schon wieder schwanger zu sein, war die Mutter bewusst die Kellertreppe hinuntergefallen, in der Hoffnung, das Kind möge den Sturz nicht überleben. Der Fötus blieb dabei unbeschädigt, aber die junge Frau balancierte danach wochenlang mit Besen und Schrubber unter den Armen umher, weil sie sich einen Knöchel ganz furchtbar verstaucht hatte. Danach sprach sie offen mit dem Hausarzt: Wenn dieser ihr jetzt nicht diese neue Antibabypille verschreibe, werde sie sich bei der nächsten Schwangerschaft das Leben nehmen. Sie bekam die Pille.

Je knapper das Geld und je anstrengender der Hausbau wurde, desto stärker stieg die Spannung in der Familie. Eines morgens entlud sie sich beim Vater ganz unerwartet und einmalig: Gerade, als er zur Arbeit fahren wollte, brach er in Tränen und ein nicht enden wollendes Weinen aus. Die Mutter hielt ihn still im Arm. Dann ging der Tag weiter: Mit gewohnter Strenge und Disziplin. Vier Kinder, das älteste zehn, das jüngste ein Jahr alt, ein großes Haus, umgeben von einem großen Nutzgarten und ein Perfektion verlangender Gatte überforderten die Mutter zunehmend. Ganz besonders schlimm wurde es, wenn es nachmittags an die Hausaufgaben ging.

Dann saßen Caro, die Älteste, und Gerd am Küchentisch. Gerd musste beaufsichtigt werden, damit das mit dem Lesen und Schreiben auch funktionierte. Dabei blieb aber Hausarbeit liegen, und die Mutter fürchtete das strenge Urteil ihres Mannes. Wenn Gerd so gar nichts zustande brachte, wurde sie immer nervöser, immer ärgerlicher, und verlor immer wieder völlig die Façon. Dann ohrfeigte sie das Kind und schrie es an, es sein ein Ochse und ein Idiot – mit dem Ergebnis, dass der kleine Junge völlig erstarrte. Einmal kam der Vater zu einer solchen Szene dazu. Statt mäßigend einzuwirken, begann auch er zu schreien und Gerd zu schlagen. Cora fand das ungerecht und forderte die Eltern auf, die Misshandlung zu stoppen. Das war keine gute Idee: Auch sie bezog eine ordentliche Tracht Prügel.

Gerd wurde erneut schwer krank. Täglich besuchten ihn die Eltern im Krankenhaus, wo als erste Diagnose Leukämie gestellt wurde: Die Zahl der weißen Blutkörperchen war viel zu hoch. Die Mutter weinte nur noch, der Vater schwieg und schlug die Kinder, sobald diese einen Mucks machten. Aber der Junge erholte sich wieder. Die Ärzte hatten nicht herausgefunden, wo der Entzündungsherd in seinem Körper genau war, aber die Entzündung ging zurück. Das Kind lebte und kam wieder heim.

Am letzten Tag des Oktober 1969 zog die Familie ins neue Heim. Dort herrschte drangvolle Enge, denn der Keller konnte nicht sofort ausgebaut werden. Erst musste ein neuer Bausparvertrag voll bespart werden, das würde mindestens fünf Jahre dauern. So fanden sich die beiden Mädchen in einem winzigen Zimmer wieder, in das gerade so zwei Betten und ein Schrank passten, außerdem ein kleiner Schreibtisch. Die Jungen mussten in einem Etagenbett schlafen, sonst hätte der kleine Tisch für die Hausaufgaben nicht mehr in den Raum gepasst. Schmalhans war Küchenmeister, damit die Raten jeden Monat gezahlt werden konnten. Die Mutter hatte ebenfalls eine Arbeit angenommen: 12 bis 15 Nachtschichten im Monat.

Für die Kinder wurde das Leben zur Qual: Bis zum späten Nachmittag schlichen sie flüsternd durch Haus und Garten. Trotzdem beschwerte sich die Mutter, die grundsätzlich bei gekipptem Fenster schlief, täglich neu darüber, dass sie wegen des Kinderlärms nicht schlafen könne. Die schönen Stunden, in denen der Vater Märchen erzählte und mit den Kindern spielte, nahmen kontinuierlich ab, bis sie bei null waren. Die Prügel durch den Vater nahm kontinuierlich zu. Jeden Tag lag mindestens ein Kind auf dem Boden und schützte den Kopf vor seinen Fäusten. Nur Noria, die Kleine, blieb davon verschont. Gerd hatte in seiner Angst vor Strafe seine eigene Methode entwickelt, um sich zu schützen: Er log, dass sich die Balken bogen. Nur nicht schon wieder von den mächtigen hellgrünen Augen des Vaters verurteilt und zusammengeschlagen werden – dafür hätte der Junge alles getan. Körperlich schoss er in die Höhe und wurde zum Liebling der Frauen: Der schlaksige, blonde junge Mann mit seiner freundlichen Schüchternheit beeindruckte auch Coras Schulkameradinnen.

Als er endlich die Schule hinter sich gebracht hatte, verließ Gerd das Haus: Er verpflichtete sich zu zwei Jahren Bundeswehr. Hier endlich fand er einen Platz im Leben. Die Struktur, die Befehlskette, die Zusammengehörigkeit in der Truppe begeisterten ihn. Sein Rücken streckte sich, sein Blick wurde offener, und er konnte nun mit einem entschlossenen Ton auftreten. Das Leben war gut: Gerd unterschrieb für Z 12.

Foto: Bundeswehr

Klein, zart und empfindsam war seine langjährige Freundin: Auch Nathalie hatte einen Vater, der sie misshandelte. Nach der Schule verließ sie schnellstmöglich das Haus, um Musik zu studieren. Was sie später mit dem Studium anfangen wollte, wusste sie nicht so genau. Aber Musik war das wichtigste in ihrem Leben. Das merkwürdige Paar schien wunderbar miteinander zurecht zu kommen und unterstützte sich gegenseitig bei der Bewältigung der schlimmen Kindheitserfahrungen. Ein Hochzeitstermin wurde festgelegt.

Zwei Wochen vor der Hochzeit ein Aufschrei der Eltern: Gerd hatte sich in eine andere Frau verliebt und wollte Nathalie nicht mehr heiraten. Undenkbar sowas, wo doch die Gäste schon eingeladen und das Hochzeitsessen bestellt war. Die Mutter nahm sich der Sache an. Als sie mit ihm fertig war, war Gerd bereit, zu heiraten. Von der anderen Frau sprach er nie wieder. Auch in der Zukunft sprach er von Dingen, die er nicht ändern konnte, nie wieder, so wie er überhaupt persönliche Gedanken weitgehend für sich behielt. Er wurde nach Baden-Württemberg versetzt, das junge Paar zog dort hin und mietete sich in einem der drei Hochhäuser des Ortes ein. Später kauften die beiden dort eine Eigentumswohnung. Dort gab Nathalie an ihrem weißen Klavier Privatstunden. Sie suchte auch nach einer Anstellung und fand sie schließlich im örtlichen Edeka: Sie wurde zuständig für das Milch- und Käseregal.

Rückblickend waren die 12 Jahre bei der Bundeswehr die glücklichsten Jahre im Leben des jungen Mannes. Kein Wunder, dass er beschloss, sich nach deren Ende auf Lebenszeit zu verpflichten.

Aber es sollte anders kommen.

Auf dem Weg in die Kaserne kam dem Soldaten in einer Kurve ein Wohnmobil entgegen. Was genau passierte, konnte später nur mühsam in Teilen rekonstruiert werden. Jedenfalls zermalmte das Wohnmobil die komplette Fahrerseite des Fords und die komplette linke Körperhälfte Gerds. Schreckliche Diagnose im Krankenhaus: Gehirn gequetscht, Milz nicht mehr zu retten, Kiefer und linke Gesichtshälfte zertrümmert, linkes Ellenbogengelenk zertrümmert, linkes Bein ebenso. Die Ärzte nagelten und schraubten alles, so gut es ging zusammen. Aber ohne Ellenbogengelenk war der linke Arm nur noch begrenzt nutzbar, und die linke Wade blieb dauerhaft gelähmt.

Am schlimmsten war die Beschädigung des Gehirns: Die sozialen Fähigkeiten des jungen Mannes waren erheblich beeinträchtigt. An den Unfall selbst konnte er sich nicht erinnern. Dafür sprach er nun alles aus, was er auch dachte: „Du stinkst“ begrüßte er beispielsweise seine Frau, die zu seinem Ärger eine starke Raucherin war. „Hast du mal ein altes Buch aussortiert…“ kommentierte er ein Buchgeschenk seiner Schwester Cora, während seine Augen tief in schwarzen Höhlen lagen, aus seinem Gesicht lange Metallstangen ragten, ebenso aus Arm und Bein. Das Elend komplett machte schließlich eine Sepsis, die seinen ganzen Körper erfasste: Wochenlang schwebte Gerd zwischen Leben und Tod, bis er endlich die Intensivstation verlassen konnte.

Sein Lebenstraum war geplatzt: Berufssoldat konnte er nun nicht mehr werden.

Foto: Adobe Stock

Nach einer langen Rehabilitation bezahlte die Bundeswehr nun eine Umschulung. Es war die Zeit, als Computer in Masse auf den Markt kamen, und Gerd entschied sich für den Beruf eines Computertechnikers. Die Ausbildung machte ihm Freude, auch das dreimonatige Praktikum in einem Unternehmen lief gut. Aber: Niemand wollte den nun schwer behinderten Mann einstellen. Man sagte ihm auch, warum: Schwerbehinderte haben ein Recht auf mehr Urlaubstage und können kaum wieder gekündigt werden.

Der Absturz war tief, der Boden des schwarzen Lochs schien unendlich. Gerd fiel in seine bisher tiefste Depression, wusste nicht mehr, warum er überhaupt lebte und suchte Hilfe beim Therapeuten. Sein Umgang mit Nathalie war nun grob. Er war schnell reizbar, hatte kaum mehr Verständnis für ihre Gefühlslagen und sprach wenig. Auch der Kinderwunsch des Paares hatte sich erledigt: Gerd war nach dem Unfall so oft ungeschützt geröntgt worden, dass er nun unfruchtbar war. Nathalie litt sehr darunter, Gerd sprach nicht darüber. Statt dessen stopfte er sich voll: Mit Würstchen, Steaks, Kuchen und was sonst noch so da war.

Foto: NDR-Ratgeber Gesundheit

Um die Ecke der drei Hochhäuser gab es einen gut laufenden Copyshop, betrieben von einer älteren Frau, die eine Aushilfe suchte. Das wurde zum rettenden Strohhalm für den immer noch jungen Mann: Er begann, immer mal ein paar Stunden im Laden zu helfen. Als zwei Jahre später die Inhaberin in Rente gehen wollte, übernahm er diesen kurz entschlossen. Hauptsache, wieder eine Aufgabe im Leben. Nicht mehr zuhause rumzusitzen. Seinen Mann zu stehen. Nathalie wurde die Seele des Shops: Sie war es, die mit Schriften experimentierte, Speisekarten und Prospekte gestaltete, wenn sie mit ihrem Milch- und Käseregal fertig war. Zeit und Geld, um in Urlaub zu fahren, gab es tatsächlich auch. Gerd sparte lange, bis er zwei Wochen Kuba buchen konnte, und schenkte die Reise Nathalie zum Geburtstag. Später erstanden die beiden einen gebrauchten Wohnwagen, mit dem sie gern an den Bergseen der Alpen Urlaub machten. Sogar ein Gartengrundstück hatten sie zeitweise gepachtet.

Da kam das nächste Unglück ins Haus: Nathalie erhielt die Diagnose Brustkrebs. Das war, kurz nachdem ihr Vater an Krebs gestorben war. Untersuchungen brachten hervor, dass es sich um eine genetische Veranlagung handelte: Sowohl Vater, als auch Tochter trugen ein lebenslang deutlich gesteigertes Risiko, an Krebs zu erkranken.

Zunächst wuchs das Ehepaar ein letztes Mal näher zusammen. Nathalie durchlief die schwierige Prozedur der Entfernung einer Brust und des späteren Wiederaufbaus, alles verbunden mit Chemotherapie, Bestrahlung und den entsprechenden körperlichen Folgen. Wie alle, die eine Krebsdiagnose bekommen, fragte sie sich, ob sie sich in ihrem bisherigen Leben eigentlich gut genug um sich selbst gekümmert hatte – und musste das mit einem klaren Nein beantworten. In der Rehabilitation lernte sie einen großen, schlanken, feinfühligen Mann kennen. Die beiden kamen sich sehr nah. Als Nathalie nach Haus zurück kam, war sie nicht mehr die selbe. Oft verbrachte sie den ganzen Tag im Schlafanzug am PC. Ihr Interesse für Haus- und Küchenarbeit ließ merklich nach. Aber sie sprach nicht darüber, warum das so war, und Gerd wurde immer unruhiger.

Trotz seiner vielen Beeinträchtigungen nach dem Unfall zog Gerd die Frauen weiter magisch an. Das blieb auch so, als sich aus dem permanenten Frust, nicht mehr Soldat sein zu können, aus seiner Esssucht langsam, aber sicher ein großer, dicker Bauch entwickelte. Eines Abends erzählte er Schwester Cora, noch immer erstaunt, was sich heute in seinem Laden zugetragen hatte: Anne, die mit ihrem an Epilepsie erkrankten Ehemann zum Freundeskreis von Gerd und Nathalie gehörte, war dort ohne Vorankündigung erschienen, hatte die die Ladentür abgeschlossen und sich vor Gerd ausgezogen. Der war elektrisiert und konnte der Versuchung nicht widerstehen. Die Affaire dauerte wohl ein Jahr. Dann starb Annes Mann. Sie löste die Wohnung auf und verzog ohne Abschied nach Unbekannt.

Nathalie war das Ganze nicht verborgen geblieben. Eines Tages teilte sie Gerd mit, dass sie eine kleine Wohnung gefunden und gemietet hatte, in einem etwa 50 Kilometer entfernten Städtchen. Dorthin werde sie nun umziehen, und ihre Ehe sei hiermit beendet. Er weinte wochenlang, versuchte, mit ihr über alles zu sprechen, schlug eine Eheberatung vor, aber es war zu spät: Sie wollte nicht mehr.

Nun begann ein unaufhaltsamer Abstieg. Die Eigentumswohnung, auf die Gerd so stolz gewesen war, musste verkauft werden. Er zog in zwei Zimmer im Nachbardorf. Ohne Nathalie fehlte seinem Laden die Seele. Dazu kam, dass Computer immer stärker die Haushalte eroberten – samt zugehöriger Scanner und Drucker. Dem Copyshop brachen immer mehr Einnahmen weg. Ohne Nathalie fehlte auch die Struktur in der Buchhaltung. Wenige Jahre nach der Trennung hatte Gerd komplett die Übersicht verloren und stand unter enormem Schuldendruck. Sogar das auf Kredit erstandene Auto wurde vom Autohaus zurück gefordert, was zu ständigen nächtlichen Versteckaktionen führte. In seiner Not bat Gerd die Eltern um Hilfe: Wenn sie für einen Kredit über 40 000 Euro bürgen, würde er seinen Laden retten können.

Der Vater war misstrauisch und wollte die Bücher und Jahresbilanzen sehen. Die konnte Gerd nicht vorzeigen – sie bestanden aus Haufen unsortierter Papiere. Die Mutter setzte die Bürgschaft trotzdem durch, indem sie ihrem Mann mit Liebesentzug drohte. Erbost und verbittert stimmte der Vater schließlich zu. Cora und Gerd setzten mit ihm zusammen ein Papier auf, das die Bürgschaft über 40 000 Mark festlegte, und auch die Bedingungen, die der Vater stellte. Gerd musste schriftlich auf sein Erbe verzichten, bis alles bezahlt sein würde – das war die härteste. Während Gerd nun erstmal sein Geschäft weiterführen konnte und auch die Kreditraten regelmäßig zahlte, kam der Vater nicht damit klar, dass er gezwungen worden war. Bei jedem Familienkaffee zog er nun über seinen älteren Sohn her und auch über seine Frau und die Erpressung. Da Gerd zu diesen Treffen meistens nicht anwesend war, verteidigte Cora ihn – nur um selbst ins Visier des Vaters zu geraten.

24 000 Euro des Kredites waren abbezahlt, als in Gerds Laden schließlich nichts mehr ging. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass eine Erstattung der AOK über 34 000 Euro noch rechtzeitig eintreffen würde, aber das geschah nicht. Er musste Insolvenz anmelden. Er war völlig am Ende mit seinen Nerven, unfähig, die Zusammenhänge verständlich zu erklären und voller Angst vor der Reaktion des Vaters. Diese fiel aus wie erwartet. Der „Schlappschwanz“ und „Loser“war täglicher Bestandteil seiner lauten Wutreden. Die Rücklage des Vaters für den Fall seines eigenen Todes musste eingesetzt werden, als die Bürgschaft fällig wurde, was dessen Wut bis zur Raserei verstärkte.

Volker, der jüngere Bruder, hatte mit wachsendem Erstaunen und Ärger der Hilfestellung der Eltern für seinen Bruder zugesehen und fühlte sich nun massiv benachteiligt. Weil der Vater nicht bereit war, alle Geschwister auf den gleichen Informationsstand zu der Bürgschaft zu bringen, vermutete Volker ein Komplott durch Gerd und Cora, ihn und seine Familie um Erbanteile zu bringen. Dieser Stachel saß fortan in seinem Kopf und entwickelte ein Eigenleben, während Gerd seinen Copyshop auflöste, dabei weinte und weinte. Inzwischen gab es Möglichkeiten, online zu chatten. So chatteten Gerd und Cora fast jeden Abend, tauschten sich aus, brachten Schritt für Schritt Klarheit in die Lage. Schließlich war das Verfahren überstanden, und Gerd begann eine achtmonatige Rehabilitation in einer neurologischen Klinik in den Hochalpen; eine wohl lebensrettende Maßnahme. Hier übte er soziales Miteinander neu ein, verarbeitete endlich den schrecklichen Unfall und dachte darüber nach, was jetzt aus seinem Leben werden sollte.

Das Insolvenzverfahren endete mit einer sechsjährigen Wohlverhaltensphase. Gerd blieb gerade genug Geld, um sich zu ernähren. Die Einsamkeit war erdrückend. Er wünschte sich von ganzem Herzen eine neue Partnerin, aber es war keine in Sicht. Er verdrückte nun riesige Mengen Essen und Süßes, nahm auch gerne mal einen Schnaps und wurde gefühlt jeden Tag unförmiger. Von seinen früheren Freunden hielt er Abstand, weil er sich wegen der Insolvenz schämte. Auch begannen jetzt, pünktlich wie von den Ärzten nach dem Unfall vorausgesagt, starke Schmerzen in Armen, Beinen und Füßen. So verbrachte Gerd die meiste Zeit des Tages zuhause vor dem PC, wo er online Computerspiele spielte. In dieser Community lernte er mit der Zeit neue Bekannte kennen. Man traf sich auch hier und dort bei Gaming-Events.

Auch versuchte er, den Kontakt zur Familie wieder zu intensivieren, was sich jedoch schwierig gestaltete. Bruder Volker war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, hatte kleine Kinder. Gerd hatte die Angewohnheit, sich bei den Eltern oder Geschwistern anzukündigen, dann aber dort zu sitzen, zu essen und kaum etwas zu sprechen, was besonders seinen jüngeren Geschwistern auf die Nerven ging. Da er über seinen Kummer und seine Sorgen nicht reden wollte, weil er die Verachtung der Familie fürchtete, wusste Gerd nicht, was er nun erzählen könnte und wartete irgendwie immer auf ein Zeichen der Zuneigung, das aber nie kam.

Und dann traf ihn die angestaute Wut Volkers mit voller Macht. Nachts, unter Einfluss von Alkohol, ließ dieser seitenlange Unflätigkeiten per Mail ab. „Nein, ich wünsche mir nicht deinen frühen Tod,“ hieß es da zum Beispiel. „Leben sollst du, und mindestens 100 Jahre alt werden. Dann verrecke, langsam und mit erheblichen Schmerzen, ersticke an dir selbst. Verachtung und Zorn sind noch untertrieben, was deine Person betrifft. Um deiner Gesundheit willen nimm keinen Kontakt zu mir auf. Der Knüppel steht hinter der Tür. Ich werde dich prügeln bis zu deinem Auto und noch weiter…“ Aus Mangel an Informationen über die Bürgschaft hatte sich Volker einen Schuldenberg von 100 000 Euro ausgemalt, um die Gerd ihn unter Zuhilfenahme von Cora bei den Eltern „betrogen“ hätte. Eine Chance, die Dinge richtig zu stellen, gab es nicht: Volker sprach weder mit Gerd, noch mit Cora je wieder ein Wort.

Aber auch das Glück sollte Gerd ein letztes Mal begegnen.

In einem erneuten Versuch, der Depression und der Einsamkeit zu entfliehen, fährt er über das Wochenende zu einem Gamer-Event. Dort trifft er sie. Eva ist zwei Jahre älter als Cora, hat eine dunkle, rauchige Stimme, raucht Kette und erscheint unglaublich gelassen. Die beiden mögen sich sofort. Nach dem Ende der Veranstaltung lädt sie ihn ein, bei ihr zu übernachten, denn er hat noch einen langen Heimweg vor sich. Sie reden die ganze Nacht hindurch. Er erzählt von seiner gescheiterten Ehe, dem Unfall, der Laden-Insolvenz – sie berichtet von ihrem getrennt lebenden Mann, der schon vor Jahren in die Türkei zurück gekehrt ist, von ihrem wechselvollen Berufsleben als gelernte Krankenschwester, als Verkäuferin im Lampengeschäft ihrer Mutter und als Anwaltsgehilfin. Sie kochen gemeinsam und fühlen sich endlich nicht mehr allein. Zwei Wochen später fährt er zurück in seine kleine, leere Wohnung – aber nur für kurze Zeit. Wenig später zieht er bei ihr ein.

Das Leben ist schön. Zwei PC mit großen Bildschirmen bauen sie nebeneinander auf, wo sie stundenlang gamen. Dazwischen führt er ihren Hund Gassi, kocht ein warmes Essen für sie, wenn sie von der Arbeit heimkehrt und geht einkaufen. Das Geld ist knapp, aber für gutes Essen reicht es immer. Gerds Bauch wächst stetig in ein unglaubliches Format. Auch Eva nimmt ein wenig zu – sie hat lange nicht mehr so viel und so regelmäßig gegessen – aber sie fühlt sich wohl mit ihrer Figur. Der jüngere ihrer beiden Söhne lebt im Stockwerk über den beiden, das uralte Haus im Zentrum der Kleinstadt gehört Eva. Die Bundeswehr zahlt Miete.

Gerds Schmerzen werden stetig schlimmer, aber trotzdem hat er neuen Lebensmut gefunden. Er beschließt, sich im örtlichen VdK zu engagieren und ist kurze Zeit später schon dessen Vorsitzender. Er macht umfangreiche Weiterbildungen und berät in seiner wöchentlichen Sprechstunde kranke und behinderte Mitglieder, die sich um eine Pflegestufe, einen Behindertengrad oder eine Erwerbsminderungsrente bemühen. Dabei erwirbt er bemerkenswerte Kenntnisse über die Feinheiten, die es braucht, um Behörden zu überzeugen. Seine Sprechstunde erfreut sich großer Beliebtheit. Zuhause gibt es schonmal Ärger, wenn Gerd sich konsequent vor der Hausarbeit drückt und aus dem Kühlschrank auch die Leckereien verzehrt, die Eva für sich selbst gekauft hat. Aber insgesamt vertragen die beiden sich wunderbar und sind froh, einander zu haben.

Bereits kurz nach der Insolvenz des Copyshops war es das erste Mal passiert: ein Herzinfarkt. Gerd, der ausgebildete Sanitäter, hatte die Anzeichen erkannt und war rechtzeitig im Krankenhaus gewesen. Seitdem leidet er immer wieder unter starker Atemnot, schläft nachts mit Atemmaske, weil er ständig Atemaussetzer hat. Als er mal wieder glaubt, fast zu ersticken und gleichzeitig heftige Schmerzen in der Brust verspürt, muss er den Notarzt rufen. Der Rettungsdienst weigert sich, den großen, schweren Mann die steile Treppe hinunter zu tragen und will ihn statt dessen von der Feuerwehr mit der Drehleiter aus dem Fenster holen lassen. Das beschämt den Kranken so sehr, dass er trotz Schmerzen, Atemnot und Todesangst auf allen Vieren allein die Treppe hinunterkrabbelt. Diesmal ist es eine beidseitige Lungenembolie. Vorher bereits muss er an einer riesigen Bauch-Hernie operiert werden: Die Ärzte ziehen ein stabiles Netz ein, damit der „Bruch“ nicht mehr wieder kommen kann.

Quelle: Youtube

Die Ärzte, die Familie und seine gesamte Umgebung warnen ihn jetzt immer lauter: Er muss dringend abnehmen, sein Leben steht auf dem Spiel. Aber die Sucht hat ihn erbarmungslos im Griff. Gerd verbietet allen, die er kennt, sein Gewicht anzusprechen, verrät auch nicht, wie viele Kilos es sind. Cora spricht ihn dennoch immer wieder darauf an. Als sie einmal sagt, dass sein Bauch irgendwann platzen wird, muss er lachen: Nein, das Netz darin sei ganz sicher stabil.

Zwei Jahre später ist der Bauch so riesig, dass problemlos eine Schubkarre darunter passen würde. Er hat nun die Grenze von 200 Kilo Gewicht überschritten. Zum Ärger von Eva kauft er sich keine neue Kleidung mehr – mit dem Argument, dass er erst abnehmen müsse. Es folgen eine weitere Lungenembolie, der nächste Herzinfarkt – und die Diagnose, dass eine Herzklappe unbedingt operiert werden muss. Er nimmt immer mehr Medikamente und geht zweimal wöchentlich zur Lymphdrainage, um das „Wasser“ in seinem gestressten Beinen wenigstens teilweise los zu werden.

Endlich wird die Herzklappe operativ behandelt. Bei diesem Krankenhausaufenthalt verliert Gerd mehr als 20 Kilo Flüssigkeit. Nach der OP kann er wieder besser atmen und gehen; er schöpft neue Hoffnung. Gute EKG-Werte versprechen, dass er sich wieder gesünder fühlen wird, auch wenn die Nieren- und Leberwerte alarmierend schlecht sind. Er kehrt nach Hause zurück, und ein unerwarteter Glücksfall beschert ihm seinen ersten Urlaub mit Eva: Sie muss eine Messe nah seiner alten Heimat besuchen. Er begleitet sie, und sie verlängern den Aufenthalt auf eine ganze Woche. Dabei besuchen sie seine alten Freunde und fühlen sich das erste Mal seit langem wieder jung und glücklich. Sie verabreden, im Sommer wieder zu kommen. Eva will dann an der einwöchigen Fahrradtour der Freunde teilnehmen und Gerd will das Versorgungs-Auto fahren.

Vielleicht schaffen sie es jetzt ja auch endlich, einmal gemeinsam an die Ostsee zu fahren und über die masurische Seenplatte – ein Traumziel Gerds seit seinem Jugendtagen. In den Telefongesprächen mit Cora geht es um die Frage, ob sie vielleicht sogar mit zwei Paaren fahren könnten, die polnische Ostsee entlang und dann zur Seenplatte.

Aber es soll anders kommen.

Gerd wird eine weitere Reha genehmigt; diesmal in einer Klinik im Schwarzwald. Und auch die Fahrradtour rückt näher. Aber plötzlich platzen seine Beine auf, und die Lymphe läuft heraus. Es entwickeln sich ein hartnäckiger Ausschlag an den unteren Waden und mehrere tiefe „Löcher“ in den Beinen, die nicht heilen wollen. Er kann nicht mehr gehen, verbringt den ganzen Tag auf dem Sofa oder im Bett. Seine Hausärztin kommt jetzt zu ihm heim, und erstmals nähert er sich dem Gedanken, sich doch vielleicht ein Magenband legen zu lassen. Aber nicht jetzt, sondern erst, wenn es ihm wieder besser geht… Coras Apelle werden flehend: Sie sagt ihm, sie will nicht, dass er an seinem Gewicht stirbt. Da beginnt er zu weinen: „Es geht mir so furchtbar elend, ich habe für nichts mehr Kraft. Ich kann mich selbst nicht mehr tragen…“

In einem Chat schreibt er ihr, dass sie nächstens mal telefonieren sollten, am besten, wenn Eva ihren Bridge-Abend habe. Er wolle ihr etwas vertrauliches mitteilen. Kein Problem, meint Cora. Aber als er sie zu ihrem Geburtstag anruft, vergessen sie das Thema.

Und dann ist es zu spät.

Dreieinhalb Wochen nach diesem Gespräch bekommt Gerd in der Nacht zum Sonntag akute Luftnot. Eva läuft, um das Sauerstoffgerät zu holen. Aber es wird nicht besser, und er bekommt Angst. Um 2.30 Uhr rufen sie den Rettungsdienst. Acht Männer sind nötig, um Gerd die Treppe hinunter in das Rettungsauto zu tragen. Im Krankenhaus angekommen, entspannt er sich, fühlt sich in Sicherheit und erzählt der Ärztin, was ihn alles plagt.

Und plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, bricht sein System zusammen: Akutes Herzrasen, überhaupt keine Luft mehr, Bewusstlosigkeit, Herzstillstand.

40 Minuten lang versucht das Team, den Patienten zu reanimieren, aber es ist zu spät.

Gerd ist tot. Er starb am 18. Februar um 4.30 Uhr. Er wurde 62 Jahre alt.

*

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Anmerkung: Keines der obigen Bilder zeigt Gerd. Die Namen im Text wurden geändert. Eine knappe Woche nach seinem Tod wartet Gerds Körper zurzeit auf die Einäscherung und Bestattung der Urne in einem Friedwald. Aufgebahrt wurde er nicht. Weil es im Krankenhaus keine passende Kühlbox gab und der Bestatter an einem Sonntag erstmal einen übergroßen Sarg beschaffen musste, hatte der Körper knapp 12 Stunden in einem beheizten Raum auf einer Pritsche gelegen. Gerds wertvollste Habe waren ein neuer Gaming-PC, ein brandneues I-Pad und ein Mcbook. Die hat er seinem Bruder Volker vererbt. Der nimmt sie gern…

Siehe auch:

Gewalt in der Erziehung

Gewalt gegen Kinder

Depression

Adipositas

Essucht -Ratgeber

H.G. Tudor beschreibt den Tod (englisch)

Sind die Tageszeitungen noch zu retten? Beispiel Rhein-Zeitung

Sind die deutschen Tageszeitungen noch zu retten? Die Auflagen besonders der Regionalzeitungen schrumpfen alarmierend schnell, auch die Digital-Angebote der Blätter machen das nicht wett. Das geht aus der jüngsten Statistik der IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.) hervor.

Regionale Tageszeitungen haben es auf dem Print-Markt schwerer als alle anderen. Der wichtigste Aspekt, der sie von Mitbewerbern unterscheidet, ist ihre jeweilige regionale und lokale Berichterstattung. Aber gerade diese ist besonders teuer und personalintensiv. Weder durch Abo-Zahlen, noch über den Anzeigenmarkt lässt sich diese Form der Berichterstattung mit Gewinn umsetzen, weshalb die betroffenen Medienhäuser in den letzten beiden Jahrzehnten hier besonders stark den Rotstift ansetzten. Damit jedoch entfällt für zahlreiche Leser der Grund, sich die Abos überhaupt noch zu leisten. Zusätzlich leiden Tageszeitungen unter hohen Papier-, Herstellungs- und Vertriebskosten.

Beispiel Rheinland-Pfalz: Im Herzen von Rheinland-Pfalz, aber nicht in der Landeshauptstadt, residiert die Rhein-Zeitung. Anfang der 1990er Jahre zählte das in Koblenz ansässige Blatt 30 Lokalredaktionen im nördlichen Rheinland-Pfalz. Bis auf kleine Bereiche an den Rändern gibt es keine Mitbewerber. Das Verbreitungsgebiet deckt sich weitgehend mit dem ehemaligen Regierungsbezirk Koblenz (1,7 Millionen Einwohner). Es gab eine sehr kleinteilige Berichterstattung und viel direkten Kontakt mit Lesern. Da erschien das erste große Problem am Verlagshimmel: Es wurde üblich, immer mehr Fotos in Farbe zu veröffentlichen. Um dies umzusetzen, musste der Mittelrhein-Verlag teure neue Druckmaschinen anschaffen. So wurden die 1990er Jahre die ersten, die zu großen Umstrukturierungen führten.

Parallel zu den neuen Maschinen wurde das gesamte Erscheinungsbild des Blattes überholt: Man ging von fünf auf sechs Spalten, veränderte Schrift, Überschriften, Bildformate. Die Zahl der Lokalredaktionen wurde erstmals verringert: Aus 30 wurden 12. Die anderen 18 Standorte, bei denen oft langfristige Mietverträge bestanden, wurden nicht sofort aufgelöst, sondern arbeiteten zunächst der jeweiligen Redaktion zu. Redaktionsleiter wurden abgestuft und bei Eintritt in den Ruhestand nicht mehr ersetzt. Volontäre wurden nach der Ausbildung nicht mehr automatisch übernommen. In den folgenden Jahren sank die Zahl der fest angestellten Redakteure kontinuierlich.

1987 schon hatte die Rhein-Zeitung den Versuch unternommen, sich auch in der Landeshauptstadt Mainz zu etablieren und mit großem Aufwand die Lokalredaktion Mainz gegründet. Das Blatt nannte sich hier Mainzer Rhein-Zeitung und trat gegen den Platzhirsch Allgemeine Zeitung Mainz an. Ende 1998 wurde dort eine verkaufte Auflage von 11 984 Exemplaren erreicht. Im Laufe der Jahre sank die Auflage jedoch kontinuierlich: Zum 31. Dezember 2013 wurde die Lokalredaktion bei einer Auflage von 6 913 Exemplaren aufgelöst und der Titel eingestellt. Die Mainzer Rhein-Zeitung war nicht rentabel zu betreiben.

Parallel zu den finanziellen Herausforderungen wuchsen für die Zeitungen die digitalen Möglichkeiten. Erst mussten keine Texte mehr in die Setzerei geschickt werden, sondern wurden von den Schreibern allein bearbeitet. Die Redaktionen bekamen zusätzlich zu ihren schwarz-weiß-Fotolaboren Maschinen, die Farbfilme entwickeln konnten. Die Fotos konnte man zunächst in einem aufwändigen Prozess funken, später gleich digital in die Seiten einbauen, die ab diesem Zeitpunkt komplett in den Redaktionen produziert wurden. Korrektoren gab es da schon lange nicht mehr. Jetzt sparte man viel Personal in der Druckerei ein, indem die Redakteure diese Arbeiten übernahmen. Das sorgte für mehr Aktualität: Nun konnten die Redaktionen bis kurz vor der jeweiligen Andruckzeit noch aktuelle Nachrichten nachschieben. Deshalb wurden Spätschichten eingeführt, obwohl die Zahl der Redakteure weiter sank. Wenig später kamen die ersten Digitalkameras auf den Markt, die eine große Arbeitserleichterung bedeuteten, musste man doch nicht mehr stundenlang im Labor stehen. Kurzfristig sorgten die neuen Entwicklungen für einen kleinen Aufschwung.

Im Jahr 2000 verzeichnete die Rhein-Zeitung eine verkaufte Gesamtauflage von 239 072 Exemplaren, davon 224 365 im Abonnement. Man begann, über ein neues Druckhaus nachzudenken. Das Internet bestand nun seit etwa zehn Jahren und wurde langsam für die Masse an Verbrauchern alltagstauglich. Die sozialen Netzwerke waren noch nicht geboren.

Trotz der scheinbar guten Geschäftslage war man sich im Verlag dessen bewusst, dass die Kosten weiter steigen würden. Durch die Verbreitung in einem Flächenland war man trotz der Konzentration der Redaktionen bei den Anzeigenpreisen an Grenzen gestoßen. Zwar hatte man in der Druckerei durch die Digitalisierung erhebliche Personalkosten einsparen können. Aber das Papier stieg kontinuierlich im Preis, der Vertrieb mit seiner Hauszustellung auch in den kleinsten Orten des Landes wurde immer schwieriger und kostenträchtiger. Eine dynamische Website musste erstellt und täglich aktuell gehalten werden. In diesem Rahmen wurde das gesamte Zeitungsarchiv digitalisiert, um es den Lesern zur Verfügung zu stellen; eine Herkulesaufgabe.

Trotzdem war der Höhepunkt der Auflagenstärke überschritten. In den folgenden Jahren wurde das Internet zum größten Feind der Print-Tageszeitungen, denn es war rund um die Uhr aktuell. Der Kleinanzeigenmarkt brach ein, nachdem seit 1994 Amazon und seit 1995 Ebay mit viel günstigeren und gleichzeitig einfacheren Methoden Kunden an sich banden. Auch der Stellenmarkt wurde immer dünner: Es gab zeitweise praktisch keine Stellenanzeigen mehr. Das Arbeitsamt und die Wirtschaft waren ebenfalls digitalisiert worden und konnten offene Stellen im Internet anbieten.

Hatte man Ende der 1990er Jahre noch überlegt, in welche Richtung sich die Zeitung weiter entwickeln sollte: mit regionalem und lokalem Schwerpunkt oder eher konzentriert auf überregionale, nationale und internationale Nachrichten, war es jetzt beschlossene Sache: Man würde das Lokale weiter konzentrieren, dafür Regionalseiten einführen, denen die Lokalredaktionen zuarbeiten mussten, und sich ansonsten auf die „großen“ Nachrichten konzentrieren, die über ohnehin abonnierte Nachrichtenagenturen zugeliefert wurden. Einzelne zentral beauftragte Reporter brachen einige Themen auf Regionalebene herunter oder kommentierten.

Foto: Rhein-Zeitung.de

1998 wurde Google gegründet. Die Suchmaschine zählte schon im Jahr 2000 mehr als eine Milliarde Seiten. Jetzt begann das unaufhaltsame Sinken der Auflagen. Schon in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends wurde öffentlich über die „Krise der Tageszeitungen“ diskutiert. Und das war erst der Anfang.

Im Jahr 2001 entwickelte die Redaktion der Rhein-Zeitung das erste E-Paper der Bundesrepublik Deutschland. Die Tageszeitung war damit im Original-Format ab dem Zeitpunkt der Drucklegung online abrufbar, was geradezu unglaublich aktuell war. 2004 ging Facebook an den Start. Es tötete das regionale Forum „Wer kennt wen“, das 2006 gegründet worden und zunächst extrem beliebt war, langsam, aber stetig und wurde über seine Gruppen zum Vermittler von lokalen und regionalen Nachrichten. 2005 ging Youtube an den Start und 2006 wurde Twitter gegründet. Diese Nachrichten-Plattform, das heutige X, kann als internationale, stets topaktuelle Nachrichtenquelle genutzt werden, wenn man dort ausschließlich Medien abonniert. Youtube liefert aktuelle Videos zu allem, was gerade in der Welt passiert .Damit wird es überflüssig, Geld für eine einzelne Tageszeitung auszugeben, wenn man über die Weltlage informiert sein will. 2010 folgte Instagram für IOS und 2012 für Android. Die Rhein-Zeitung versuchte, sich dieser Entwicklung zu stellen, indem sie damit begann, ihr Online-Angebot mit aktuellen Videos anzureichern, wofür extra Redakteure eingesetzt wurden.

42 Millionen Euro hatte der Verlag in das neue Druckhaus investiert, das im Mai 2012 groß eingeweiht wurde. Da lag die verkaufte Auflage der Rhein-Zeitung bei 202 340, davon 182 363 Abos. Die Redakteure mussten jetzt auch Konten auf Facebook und Twitter mit aktuellem Content befüllen. Dadurch stieg aber das Risiko, die Ausgabe des nächsten Tages durch Vorabmeldungen zu „verramschen“. Daher beschloss der Verlag, eine radikale Bezahlschranke einzurichten. Ab 4. November 2013 konnte niemand mehr ohne Bezahlung auf das digitale Angebot zugreifen. Das war und ist wesentlich krasser, als es viele andere Tageszeitungen bis heute halten. Sie bieten zumeist einen kostenfreien Teil und einen +Teil gegen Bezahlung an. Für die Rhein-Zeitung war es eine riskante Wette: Um zu reüssieren, musste sie ihre Abonnenten bei der Stange halten.

Foto: Rhein-Zeitung.de

1,5 Jahre nach Einführung der Bezahlschranke lag die verkaufte Auflage der Rhein-Zeitung bei 188 345 Ausgaben, davon 171 405 Abonnenten und 9 071 E-Paper-Leser. Heute, nach dem dritten Quartal 2023 und zehn Jahre nach Einführung der Bezahlschranke, liegt die verkaufte Auflage bei gerade noch 134 447 Stück, davon 17 999 e-Paper, 121 822 Abonnenten und 8 640 E-Paper-Abonnenten. Allein im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Verlust von 7,7 Prozent. Die 12 teuren Lokalredaktionen wurden noch einmal massiv eingeschmolzen, die Lokalnachrichten damit ebenfalls – mit dem Ergebnis, dass die meisten der 1 113 Kommunen im Verbreitungsgebiet Nachrichten aus ihrem Leben nicht einmal jeden zweiten Tag lesen können. Damit ist das einst so starke Alleinstellungsmerkmal dieser Tageszeitung nur noch marginal vorhanden. Informationen zu den vielen kleinen und größeren für Lokalredaktionen so undankbaren Terminen bekommen die einstigen treuen Leser heute beim Einkaufen, aus dem kostenlosen Anzeigen-Blatt, den Mitteilungsblättern ihrer Verwaltungen und über Facebook-Gruppen. Das lokale Angebot wirkt auf den ersten Blick groß, besteht aber de facto aus einzelnen Spotlights zu den jeweiligen Gebieten.

Mit dieser Entwicklung ist die Rhein-Zeitung nicht allein. Deutschlandweit liegen die Auflagenverluste der Tageszeitungen zwischen 5 und 10 Prozent, Tendenz weiter sinkend. Auch andere Regionalzeitungen haben ihre Lokalberichterstattung stark eingeschmolzen. Die Nachrichten-Seiten dieser Zeitungen sind aber durch das Internet parallel dazu obsolet geworden. Die Notwendigkeit, dass Redakteure für sie Nachrichten einordnen, ein Argument, das gern als Begründung dafür genutzt wird, weshalb man eine Tageszeitung abonnieren sollte, bestätigen immer weniger Leser. Das einzige Gebiet, auf dem sie unschlagbar waren, den lokalen Bereich, haben die Printmedien aus Kostengründen derart verschlankt, dass potentielle Leser nicht mehr erkennen, warum sie für so wenig Information und Service Abos für knapp 50 Euro im Monat abschließen sollen. Wenn sich nicht nachhaltig etwas ändert, etwa durch staatliche Förderung von Lokalzeitungen, werden die Tageszeitungen in absehbarer Zeit Geschichte sein.

Wer sich nicht durch den Zahlendschungel der IVW wühlen möchte, kann Details zu den Auflagen der deutschen Tageszeitungen und Zeitschriften auch gebündelt beim Meedia-Magazin nachlesen.

Beitragsbild: Mali Maeder, Pexels

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Siehe auch

Niedergang der Print-Medien: Kreativität in ganz neuen Strukturen notwendig

Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte – das wird immer so sein mit zahlreichen weiteren Links

„Der Abend“ – Konzept einer digitalen Tageszeitung und eine Vision

Forbes-Liste 2023: Auch die Reichsten der Welt müssen kämpfen

Auch für die Milliardäre dieser Welt war 2023 kein einfaches Jahr. Die Hälfte von ihnen ist jetzt ärmer als zu Jahresbeginn, stellt die Forbes-Liste der reichsten Menschen weltweit fest.

Insgesamt zählt Forbes 2640 zehnstellige Vermögen weltweit, das sind 28 weniger als letztes Jahr. Alle Milliardäre der Welt halten zusammen ein Vermögen von 12,2 Billionen Dollar, das sind 500 Milliarden weniger als im März 2022. Die meisten Milliardäre leben nach wie vor in den USA. Die 735 Personen auf der Liste halten zusammen 4,5 Billionen Dollar. Mit 562 Milliardären folgt China (inclusive Hongkong und Macao), sie halten zusammen zwei Billionen Dollar. Es folgt Indien mit 169 Milliardären, die zusammen 675 Milliarden Dollar besitzen.

Insgesamt 254 Menschen fielen aus der Forbes-Liste heraus; einige davon verloren ihr Vermögen vollständig. Der Ukraine-Krieg, die Inflation, steigende Zinsen und das Platzen der Krypto-Blase forderten ihre Opfer. Sam Bankman-Fried (von 24 Milliarden auf weniger als 10 Millionen) und Kanye West (von zwei Milliarden auf etwa 499 Millionen) sind zwei besonders bekannte Opfer. Am härtesten getroffen wurde Big Tech: 52 Tycoone sahen ihr Vermögen auf unter eine Milliarde schrumpfen. 44 Personen aus der Welt der Banken und Investments und 35 aus dem produzierenden Gewerbe fielen komplett heraus. die meisten Milliardäre verlor mit 80 China, 47 verloren die USA und 15 Korea. 23 weitere Menschen, die zuvor auf der Liste waren, sind verstorben.

Auch Ex-Präsident Donald Trump hatte kein gutes Jahr: Sein Vermögen sank um 700 Millionen auf jetzt 2,5 Milliarden Dollar. Hauptgrund war der Flop seines Social Media-Versuches Truth Social. 100 000 neue Abonnenten im Monat sind den Investoren viel zu wenig. Haupteinnahmequelle Trumps sind nach wie vor Immobilien. Sein Manhattan-Portfolio hat einen Wert von 700 Millionen Dollar und ist um 300 Millionen gesunken. Ob diese Summe real ist, wird sich herausstellen, wenn sein Prozess wegen Falschangaben zum Wert seiner Immobilien abgeschlossen ist. Weitere Prozesse auf Basis seiner Steuererklärungen sind zu erwarten.

150 Menschen wurden neu in die Liste aufgenommen, darunter der Golfer Tiger Woods mit 1,1 Milliarden Dollar. Das Durchschnittalter der Milliardäre liegt bei 65 Jahren, wobei der älteste, der Versicherungs-Magnat George Joseph, 101 Jahre alt ist. 15 Personen auf der Liste sind 30 Jahre alt oder jünger. 337 Personen auf der Liste sind Frauen, zehn mehr als letztes Jahr. Die reichste Frau der Welt bleibt die französische L’Oréal-Erbin Françoise Bettencourt-Meyers mit einem Vermögen im Wert von 80,5 Milliarden Dollar.

Hier nun ein Blick auf den vorderen Teil der Forbes-Reichen-Liste und auch die darin enthaltenen deutschen Milliardäre.

Ganz vorn hat sich nicht viel geändert: Bernard Arnault, Chef eines Imperiums von 75 Kosmetik- und Modemarken, führt sie mit einem Vermögen von 211 Milliarden Dollar an. Zu seinen Marken gehören unter anderem Louis Vuitton und Sephora. Zweiter ist weiterhin Elon Musk, Chef von Tesla, Space X und twitter, das er in den unhandlichen Namen X umgetauft hat. Er ist rund 180 Milliarden schwer. Über ein Vermögen von 140 Milliarden verfügt auch nach seiner Scheidung noch Jeff Bezos, Gründer von Amazon. Larry Ellison, Gründer von Oracle besitzt immerhin noch satte 107, Warren Buffet, Chef des Investment-Unternehmens Berkshire Hathaway, folgt mit 105 und Bill Gates, Gründer von Microsoft, auch nach seiner Scheidung noch mit 104 Milliarden Dollar.

Carlos Slim Helú, der mexikanische Tele-Kommunikationsunternehmer und seine Familie, der vor einigen Jahren noch die Liste anführte, kommen auf 93 Milliarden Dollar (Platz 8); Larry Page, der Google-Gründer auf 79,2 (Platz 12). 64,4 Milliarden schwer ist Mark Zuckerberg, der Facebook-Gründer. Er belegt Platz 16 der Liste. Platz 23 mit 50,1 Milliarden nimmt Charles Dell vom gleichnamigen Unternehmen ein. Auf Platz 27 findet sich der reichste Deutsche, Michael Schwarz mit 42,9 Milliarden (u.a. Kaufland und Lidl). Klaus-Michael Kühne von Kühne&Nagel (Schweiz) liegt mit 39,1 Milliarden Dollar auf Platz 29. Jacqueline und John Mars vom gleichnamigen US-Unternehmen verfügen über jeweils 38,3 Milliarden Dollar und teilen sich damit Platz 31. Mark Mateschitz, Sohn des Mitgründers von Red Bull (Schweiz) hat ein Vermögen im Wert von 34,7 Milliarden Dollar und liegt damit auf Platz 37 der Liste.

Die Brüder Alain und Gérard Wertheimer teilen sich die französische Modemarke Chanel mit je 31,6 Milliarden Dollar und damit Platz 41. Auf Platz 46 liegt der Deutsche Reinhold Würth mit dem gleichnamigen Unternehmen im Wert von 29,7 Milliarden. Die reichste deutsche Frau ist weiterhin Susanne Klatten (BMW) mit 27,4 Milliarden Dollar und Platz 51. Ihr Bruder Stefan Quandt folgt ihr auf Platz 59 mit 24.6 Milliarden. Weit dahinter, auf Platz 101 liegen Theo Albrecht jr. und Familie (Aldi) mit einem Vermögen im Wert von 16,5 Milliarden Dollar. Albrechts Schwester, Beate Heister, teilt sich den Platz mit ihm mit einem Vermögen in gleicher Höhe.

Ray Dalio, Gründer des US-Investment Fonds Bridgewater Associates, ist mit 19,1 Milliarden Dollar auf Platz 83; Lakshmi Mittal, Chef des indischen Stahlunternehmens, hat ein Vermögen von 17,7 Milliarden Dollar (Platz 93). Rupert Murdoch, der US-Medienmogul, verfügt über ein Vermögen von 17,1 Milliarden Dollar und liegt damit auf Platz 99 der Forbes-Liste. Die beiden deutschen Zwillingsbrüder Andreas und Thomas Stringmann sind als Finanziers des Mainzer Unternehmens BionTech reich geworden und liegen mit einem Vermögen von je 11,5 Milliarden Dollar auf Platz 148.

Giorgio Armani, der italienische Modemacher, ist 11,1 Milliarden schwer und liegt damit auf Platz 157. Georg Schaeffler, dem zusammen mit seiner Mutter die deutsche Unternehmensgruppe Schaeffler (Automotive) gehört, teilt sich mit 10,1 Milliarden Platz 171 mit Christy Walton (Walmart). Mit seiner Firmengruppe, die Software und Unternehmens-Service anbietet, erreicht der Deutsche Friedhelm Loh Platz 190 (9,7 Milliarden). Alexander Otto von der deutschen Otto Group liegt mit 9 Milliarden Dollar auf Platz 215. Michael Otto, Sohn des Firmengründers Werner, kommt mit 8,7 Milliarden Dollar auf Platz 230. Der Deutsche Hasso Plattner (IBM) steht mit 8,6 Milliarden Dollar auf Platz 232. Die Deutsche Françine von Finck und ihre Kinder haben von ihrem Ehemann (Investments) 8,3 Milliarden Dollar geerbt und liegen damit auf Platz 246 der Forbes-Liste. Der Industrielle Heinz Hermann Thiele vererbte 2021 seiner Ehefrau Nadja ein Vermögen von 6,6 Milliarden Dollar. Damit belegt sie Platz 383 der Liste.

Die Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt wird täglich aktuell gehalten und verändert sich ständig.

Alle Fotos: Forbes