Kategorie: Menschengeschichten

Queen Elisabeth II. ist tot „Sie war immer da“…

Queen Elisabeth II. ist tot. 17 Monate nach dessen Heimgang folgte sie ihrem geliebten Mann Philip. Damit endet eine der größten und schönsten Liebesgeschichten – und eine Ära im britischen Königshaus.

Am 6. September noch hatte die kleine alte Dame die neue britischen Regierungschefin Liz Truss offiziell mit der Regierungsarbeit beauftragt. Da sahen viele Zuschauer, wie sehr sie zu einem Schatten ihrer früheren Erscheinung geworden war, sorgten sich wegen eines fast schwarzen Handrückens und ungewöhnlich hellen Fingern. Kaum 48 Stunden später war ihre Kraft zuende. Nur ihre Kinder Charles und Anne schafften es rechtzeitig ins Schloss Balmoral, bevor die alte Dame friedlich ihre Augen schloss. Wenig später sahen die Menschen über London einen wunderschönen Regenbogen.

Geboren am 21. April 1926, stand Elisabeth nach ihrem Onkel Eduard VIII. und ihrem Vater Georg VI. zunächst an dritter Stelle der britischen Thronfolge. Sie hatte eine fröhliche Kindheit, umgeben von ihren beiden tierischen Lieben, Corgies und Pferden und erhielt die Erziehung einer jungen Frau aus dem Hochadel. Im Zweiten Weltkrieg bestand diese darauf, ihren Beitrag für ihr Land zu leisten, zog die Uniform an und beschäftigte sich unter anderem mit Autoreparaturen.

Und dann kam es völlig anders als gedacht. Eduard VIII. wurde 1936 zwar König, dankte aber noch im selben Jahr wieder ab, um die geschiedene Amerikanerin Wallis Simpson zu heiraten. Georg VI. hatte eine schwache Gesundheit – und so musste ihm seine Tochter schon im Jahr 1952 auf den Thron folgen. Die zierliche, nur 1,57 Meter große, junge Königin sah bezaubernd aus. Es wurden tausende wunderschöner Fotos von ihr gemacht, die für das einfache Volk wirkten wie aus einer anderen Welt. In der Öffentlichkeit wahrte die Queen zu jeder Zeit die Contenance, ihr strahlendes Lächeln wurde ebenso zu einem Markenzeichen wie die Handschuhe, die sie stets trug, wenn sie viele Hände schütteln musste.

Die Distanziertheit Elisabeths wurde zu einem Ärgernis, als Ex-Schwiegertochter Diana bei einem Autounfall starb. Erst nach fünf Tagen war die Königin bereit, aus Schottland nach London zurück zu kehren und den Schmerz der Bevölkerung zu teilen. Der Ärger im Volk über diese scheinbare Gleichgültigkeit sorgte für eine nachhaltige Veränderung im Verhalten des Königshauses. Von nun an gab sich Elisabeth volksnäher, ließ auch mal ihren stets wachen Sinn für Humor öffentlich aufblitzen. Je weißer ihre Haare wurden, desto mehr schien die Regentin in sich zu ruhen. Sie wirkte ausgeglichener, wurde von der Mutter zur geliebten Großmutter der Nation.

In der Liebe hatte sich Elisabeth schon sehr jung entschieden. Mit 13 Jahren lernte sie ihren Cousin dritten Grades, Prinz Philip von Griechenland und Dänemark kennen. Danach schrieben die beiden sich regelmäßig. Am 9. Juli 1947 wurde die Verlobung bekannt gegeben, nachdem schon der Teenager entschieden hatte: „Der oder keiner“ sollte es sein. Es wurde eine 73 Jahre dauernde, skandalfreie Ehe. Die beiden bekamen vier Kinder. Charles, der Erstgeborene, musste warten, bis er selbst 73 Jahre alt war, bevor er die Nachfolge seiner Mutter antreten konnte.

Königin Elisabeth war ein Kind ihrer Zeit. Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, für Frauenrechte zu kämpfen, auch wenn ihr eigener Mann in der Öffentlichkeit immer hinter ihr gehen musste. Zuhause bestimmte Philip, wo es lang ging, und für seine Frau war das auch in Ordnung so. Privat war die Königin eine fröhliche, lebhafte Frau mit einem vielseitigen Musikgeschmack, die gern tanzte, und das in ihren privaten Räumen auch tat. Sie liebte Corgies und Pferde, die sie zeitweise auch züchtete. Am liebsten hielt sie sich in ihrem Urlaubsschloss im schottischen Balmoral auf, wo sie viel wanderte und auch schonmal in Gummistiefeln gesichtet wurde.

Als Elisabeth II. aufwuchs, war die politische Welt eine völlig andere als heute. Großbritannien war die größte, noch bestehende Kolonialmacht der Erde. Im Laufe ihres Lebens wurde aus den Kolonien das Commonwealth, ein loser Staatenverbund mit dem britischen König als Oberhaupt. Nach Indien verabschiedeten sich jedoch immer mehr Nationen von der britischen Regentschaft und verkündeten ihre Unabhängigkeit. Sogar im Vereinigten Königreich selbst mit seinen verschiedenen Nationen, rumort es inzwischen zunehmend. Ausgerechnet in Schottland gibt es starke Bestrebungen nach Unabhängigkeit. Das Königshaus ist zu politischer Neutralität verpflichtet. Trotzdem konnte die Königin natürlich hinter den Kulissen sanft Einfluss nehmen, was sie in Bezug auf Schottland auch tat. Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg Großbritannien angegriffen hatte, verdankt es nicht zuletzt den frühzeitigen Besuchen des Königspaares, dass das Land in Europa langsam wieder Fuß fasste. Elisabeth hasste Unstimmigkeiten aller Art und war stets bemüht, für Frieden und Ausgleich zu sorgen.

In 70 Jahren Regentschaft bereiste die Königin unzählige Länder und lernte massenweise Staatenlenker kennen; so zum Beispiel allein 13 US-Präsidenten. Auch solche, die sich unglaublich daneben benahmen, wie etwa Donald Trump, ertrug sie (mehr oder weniger) mit Gleichmut, manchmal auch mit amüsiertem Lächeln. Sie empfing Sportler, Rockstars und andere Menschen aller Art. Einige schlug sie zum Ritter, andere befragte sie aufmerksam nach ihrem Leben. Für Generationen von Menschen war sie ein Kontinuum – „die“ Queen, die einfach immer da gewesen war. Als sie nun mit 96 Jahren tatsächlich ihre Augen schloss, rührte sie weltweit Regierende genau wie einfache Menschen. So sagte etwa Kanadas Ministerpräsident Trudeau mit Tränen in den Augen: „Sie gehörte zu denen, die mir am liebsten auf der Welt sind.“

In den ehemaligen Kolonien, besonders in Indien, wurde der Tod der langjährigen Regentin nicht so freundlich aufgenommen. Nie habe sie sich entschuldigt dafür, wie England von Indiens Schätzen profitiert und die Menschen ausgebeutet hatte, war von dort zu hören. Fünf Commonwealth-Staaten kündigten umgehend Austrittspläne an. Weitere werden wohl dazu kommen. König Charles III. wird sich mit einem auseinanderfallenden Commonwealth und Spaltungstendenzen in Großbritannien ebenso auseinander setzen müssen, wie mit der tiefen wirtschaftlichen Krise, in der sich sein Land befindet und den schwierigen Handelsbedingungen mit der EU seit dem Brexit.

Auch das Königshaus selbst steht auf dem Prüfstand. Hier hat Charles bereits vor dem Tod seiner Mutter angekündigt, dass die Zahl der „Royals“ auf einen wesentlich kleineren Kreis als bisher reduziert werden solle. Als Prinz von Wales hatte sich der Thronfolger auch politisch engagiert: Die Rettung des Klimas steht seit Jahrzehnten ganz oben auf seiner Agenda. Ganz sicher wird er trotz seiner Verpflichtung zur Neutralität auch weiter ein Auge auf sein Herzensthema haben.

In seinem Alter, das weiß Charles III., kann er nicht mehr als ein Übergangskönig sein. Deshalb arbeitet er eng mit seinem Sohn William zusammen, der ihm auf dem Thron folgen wird. Sogar im Buckingham Palast soll sich vieles ändern. Wie man hört, will Charles in den ersten Stock ziehen und die Räume darunter der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Die Königin ist tot – es lebe der König.

Siehe auch: Eine Liebe wie im Märchen: Prinz Philip und seine Königin

Angriff auf die Ukraine: Putins aufgestauter Zorn über die Osterweiterung der NATO entlädt sich

Russland hat es getan. Nach fast einjährigem Zusammenziehen von Truppen und Angriffswaffen rund um die Ukraine hat Präsident Putin erst die beiden Republiken Donezk und Luhansk in der Ukraine als eigenständig anerkannt, und jetzt in der Nacht zum 24. Februar 2022 großflächig die gesamte Ukraine angegriffen. Beginnend in den Hafenstädten Odessa, Mariupol und der Stadt Charkow nahe der russischen Grenze ziehen sich inzwischen die Angriffe über das ganze Land, auch auf Kiew. Zehntausende Ukrainer sind auf der Flucht Richtung Polen. Nach eigenen Angaben hat das russische Militär die Luftabwehr der Ukraine mit präzisionsgelenkter Munition „komplett unschädlich“ gemacht. Es laufen Raketenangriffe auf strategisch wichtige Ziele.

In Europa und der Nato herrscht helle Aufregung. Die Börsen brechen weltweit ein, und der Ölpreis überspringt die magische Marke von 100 Dollar. Die Preise von Getreide und Gold steigen.

Die Ukraine ist von Russland und Belarus aus umstellt

Die Ukraine hat die diplomatischen Beziehungen mit Russland abgebrochen, das Kriegsrecht ausgerufen, alle Bürger aufgerufen, sich zu verteidigen und ihren Luftraum geschlossen. Die Barabhebungen bei Banken wurden eingeschränkt. Auch das benachbarte Belarus schließt seinen Luftraum für zivile Flüge. Die Nato hat ihren Verteidigungsplan aktiviert und verstärkt ihre Präsenz in ihren östlichen Mitgliedsstaaten, die sich bedroht fühlen und um Hilfe gebeten haben. Europa und die Nato summen wie ein Bienenkorb. Es hagelt Verurteilungen der russischen Angriffspolitik und Ankündigungen „schwerer Sanktionen“.

Militärisch steht der Ukraine allerdings niemand zur Seite, denn das Land ist kein Nato-Mitglied. Sowohl Präsident Selensky, als auch sein Botschafter in Deutschland, Dr. Andrij Melnyk haben geradezu flehentlich um militärische Hilfe gebeten, um der haushoch überlegenen, hoch modernen russischen Armee etwas entgegen stellen zu können. Andrij Melnyk, hat heute erneut einen flammenden Appell an Deutschland gerichtet, endlich und sofort umzudenken. Wladimir Putin hat angekündigt, dass, falls die Nato ins Geschehen eingreife, sie eine Antwort sehen werde, wie sie sie noch nie erlebt habe.

Bisher wurden vor allem finanzielle Sanktionen gegen enge Freunde Wladimir Putins und Mitglieder der Duma ausgesprochen, die die Aggressionen beschlossen haben. Jetzt stehen deutlich massivere Sanktionen im Raum, wie etwa den Ausschluss Russlands aus dem Swift-System, mit dem Banken international untereinander arbeiten.

Die Gaspipeline Nordstream 2 ist trotz extremer Proteste aus den USA fertig und im Genehmigungsprozess. Bundeskanzler Olaf Scholz wollte die Inbetriebnahme bis zuletzt retten, während sein grüner Wirtschaftsminister Habeck schon wochenlang den Stopp des Zertifizierungsprozesses plante. Nun kam der Kanzler US-Präsident Biden zuvor und erklärte, dass Nordstream 2 ab sofort auf Eis liege. Der amerikanische Präsident hatte bereits vor kurzem öffentlich getönt, dass, die Pipeline Geschichte sei, falls Russland in die Ukraine einmarschiere. Bisher setzt Gazprom die Versorgung über die übrigen Pipelines fort.

Ich werde hier versuchen, die Hintergründe dieses Angriffs aufzuarbeiten und betrachte die Bedeutung der russischen Energielieferungen, die gemeinsame Geschichte Russlands und der Ukraine, die Zeit des kalten Krieges, die Wiedervereinigung Deutschlands und ihre Folgen, das Ende des Warschauer Paktes, die Nato-Osterweiterung und die Versprechen an Russland, kriegerische Aktivitäten der USA und Russland seit 1945, sowie Putin als Mensch.

Erdgas hat mittlerweile einen Anteil von über einem Viertel am deutschen Primärenergieverbrauch. Importe aus Russland wiederum decken den Erdgasverbrauch mittlerweile etwa zur Hälfte, Tendenz steigend. Nachdem Deutschland fast gleichzeitig aus der Kernenergie und der Kohle zugunsten erneuerbarer Energien aussteigen will, hat die Versorgung mit Gas als Brückentechnologie zunehmende Bedeutung. „Bereiten Sie sich schonmal auf eine Verdoppelung des Preises vor,“ tönte es dazu gehässig aus Russland.

Bisher läuft ein großer Teil der russischen Erdgasexporte über Pipelines, die alle durch die Ukraine führen. Die dortige Regierung wird von Russland aber spätestens seit 2014 als Feind angesehen, was bereits zu Lieferstopps führte. Nordstream 2 soll aus russischer Sicht vor allem dazu dienen, das Land künftig zu umgehen.

Deutschland ist zu abhängig von russischem Gas, das ist eine Tatsache. Eine Tatsache ist aber auch, dass die USA, die diese Abhängigkeit immer kritisieren und Handel mit Russland in den letzten Jahren zunehmend mit Sanktionen belegt haben, ihre eigenen Interessen dabei nie aus dem Auge verlieren. So ist ungeachtet der Sanktionen Russland der Staat, aus dem die USA die höchsten Importe von Öl beziehen. 2020 hat Russland fast 27 Millionen Tonnen Rohöl und -derivate in die USA exportiert. Pro Tag sind das 538.000 Fass, 63 Prozent mehr als 2014. Darüber hinaus waren amerikanische Unternehmen 2019 mit Abstand die größten Investoren in Russland. Gleichzeitig exportieren die USA im großen Ausmaß ihre eigenen Fracking-Produkte und drängen Europa, sie zu kaufen.

Seit dem Herbst letzten Jahres steigen die Preise für Öl und Gas stark an. Die Gründe liegen einerseits in wachsender Nachfrage, vor allem aus Asien, in den Sanktionen der USA unter anderem gegen Venezuela und den Iran, und in der Weigerung der OPEC-Staaten, die Förderung auszuweiten. Im noch jungen Jahr 2022 setzte sich der Preisanstieg ungebremst fort, verbunden mit einer ebenfalls ungewohnt stark steigenden Inflationsquote. Die jetzt zu erwartenden Sanktionen gegen die Ukraine werden dieses Problem auf die Spitze treiben und besonders Deutschland schaden, während die USA nicht betroffen sind. Weltweit fahren die Börsen seit Wochen Karussel – nach der neusten Entwicklung sinkt unter anderem der DAX auf einen neuen Tiefstand.

Die Ausrichtung der Ukraine nach Westen und ihr Wunsch, der Nato beizutreten, haben beim russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Fass zum Überlaufen gebracht. Die kontinuierliche Osterweiterung der Nato seit den 1990er Jahren, verbunden mit der Stationierung von Waffen vor Russlands „Haustür“ hat das Land, das im Bewusstsein lebt, eine Supermacht zu sein, zunehmend aufgebracht und bereits 2014 zur Annektierung der Halbinsel Krim geführt. Beim jetzigen Einmarsch in die beiden Republiken scheint es auch darum zu gehen, mindestens das Festland gegenüber der Krim, wahrscheinlich aber das ganze Land „zurück“ in russische Hand zu bringen – zumal Wladiminir Putin ohnehin der Überzeugung ist, dass die Ukraine ein „untrennbarer Teil von Russland“ ist.

Geschichte Russlands und der Ukraine

Die Ukraine hat eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich, die immer mit der Russlands verbunden war. Hier eine sehr knappe Zusammenfassung:

Einst war ihre heutige Staatsfläche Teil des historischen Reiches der Kiewer Rus (980 1240), gegründet von den Rjurikiden (den „Ruderern“), das vom schwarzen Meer bis zur Ostsee reichte. 988-989 nahm dieses Reich das Christentum von Byzanz an. Dann kamen die goldene Horde der Mongolen und eine litauisch-polnische Herrschaft, bis die Ukraine 1569 Teil des polnischen Königreiches wurde.

Mit dem Ende des Mongolenreiches 1480 konsolidierte sich die nördliche Rus rund um das Großfürstentum Moskau und begann eine kontinuierliche Expansion, genannt „Sammlung russischer Erde.“ Man wollte die Kiewer Rus wieder herstellen und bekriegte unter anderem Litauen-Polen und das Osmanische Reich, das zeitweise das Territorium der heutigen Ukraine besetzte. Zar Peter I. (Peter der Große) modernisierte das seit 1721 bestehende imperiale russische Reich und führte es näher an den Westen heran. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts festigte das russische Reich seinen Großmachtstatus und nach der Niederlage Napoleons im Russlandfeldzug 1812 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft auf dem europäischen Festland.

Das vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Reich konnte mit den schnell wachsenden Industriestaaten nicht mithalten, bis Zar Alexander II. Reformen anschob. Er hob 1862 auch die Leibeigenschaft auf. Vorausgegangen war ein verlorener Krimkrieg (1853 – 1856), in dem Russland versucht hatte, den Osmanen die Krim abzunehmen, von den westeuropäischen Ländern aber daran gehindert worden war. Es folgten weitere Kriege im Osten und Süden Russlands und der Erste Weltkrieg. Im März 1917 stürzte die Februarrevolution die Monarchie in Russland. Im Herbst des selben Jahres führte die Oktoberrevolution zur Übernahme des Landes durch die kommunistischen Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin.

Bei der Gründung der Sowjetunion 1922 wurde die Ukraine ein Teil davon. Im Gegensatz zum Zarenreich erkannte die UDSSR die Ukraine als eigene Nation an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der polnische Teil der Bevölkerung umgesiedelt oder vertrieben, Ukrainer in Polen mussten in die Ukraine ziehen, die als Land Teil der Sowjetunion blieb. Deren Führer Nikita Chruschtschow schenkte der Ukrainischen Sowjetrepublik 1954 beim Fest zum 300-jährigen Bestehen der Russisch-Ukrainischen Einheit die Halbinsel Krim. Er soll betrunken gewesen sein.

Kiev
Kiew

Nach dem Fall der Sowjetunion wurde die Ukraine 1991 wieder ein unabhängiger Staat.  176 strategische und über 2500 taktische Atomraketen, die noch dort stationiert waren, wurden bis 1996 von Russland entfernt. Dafür erhielt die Regierung in Kiew finanzielle Hilfe aus den USA, günstige Energielieferungen aus Russland und Sicherheitsgarantien, die im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 festgehalten wurden. Darin verpflichteten sich die USA, Russland und Großbritannien, die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Ukraine weder durch Gewalt, noch durch deren Androhung zu verletzen, keinen wirtschaftlichen Zwang auszuüben, auf jegliche militärische Besetzung zu verzichten und eine solche keinesfalls anzuerkennen.

Machtmissbrauch, Korruption und innere Kämpfe machten den ukrainischen Bürgern das Leben schwer. So entwickelten sich 2004 die Orangene Revolution und 2013 erneut Aufstände, diesmal mit dem Schwerpunkt auf dem Maidan in Kiew. Nach Unruhen auf der Krim und einem Referendum, bei dem die dortige Bevölkerung für den Anschluss an Russland stimmte, annektierte Russland 2014 die Halbinsel, auf der die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Es hatte immer wieder Streit darüber gegeben, ob die Flotte unter ukrainischem oder russischem Oberkommando stehen sollte. Im selben Jahr organisierten pro-russische Kräfte in zwei Regionen der östlichen Ukraine ebenfalls ein Referendum über den Anschluss an Russland. Seitdem sehen diese sich als unabhängig. Diese beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk wurden am 21.2.2022 von Putin anerkannt, der sogleich verkündete, Truppen zu schicken, um die russischen Teile der Bevölkerung „vor Aggressionen und Völkermord“ zu schützen.

Blick auf die Krim

Der lange Kalte Krieg

Nach dem Zerfall der Sowjetunion knüpfte die Russische Föderation an die Zeit vor der Oktoberrevolution an. Allerdings entsprachen die Grenzen Russlands nicht denen des Kaiserreichs vor 1917, sondern denen des ethnisch relativ einheitlichen russischen Zarentums im 17. Jahrhundert. Es begann eine Zeit der wirtschaftlichen Krise und extremen Versorgungsknappheit, verbunden mit inneren Unruhen. Erst Wladimir Putin gelang es, das Land wieder zu stabilisieren und Selbstbewusstsein zurück zu gewinnen. Außenpolitisch wendete sich Russland nach einigen Jahren der Annäherung mehr und mehr vom Westen ab, in der Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 kam Putins Einschätzung der USA als „gegnerische Weltmacht“ zum Ausdruck.

Von 1947 bis 1989 herrschte zwischen dem „Ostblock“ und dem Westen der Kalte Krieg. Der Konflikt nahm in dieser Zeit dreimal äußerst bedrohlichen Charakter an: Die erste Krise war die Berlin-Blockade vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949. Vorausgegangen war die Währungsreform am 21. Juni 1948, die Westdeutschland die D-Mark brachte. Während der Blockade der Stadt, deren Ziel es war, die Enklave Westberlin in die sowjetische Einflusszone einzuordnen, musste Berlin per Luftbrücke versorgt werden. Im Februar 2022 erst starb der berühmte „Candy-Bomber“ Gail S. Halvorsen, der immer kleine Portionen an Süßigkeiten, an Taschentuch-Fallschirme gebunden, über Berlin abgeworfen hatte, im Alter von 101 Jahren.

Candy-Bomber Gail S. Halvorsen

Die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen auf Kuba führte 1962 zur Kubakrise. 1959 hatte Fidel Castro den Diktator Batista gestürzt. Danach wurden die lukrativen US-amerikanischen Unternehmen auf Kuba ohne Entschädigung verstaatlicht. Das führte zur wirtschaftlichen Blockade der Insel durch die USA. Im April 1961 versuchten die USA, mittels einer Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht, wieder die Kontrolle zu übernehmen, was in einem Fiasko endete. 1960 nahm die Sowjetunion unter Chruschtschow diplomatische Beziehungen mit Kuba auf unterstützte das Land wirtschaftlich gegen die Folgen des US-Embargos. Nachdem es durch die Stationierung russischer Atomwaffen auf der Insel fast zu einem Atomkrieg gekommen wäre, begannen Ost-West-Gespräche zur besseren Kommunikation und Begrenzung von Atomwaffen.

Fidel Castro mit Nikita Chruschtschow
Fidel Castro mit Chruschtschow

In den 1960er Jahren erreichte die Sowjetunion mit ihren Interkontinentalraketen und Wasserstoffbomben ein annäherndes atomares Gleichgewicht mit den USA. Danach begann eine neue Form der Aufrüstung. Die seit 1970 entwickelten Pershing II und Cruise Missiles galten als die ersten Waffensysteme, deren Treffgenauigkeit und Reichweite die angestrebte flexible Zielauswahl ermöglichten. Daraufhin begann die Sowjetunion ihre älteren gegen Westeuropa gerichteten R-12– und R-14-Raketen allmählich gegen modernere RSD-10-Raketen (im Westen SS-20 genannt) auszutauschen. Sie hatten eine Reichweite bis 5000 Kilometer und hohe Zielgenauigkeit, waren auf mobilen Abschussrampen montiert und wurden mit je drei atomaren Mehrfachsprengköpfen bestückt. Von 1979 bis 1982/83 kulminierte der Streit.

Seit 12. Dezember 1979 gab es den Nato-Doppelbeschluss. Er bestand aus zwei Teilen:

  1. Die Nato kündigte die Aufstellung neuer mit Atomsprengköpfen  bestückter Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und Marschflugkörper vom Typ BGM-109G Gryphon in Westeuropa  an. Sie begründete diesen Schritt als Modernisierung und Ausgleich einer Lücke in der atomaren Abschreckung, die die Stationierung der sowjetischen SS-20 bewirkt habe.
  2. Sie verlangte bilaterale Verhandlungen der Supermächte über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen (Intermediate Nuclear Forces – INF mit einer Reichweite zwischen 1000 und 5500 km) in Europa. Dabei blieben die französischen und ein Teil der britischen Atomraketen ausgeklammert. Beide Teile, Raketenaufstellung und Rüstungskontrolle, sollten einander ergänzen und parallel vollzogen werden.

Daraufhin entwickelte sich in Europa und Deutschland eine breite Friedensbewegung, die gegen Atomwaffen demonstrierte. Ab 1985 bot die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow weitreichende atomare Abrüstung an. 1987 vereinbarten die USA und die Sowjetunion im INF-Vertrag Rückzug, Vernichtung und Produktionsverbot all ihrer atomar bestückbaren, landgestützten Flugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 km und ihrer Trägersysteme. Bis Mai 1991 erfüllten sie diesen Vertrag (Informationen aus Wikipedia).

Deutsche Wiedervereinigung und Folgen

Und dann, grade, als die Kräfte einigermaßen ausgewogen verteilt schienen, änderte sich die Geschichte schlagartig. In einem vergleichsweise winzigen, günstigen Zeitfenster erreichten der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zusammen mit einem ganz kleinen Kreis der Eingeweihten, dass das geteilte Deutschland sich wieder vereinigen konnte. Am 9. November 1989 fiel die Mauer – am 3. Oktober 1990 war die Wiedervereinigung vollzogen und die DDR nach 41 Jahren Geschichte.

Die Nacht, in der die Mauer fiel

Grundlage der Wiedervereinigung war der „Zwei plus Vier-Vertrag„, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet waren. Darin gaben die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs Deutschland frei. Der Vertrag gilt als die endgültige Friedensregelung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies geschah, obwohl alle außer den USA Bedenken hatten, dass Deutschland wieder zu selbstbewusst werden könnte. Michael Gorbatschow forderte dabei kategorisch, dass Deutschland auf keinen Fall Teil der Nato werden dürfe. Helmut Kohl schaffte es, Gorbatschow umzustimmen, indem er einen bilateralen Vertrag zu einer engen Zusammenarbeit auf vielen Gebieten und einen gegenseitigen Gewaltverzicht anbot.

Am 31. Mai schlossen die USA und die Sowjetunion bei Gorbatschows Staatsbesuch in Camp David ein Handelsabkommen ab. Die Bundesregierung organisierte einen Kredit in Höhe von fünf Milliarden DM für die Sowjetunion, für den sie die Bürgschaft übernahm. So konnte der Versorgungsnotstand in Russland gelindert werden. Am 6. Juli 1990 verabschiedete der Nato-Gipfel in London eine Erklärung, wonach der Warschauer Pakt „nicht mehr als Gegner“ angesehen wurde; die versammelten Staats- und Regierungschefs kündigten eine Reduzierung ihrer Kernwaffen und eine Abkehr von der Strategie der Flexible Response und der Vorneverteidigung an; auch sollte die NATO von einer militärischen in eine politische Organisation Allianz umgeformt und die KSZE aufgewertet werden. Bereits im Juni hatten die NATO-Außenminister bei ihrem Treffen im schottischen Turnberry erklärt, man wolle keinen einseitigen Vorteil aus der deutschen Wiedervereinigung ziehen, vielmehr sei man bereit, die sowjetischen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Damit konnte sich Gorbatschow gegen zahlreiche innenpolitische Gegner durchsetzen.

Polen, das befürchtet hatte, Deutschland wolle seine ehemaligen Gebiete wieder haben, wurde die Oder-Neiße-Linie als Grenze verbindlich zugesagt. Unter dem Titel „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ verzichteten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, auf ihr Vorbehaltsrecht in Bezug auf Deutschland. Hier die vollständigen Regelungen des zwei plus Vier-Vertrages:

  • Das Staatsgebiet  des vereinten Deutschlands umfasst die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins.
  • Die bestehenden Grenzen sind endgültig. Das vereinigte Deutschland verpflichtet sich, keine Gebietsansprüche zu erheben.
  • Das vereinigte Deutschland bekräftigt sein Bekenntnis zum Frieden und verzichtet auf atomare, biologische und chemische Waffen.
  • Die Truppenstärke der deutschen Streitkräfte wird von weit über 500.000 auf 370.000 Mann reduziert und beschränkt.
  • Die sowjetische Westgruppe der Truppen (GSTD) wird vom Gebiet der ehemaligen DDR und des Landes Berlin bis spätestens 1994 abgezogen.
  • Kernwaffen und ausländische Truppen dürfen auf ostdeutschem Gebiet nicht stationiert oder dorthin verlegt werden.
  • Die Viermächte-Verantwortung in Bezug Berlin und Deutschland insgesamt wird beendet.
  • Der Vertrag stellt die volle innere und äußere Souveränität des vereinigten Deutschland her.
  • „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik werden sicherstellen, dass die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind.
  • „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ 

Nato-Osterweiterung und Versprechungen

Im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung trieb Michail Gorbatschow immer wieder die Sorge um, dass sich die Nato nach Osten ausdehnen könnte. Immer wieder wurde ihm von verschiedenen Nato-Mitgliedern versichert, dass das auf keinen Fall geplant sei. Ein verbindliches Dokument dazu wurde jedoch nicht erstellt. Ab 1999 wurden die russischen Befürchtungen Wirklichkeit: Die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn traten der Nato bei. Inzwischen sind alle 14 Gründungsstaaten des Warschauer Paktes (außer Russland, der Nachfolgestaat der UdSSR) dem einst gegnerischen NATO-Bündnis beigetreten, ebenso wie die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Estland und Litauen.

Die Nato hat immer wieder abgestritten, Russland irgend etwas versprochen zu haben. Das sei schon allein deshalb nicht möglich gewesen, da es sich um freie Staaten und deren freie Entscheidung handele. Außerdem habe sich das Thema damals gar nicht gestellt, weil es ja den Warschauer Pakt gab. Im Februar 2022 taucht jedoch im britischen Nationalarchiv ein Dokument auf, das das Gegenteil beweist: Bei einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschland in Bonn am 6. März 1991 stimmten Briten, Amerikaner, Deutsche und Franzosen überein, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer ‚inakzeptabel‘ sei. US-Außenminister James Baker hat bei einem Treffen mit Gorbatschow am 9. Februar 1990 versprochen, die Nato werde sich „keinen Inch weiter nach Osten“ erweitern. Baker schrieb in einem Brief an Helmut Kohl, wonach Gorbatschow dulden könne, dass Deutschland in der Nato bleibt, dass aber „jede Erweiterung der Nato-Zone inakzeptabel“ sei. Kohl wiederum versprach am 10. Februar Gorbatschow: „Wir glauben, die Nato sollte ihren Aktivitätsgebiet nicht erweitern.“

Gorbatschow bezahlte seine West-freundliche Politik und sein naives Vertrauen in mündliche Versprechungen im eigenen Land später teuer.

Wladimir Putin (seit 2000 im Amt) hat den „Betrug“ an Russland nicht nur nie verwunden: Jede Aktivität der Nato, und besonders der Führungsnation USA nahe den Grenzen Russlands hat ihn neu und bis auf’s Blut gereizt.

Ende des Warschauer Pakts

Der Warschauer Pakt war ein von 1955 bis 1991 bestehender militärischer Beistandspakt des sogenannten Ostblocks unter der Führung der Sowjetunion und im Kalten Krieg das Gegenstück zum Nordatlantikpakt der NATO. Wirtschaftlich waren die Ostblockstaaten bereits seit 1949 im  Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammengeschlossen.

Der Warschauer Pakt diente als Stützpfeiler der offiziellen Politik der Sowjetunion durch die Bündnispartner. Die Stationierung sowjetischer Truppen in fast allen Mitgliedstaaten und das Vereinte Oberkommando unter sowjetischer Kontrolle sorgten dafür, dass die Herrschaft der jeweiligen kommunistischen Partei und die Treue gegenüber der Sowjetunion nicht in Frage gestellt werden konnten.

In Fällen, bei denen einzelne Teilnehmerstaaten den von Moskau vorgegebenen Kurs verlassen wollten, wurde dies als Angriff von außen auf das sozialistische  Staatensystem ausgelegt und mit einer militärischen Intervention geahndet: Beispielsweise beim ungarischen Volksaufstand 1956 und im Prager Frühling der ČSSR 1968 schlugen Truppen des Warschauer Pakts nationale Aufstände nieder. Auch der Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde von der Sowjetarmee niedergeschlagen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs erodierten die strengen Strukturen des Warschauer Paktes zunehmend, woraufhin sich dieser 1991 offiziell auflöste. Damit war auch formell der kalte Krieg beendet.

Fortgesetzte Demütigung Russlands

Ebenfalls im Jahr 1990 begannen die sowjetischen Truppen, aus den Staaten des Warschauer Paktes abzuziehen. 1994 verließen die letzten, jetzt russischen Truppen das wiedervereinigte Deutschland. 2008 beschloss die Nato: Georgien und Ukraine sollen „in der Zukunft“ Mitglieder werden. Die Ukraine wird seitdem von den Nato-Staaten und vorneweg Deutschland massiv mit Geld gefördert, bekommt teilweise auch Waffen. Die Nato kommentierte lautstark Russlands Eingreifen in Georgien, im Kaukasus und in der Ukraine. Die Russen wurden aus allen wichtigen internationalen Gesprächen verdrängt.

So fühlte sich Russland, die einstige Führungsmacht im Osten, durch die Nato und deren Führungsmacht USA fortgesetzt betrogen und gedemütigt. Die Demütigung gipfelte darin, dass 2014 US-Präsident Obama Russland eine „Regionalmacht“ nannte. Den Versuch Boris Jelzins, Gorbatschows Nachfolger 1991, Russland als Beitrittskandidat für die Nato ins Gespräch zu bringen, quittierte die Nato mit Schweigen – genau wie Versuche, doch noch schriftliche Sicherheitsgarantien zu bekommen. Statt dessen wurde ein so genannter Kooperationsrat etabliert, in dessen Rahmen sich die Außenminister aller Staaten jährlich, die Botschafter alle zwei Monate austauschen sollen.

Nato-Osterweiterung seit 1999

Seit deren Beitritt zur Nato begannen die USA, in den östlichen Staaten Waffen zu stationieren, und zwar ohne die übrigen Nato-Mitglieder groß nach ihrer Meinung zu fragen. Als die Bush-Administration bereits mit Polen und Tschechien über die Stationierung einer Raketenbasis und einer Radaranlage verhandelte, waren die anderen Nato-Partner über Einzelheiten kaum informiert. Es wurde klar: Die USA würden das kontroverse Vorhaben durchziehen, ob mit oder ohne die Nato. Die „russische Dimension“ der Nato-Politik der US-Administration unter Bill Clinton wie unter George W. Bush bestand im Wesentlichen darin, Moskau auf Distanz zu allen wichtigen europäischen Sicherheitsfragen zu halten. 

Wladimir Putin hat genug

Nachdem Putin 2022 fast ein Jahr lang weit über 100 000 Soldaten und alle Arten von Angriffswaffen rund um die Ukraine positioniert hat, teilt er der Nato und ihrer Führungsmacht mit, was er erwartet: Die Nato soll zurück in ihre Grenzen von 1997. Die Ukraine soll auf keinen Fall Nato-Mitglied werden, Schweden und Finnland auch nicht. Und die baltischen Staaten sollen aus der Nato wieder ausscheiden. Die Nato und die USA, so Putin, haben Russland immer wieder betrogen. Inzwischen sei die Sicherheit des Landes nicht mehr gewährleistet.

Im Januar 2022 verfasst die Nato ein langes Papier, das alle russischen Vorwürfe entkräften soll. Darin wird unter anderem behauptet, die Nato habe über drei Jahrzehnte lang versucht, eine kooperative Zusammenarbeit mit Russland aufzubauen, könne diese Bemühungen aufgrund der russischen Aggressivität jetzt aber nicht mehr fortsetzen. Erst als die Ukraine schon bedrohlich im Norden und Osten umstellt ist, beginnt eine hektische Reisediplomatie. Die westlichen Führer, die Russland vorher weitgehend ignoriert haben, stellen sich bei Wladimir Putin in Moskau ein und beschwören ihn, die Ukraine nicht anzugreifen. Immer wieder wird er gebeten, das Minsker Abkommen von 2015 einzuhalten.

Aber es ist zu spät. Am 21. Februar 2022 verkündet der russische Präsident mit hassverzerrtem Gesicht, dass das Minsker Abkommen doch schon lange tot sei. Die Ukraine sei ein untrennbarer Teil Russlands, sagt der Präsident, und nimmt Bezug auf die Zeit, als die Fläche des Landes noch ohne eigenen Namen Teil des russischen Territoriums war. Die Ukraine habe nie eine „echte Staatlichkeit“ gehabt, sondern vielmehr Modelle kopiert, sagte Putin. Dort hätten heute Radikale und Nationalisten das Sagen – unter den Kuratoren des Westens, die das Land in die Sackgasse geführt hätten. Korruption und Machtkämpfe von Oligarchen würden verhindern, dass es den Menschen in der Ex-Sowjetrepublik besser gehe. In der Historie seien zudem Teile russischer Gebiete ohne Erlaubnis übernommen worden. Dazu gehöre auch die Donbass-Region. Tatsächlich ist die Ukraine das einzige Nicht-Mitglied, das an drei von der NATO geführten Militäroperationen (ISAF, KFOR und OAE) teilnimmt und als erster „Partner-Staat“ an einer NATO Response Force beteiligt war.

„Wir wissen, dass es bereits Berichte gab, die Ukraine wolle ihre eigenen Atomwaffen herstellen. Das ist keine leere Prahlerei“, sagte Putin. „Die Ukraine verfügt tatsächlich immer noch über sowjetische Nukleartechnologien und Trägersysteme für solche Waffen.“ Der Westen mit seiner „anti-russischen“ Ausrichtung unterstütze die Ukraine dabei. Die Nato treibe ihre Osterweiterung immer weiter voran, trotz zahlloser Versprechen, dies nicht zu tun. Auch der Eintritt der Ukraine sei bereits beschlossen. Trotz fehlender Beweise sprach der Präsident zudem von einem Massenverbrechen am russischstämmigen Volk in der Ostukraine. „Die sogenannte zivilisierte Welt zieht es vor, den von Kiew begangenen Genozid im Donbass zu ignorieren“, sagte er. Wikileaks publiziert einen Tag später US-Protokolle aus dem Jahr 2009, die beweisen, wie intensiv sich die Vereinigten Staaten bereits da mit dem Land beschäftigten.

Wladimir Wladimirowitsch Putin hat sich entschieden: Nachdem bei aller Reisediplomatie der Westen keinen Millimeter weit auf Russlands Sicherheitsbedürfnisse eingegangen ist, beendet er die Gespräche.

Ukrainischer Panzer und Soldat

Kriegerische Aktivitäten Ost/West seit 1945

Oft führen Verteidiger Russlands an, dass das Land im Gegensatz zu den USA nie Angriffskriege geführt habe. Wikipedia führt eine Liste der sowjetischen Militäroperationen. In Staaten, die nach der bei der Konferenz von Jalta beschlossenen Abgrenzung der Machtsphären unter sowjetischen Einfluss gekommen waren, wurden kommunistische Regierungen durchgesetzt. Dies war in den meisten Ländern nur mit Hilfe der Roten Armee möglich (siehe zum Beispiel „Geschichte Polens“). Die Konsolidierung des sowjetischen Einflusses in dieser Region war etwa 1948 abgeschlossen. Danach ging es um die Konsolidierung der russischen Einflusszone. Oft standen und stehen sich in den folgenden Jahrzehnten russische und amerikanische Truppen in Stellvertreterkriegen gegenüber. Hier ein Auszug der Jahre 1945–1948:

NATO-Flaggen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA in zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt und führten mehrere Angriffskriege, wie eine Liste auf Wikipedia aufzeigt:

Da war die Verteidigung Südkoreas gegen den Norden, der Korea-Krieg von 1950 bis 1953. Es folgten Krisen am Suezkanal und in Ägypten, der Bürgerkrieg in Laos von 1964 bis 1970, der Vietnam-Krieg von 1964 bis 1975. 1965 intervenierten die USA im Bürgerkrieg in der Dominikanischen Republik, ebenfalls 1965 bombardierten sie kambodschanische Grenzdörfer zu Vietnam und zogen das Land in den Vietnamkrieg. 1967 spürten die USA Che Guevara in Bolivien auf und töteten ihn. 1970 griffen die USA Kambodscha an, um den Rückzug ihrer Truppen aus Vietnam zu sichern. Nach Interventionen in Jordanien und Angola unterstützen sie von 1977 bis 1992 die Regierung von El Salvador gegen marxistische Rebellen. Ab 1979 unterstützten die USA die Mujahedin in Afghanistan gegen die dortige kommunistische Regierung.

1980 scheiterte der Versuch, amerikanische Geiseln aus der Botschaft im Iran zu befreien. Ab 1982 wurden Contras, von Honduras aus operierende Gegner der Sandinisten in Nicaragua, von den USA unterstützt. 1983 bis 1986 gab es Interventionen im Libanon, auf Grenada und in Syrien. Am 3. Juli 1988 wurde der Flug Iran-Air-655, ein Passagierflugzeug vom Typ Airbus A300 der Iran Air, über der Straße von Hormus vom Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes (CG-49) abgeschossen. 1990 wurde die Besatzung Kuwaits durch den Irak beendet. Schon ab 1990 bereiteten die USA ihren Einmarsch in den Irak vor, der am 20. März 2003 erfolgte. Dazwischen lagen Aktionen wie die Einrichtung einer Flugverbotszone für den Irak und der Angriff von amerikanischen Kriegsschiffen auf Baghdad. US-Soldaten beteiligten sich am 1992 und 1999 am Jugoslawienkrieg gegen die Serben, versuchten von 1990 bis 1992, den somalischen Bürgerkrieg zu beenden, intervenierten 1994 in Haiti und bombardierten 1998 im Sudan eine vermeintliche Giftgasfabrik, die jedoch tatsächlich Arzneimittel herstellte.

Im November 2001 marschierten die USA in Afghanistan ein, von wo sie sich erst 2021 unrühmlich zurückzogen. 2003 folgte die Invasion in den Irak, wo Saddam Hussein aus dem Amt entfernt wurde. 2004 gab es Interventionen in Somalia und Haiti. Im Frühjahr 2011 marschierten die USA in Lybien ein, um den Muammar al-Gaddafi zu entmachten. 2014 beteiligten sie sich in Uganda an der Suche nach dem Kriegsverbrecher Joseph Kony, 2014 waren sie in Liberia an der Bekämpfung der Ebola-Epidemie in Westafrika aktiv. Ebenfalls seit 2014 bekämpften amerikanische Soldaten im Nahen Osten die islamische Miliz, seit 2015 sind sie im Jemen-Krieg aktiv. 2017 und 2018 wurden Luftangriffe auf Syrien geflogen, am 2. Januar 2020 wird der iranische General Quassem Soleimani mit einer Drohne getötet.

„Staatsfeinde“ beseitigen beide Mächte auf ihre Art: Russland bevorzugt die Vergiftung eigener Bürger, auch auf dem Boden fremder Staaten. Die USA drangen beispielsweise mit Spezialtruppen in Pakistan ein, ohne die dortige Regierung zu informieren, und töteten Osama bin Laden. Auch andere unliebsame Personen fielen Drohnenangriffen zum Opfer. Drohnenangriffe und drohnengestützte Kriege werden vielfach über Ramstein in Deutschland koordiniert, was zu Protesten der deutschen Bevölkerung führt. Die deutsche Regierung hat diese Aktivitäten noch nie kommentiert. Die amerikanischen Truppen sind weder nach dem Zweiten Weltkrieg, noch nach dem Zwei plus Vier-Vertrag aus Deutschland abgezogen. Noch immer sind hier Atomwaffen stationiert. Inzwischen wird von den USA, ebenso wie von den Europäern von Deutschland eine stärkere Aufrüstung und aktivere Rolle bei Kriegseinsätzen erwartet.

Der Mensch Wladimir Putin

Wladimir Wladimirowitsch Putin wurde am 7. Oktober 1952 in Leningrad (heute wieder St. Petersburg) als jüngster von drei Brüdern geboren. Seine beiden älteren Brüder waren da schon gestorben. Der schmächtige, schüchterne Junge wuchs in der Hinterhofatmosphäre eines einfachen Hauses auf und wollte schon als Kind Geheimagent werden. Um gegen die größeren Jungen zu bestehen, lernte Putin schon in seiner Jugend Judo. Er trägt den schwarzen Gürtel.

Nach dem Abitur studierte der junge Mann Jura und wurde noch während des Studiums vom KGB angeworben. Am Tag als die Mauer fiel und die Bürger der DDR die Stasi-Zentrale stürmten, hatte der 37jährige, knapp 1,70 Meter große Oberstleutnant Putin Nachtschicht als diensthabender Offizier im Gebäude des russischen Geheimdienstes in Dresden. Er schaffte es, die Menschen am Eindringen ins Haus zu hindern, indem er unmissverständlich mit Waffengewalt drohte. In dieser Nacht bat der Offizier in Moskau um Hilfe – aber es kam keine Antwort. Das schockierte ihn zutiefst.

Putin spricht fließend deutsch und mag die deutsche Kulturgeschichte. Aber als die Mauer fiel und nach massiven Versorgungsnotständen die Sowjetunion zerbrach, war das für ihn persönlich ein Supergau. Alles, woran er geglaubt hatte, das System, dessen Teil er war, gab es nicht mehr; das war, als ob der den Boden unter den Füßen verlor. Das Verhalten der Moskauer Regierung beim Mauerfall diagnostizierte er für sich selbst als Krankheit, als eine Lähmung der Macht. Wachsam, stark und immer misstrauisch zu sein wurde zu seinem Lebensmotto. Der Film Mensch Putin! des ZDF aus dem Jahr 2015 schildert das sehr eindringlich.

Der Umgang des KGB-Offiziers mit Frauen war hölzern und linkisch. Als er seiner Frau Ljudmila Schkrebnewa den Heiratsantrag machte, dachte diese zuerst, er wolle sich von ihr trennen. Später schlug und betrog er sie regelmäßig, trank außerdem viel, wie die Stasi-Akten Dresden festgehalten haben. Dennoch hielt die Ehe 30 Jahre lang und endete erst kurz vor der Annektierung der Krim. Die beiden haben zwei Töchter, Maria Vorontsova und Katerina Tikhonova. Zurück in Russland fand Waldimir Putin in einem reichen, gut vernetzten Oligarchen und Präsident Boris Jelzin einen Förderer. 1998 ernannte ihn dieser zum Chef des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB (Inlandsgeheimdienst), und später, als es ihm schon sichtlich schlecht ging, als seinen Nachfolger. Nach etlichen Jahren als Ministerpräsident wurde Putin im Jahr 2000 erstmals Präsident Russlands. Inzwischen hat er das Gesetz ändern lassen und kann jetzt bis 2036 weiter regieren.

Seine Jugenderfahrungen und die beim Zusammenbruch der Sowjetunion haben Wladimir Putin gelehrt, an das Recht des Stärkeren zu glauben. Dazu gehört, dass er sich selbst gern als stark präsentiert, etwa mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, aber auch seine absolute Kontrollsucht. Logische Folge ist, dass er auf Staatswirtschaft setzt. Zur Demonstration der Stärke gehört auch, dass der Präsident Staatsgäste gern warten lässt. Mehrere Stunden sind keine Seltenheit. Der Präsident schläft schlecht und steht morgens spät auf. Nach dem Frühstück (er liebt Hüttenkäse) geht er schwimmen, danach ins Fitness-Studio (in dem amerikanische Geräte stehen). Je älter er wird, desto mehr Sport treibt er.

Mindestens fünf Attentatsversuche auf den Präsidenten wurden von westlichen Geheimdiensten registriert. Diese Bedrohungslage intensivierte Putins Kontrollwut weiter. Auf Reisen hat er stets einen eigenen Koch dabei, der dafür sorgen soll, dass er nicht vergiftet wird. Er stilisiert sich als wehrhaften einsamen Wolf, der er, so der Kommentator im ZDF-Film, auch ist. Macht und Stärke will er nicht nur für sich selbst, sondern auch für sein Land. Der Präsident rüstet die Armee von Grund auf neu aus mit modernsten Geräten. Er sucht Respekt und Augenhöhe im Umgang mit den Amerikanern. Er bewundert gleichermaßen Stalin und das Zarenreich. Seine Führungsriege ist rein männlich, besteht zur Hälfte aus Personen mit KGB-Hintergrund. Der innere Kreis besteht aus weniger als zehn Männern. Trotzdem weiß kaum jemand, was Wladimir Putin vor hat. Er ist geheimnistuerisch und ein Taktiker, variiert sein Handeln notfalls von Tag zu Tag.

Belege für das Privatvermögen des Präsidenten gibt es nicht. Er selbst stilisiert sich gern als einfachen Mann, während die Opposition ihn als Multimilliardär und Großaktionär mit mehreren großen Anwesen sieht. Proekta will errechnet haben, dass sich das Vermögen des Präsidenten auf 186 Milliarden Euro beläuft. So gehört ihm angeblich die rund 33 Millionen Euro teure Yacht „Olympia“, eine Flotte von Privat-Jets sowie unzählige Luxus-Autos. Auch in Immobilien habe er kräftig investiert. Seit 2008 ist Wladimir Putin mit der Ex-Athletin Alina Kabaeva liiert (geboren 12. Mai 1983). Diese soll 2015 ein erstes Kind zur Welt gebracht haben und ist seit 2018 aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie soll Zwillinge zur Welt gebracht haben und in der Schweiz leben. Der Präsident legt größten Wert darauf, sein Privatleben geheim zu halten. Angeblich zahlt er einen Unterhalt von neun Millionen Euro jährlich nicht nur an Kabaeva, sondern auch an eine ehemalige Putzfrau namens Svetlana Krivonogikh, deren 18jährige Tochter inzwischen ein eigenes Modelabel hat und als DJ arbeitet.

In seiner bemerkenswerten Karriere hat Wladimir Wladimirowitsch Putin alles erreicht, was er erreichen wollte. Außer einem Punkt: Dem Respekt und der Anerkennung als gleichwertigen Führer einer Supermarkt durch die USA. Das und die Tatsache, mit zweierlei Maß gemessen zu werden, sitzt wie ein giftiger Stachel in seinem Herzen. So kommentierte er zum Thema Krim, dass der Westen das Völkerrecht grundsätzlich auslege, wie es ihm passe. Wenn es in Ordnung war, völkerrechtswidrig in den Irak einzumarschieren, warum sollte es dann verurteilt werden, die Krim zu annektieren?

Der Präsident meint es todernst mit der Ansicht, dass die Ukraine ein Teil Russlands sei – ebenso mit dem zunehmenden Gefühl der Bedrohung durch die Nato-Osterweiterung. Außerdem hat der fast 70jährige – ähnlich wie ein pubertierender Jugendlicher – entschieden: Wenn der Westen ihn nicht liebt, dann soll er ihn eben hassen. Aber er wird lernen, Wladimir Putin zu respektieren.

Lehren aus der Entwicklung

Deutschland hat im kollektiven Unterbewusstsein seine Rolle als mit großer Schuld beladener Verlierer zweier Weltkriege tief verankert. Über Jahrzehnte haben die Nation und ihre Führung, egal welcher Couleur, alle militärische Verantwortung an die Schutzmacht USA und im Zweifel auch an wehrhafte Nachbarstaaten wie Frankreich abgegeben. Die Beschränkung auf passive Verantwortung bei Einsätzen führte immer wieder zu der bitteren Erkenntnis, alleine absolut nichts ausrichten zu können. Das wird zunehmend peinlich, wie die Beispiele des Abzugs aus Afghanistan oder aktuell aus Mali deutlich machen. Seit Jahren fordern die Verbündeten Deutschland auf, mehr Geld in eine bessere Ausstattung der Bundeswehr zu stecken, was eher halbherzig getan wird. So musste die neue Verteidigungsministerin Lambrecht erst vor wenigen Tagen zugeben, dass die Bundesrepublik nicht über genügend Vorräte verfügt, um der Hilfe suchenden Ukraine die gewünschten Mengen an Ausrüstung zu schicken. Die Ausrüstung reiche gerade eben, um die Auslandseinsätze mitmachen zu können.

Es ist Zeit für eine Veränderung. Deutschland muss aufrüsten. Wir brauchen eine europäische Streitmacht. Nur wenn Europa in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, kann verhindert werden, dass wie zur Zeit die USA und Russland über eine „Sicherheitsstruktur Europas“ streiten, ohne die Europäer auch nur zu fragen, oder dass die USA ein Wirtschaftsabkommen Deutschlands mit einem anderen Staat einfach als beendet erklären. Anmaßungen wie diese können sich die Amerikaner leisten; wissen sie doch, dass Europa und Deutschland ihre Hilfe brauchen, um ihre Freiheit zu gewährleisten.

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ (Schiller), ist ein Sprichwort, dessen Wahrheit gerade peinlich aktuell ist. Deutschland muss raus aus seiner pazifistischen Grundhaltung und hinein in ein gesundes Misstrauen. Es muss eine wehrhafte Verteidigungs-Mentalität entwickeln. Wer ernst genommen werden will, muss sich erwachsen verhalten.

Die USA haben etwa 330 Millionen Einwohner, Russland rund 145 Millionen. Auch ohne Großbritannien zählt Europa noch 446 Millionen Einwohner. Europa hat eine starke Wirtschaft und Innovationskraft. Das Ziel muss jetzt sein, nicht ständig neue Mitglieder aufzunehmen und zu finanzieren, sondern die jetzigen so zu einen, dass eine gemeinsame (Verteidigungs-)politik ohne ständige Störfeuer möglich wird. Dazu gehört, dass es keine Mitglieder geben darf, die zwar von finanzieller Förderung profitieren wollen, aber die Grundwerte Europas nicht oder nur teilweise teilen. Wir brauchen eine andere Mentalität: Man kann Dissonanzen endlos diskutieren, bis die ungeliebten Fakten nicht mehr umkehrbar sind. Man kann aber auch Regeln aufstellen, die gemeinsames Handeln sichern. Das ist kein fehlendes demokratisches Bewusstsein, sondern eine Notwendigkeit, wenn sich Europa nicht selbst lähmen will.

Es ist an der Zeit.

JETZT.

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Updates:

Am Ende von Tag eins der Invasion zeigt sich die Lage noch unübersichtlich. Es gibt offenbar nur wenige Angriffe auf private Gebäude, statt dessen geht es den Russen darum, die zivile und militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören. Es gab heftige Kämpfe um die Ruine des Atomkraftwerks Tschernobyl, die von den Angreifern erobert wurde. 137 Ukrainer sind tot.

In Russland selbst gab es trotz Verbots und der Androhung von Gefängnis in vielen Städten Demonstrationen gegen den Krieg. Bisher wurden rund 1700 Demonstranten inhaftiert. Wladimir Putin hat erklärt, dass er die Ukraine demilitarisieren und die „Marionettenregierung des Westens“ vor Gericht stellen werde. Das weckte Besorgnis um das Leben von Präsident Selensky. Die ukrainische Armee kämpft mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln weiter gegen die Aggressoren, steht jedoch auch weiterhin allein da. Der Westen versichert wortreich seine Solidarität, rührt aber keinen Finger.

Die USA schicken weitere 7 000 Soldaten nach Deutschland. Die Nato verstärkt ihre Ostflanke mit Soldaten und Material. Allerdings hat sie nicht rechtzeitig daran gedacht, auch die Küsten des Schwarzen Meeres zu sichern, das von der russischen Flotte beherrscht wird. Die EU und die USA haben in einer konzertierten Aktion eine neue Welle von Sanktionen verkündet, die darauf abzielen, russischen Banken Handel und Refinanzierung im Ausland zu verwehren, den Export technischer Bauteile nach Russland zu verbieten, die Visa-Bedingungen einzuschränken und die Vermögen weiterer ausgesuchter Einzelpersonen einzufrieren. Bisher wurde auf Wunsch Deutschlands Russlands nicht vom SWIFT-Bankenverkehr ausgeschlossen. Gazprom liefert weiterhin 40 Prozent des in Europa benötigten Gases.

Das Bitcoin Wallet eines ukrainischen Wohlfahrtverbandes erhielt eine Spende im Wert von 700 000 Dollar. Russland darf weiterhin am Grand Prix d’Eurovision in Italien teilnehmen. Als ein russischer Öltanker seine Ladung nicht verkaufen konnte, weil die Trader Sanktionen fürchteten, wurde das Öl zum Discountpreis auf den Markt geworfen. Zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine sind inzwischen in den westlichen Nachbarländern angekommen. Aus Polen, das sich bisher geweigert hat, zusammen mit der EU Flüchtlinge aufzunehmen, verlautete jetzt, dass man selbstverständlich alle benötigte Hilfe leisten werde. Ein amerikanischer Historiker deutet den Angriff Putins als „Verzweiflungsakt“, damit der Westen endlich Russlands Sicherheitsängste angesichts der steten Nato-Osterweiterung ernst nimmt.

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Am Ende von Tag zwei sitzt Präsident Volodymyr Selensky in einem Bunker irgendwo in Kiew und erwartet den Untergang seines Landes. Inzwischen ist ihm klar, dass er selbst eins der wichtigsten Ziele ist, die mit diesem Krieg zumindest aus dem Amt, vielleicht auch aus dem Leben eliminiert werden sollen. In der Nacht kommt er mit weiteren Regierungsmitgliedern heraus, um ein Video für die sozialen Medien aufzunehmen. Man stehe zum ukrainischen Volk und werde es nicht verlassen, ist die Botschaft. Selensky erwartet, dass Russland heute nacht Kiew stürmt. Noch immer gibt es weder einen rechten Überblick über die Kämpfe und kaum Bilder. Die Einwohner der 2,3 Millionen-Stadt, die nicht geflüchtet sind, suchen mangels Bunkern in der U-Bahn Schutz.

Der IWF will der Ukraine keine Kredite mehr geben, weil Moskau in Kiew steht. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tritt auf Antrag der Amerikaner zusammen. Es soll eine Resolution gefasst werden, die den russischen Angriff auf die Ukraine verdammt. Russland als ständiges Mitglied legt sein Veto ein. China, Indien und die Emirate enthalten sich. Das bedeutet: Russland steht alleine da. Die EU und die USA konferieren erneut und verabschieden ein zweites Maßnahmenpaket an Sanktionen, nicht jedoch den Ausschluss aus Swift. Dieser wird heftig diskutiert. Aber da er bedeutet, dass dann wohl auch Gas und Öl aus Russland nicht mehr kommen, zögern alle.

Immerhin ist man stolz, jetzt auch Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergei Lavrov persönlich zu sanktionieren. Putin hat wegen der Sanktionen „asymmetrische Gegenmaßnahmen“ angekündigt. Außenministerin Annalena Baerbock glaubt, dass die Sanktionen Russland ruinieren werden. Ein Banker aus Österreich, der dem ZDF ein Interview gibt, lächelt und sagt: „Die Maßnahmen bewirken gar nichts“. Das Magazin Forbes fragt: „Und was passiert, wenn China jetzt Taiwan annektiert?“

Die USA wollen jetzt Hilfe im Wert von 6,8 Milliarden Dollar schicken. Über 50 000 Flüchtlinge haben die westlichen Nachbarn erreicht. Eine der zahlreichen polnischen Helferinnen sagt: „Natürlich helfen wir. Wer weiß, wann wir an der Reihe sind…“. Präsident Selensky hat Putin um neue Gespräche gebeten. Nachdem dieser erst abgesagt hat, sagt er jetzt zu. Nun wird um Termin und Ort verhandelt. Belarus hat sich angeboten. Der Westen ist alarmiert über die Rolle Belarus‘ in diesem Krieg.

Die Nato hat ihre schnelle Eingreiftruppe aktiviert, um Russland abzuschrecken. Dazu gehören bis zu 40 000 Soldaten, davon 13 500 aus Deutschland. Vorerst soll aber nur die „besonders schnelle Eingreiftruppe“ in die östlichen Nato-Länder geschickt werden. Die sogenannte Nato-Speerspitze wird zurzeit von Frankreich befehligt. Ihr gehören 750 deutsche Soldaten an. In Deutschland wird diskutiert, ob die Bundeswehr im Angriffsfall das Land verteidigen könnte. Die Antwort ist ein klares Nein. Es hapert an allem, sogar an warmer Unterwäsche und Winterjacken. Geplant ist, deutsche „Patriot“-Flugabwehrsysteme in die Slowakei zu bringen. Am Samstag sollen das Aufklärungsschiff „Alster“ der Marine auslaufen, außerdem eine Corvette und eine Fregatte. Deutsche Flugzeuge helfen bereits beim Betanken der Kampfjets in der Luft. Auch die deutsche Präsenz in Litauen wird erneut verstärkt.

Russland droht Finnland und Schweden mit ernsten politischen und militärischen Konsequenzen, sollten sie der Nato beitreten. Alle wichtigen Großveranstaltungen wurden dem Land inzwischen entzogen. Es darf nun auch nicht mehr beim Grand Prix d’Eurovision teilnehmen. Ukrainische Männer bis 60 Jahre dürfen nicht mehr ausreisen, sie sollen ihr Land verteidigen. Auslands-Ukrainer kehren heim, um zu kämpfen. Angeblich fällt es den russischen Soldaten schwer, gegen ihre „Brüder“ zu kämpfen. Ein kompletter Zug soll sich geweigert haben. Das ukrainische Militär will über 1000 russische Soldaten getötet haben. Wladimir Putin hat sich wiederholt an das ukrainische Militär gewendet und an die Soldaten appelliert, aufzugeben. Der chinesische Außenminister sagt, man respektiere sowohl die Souveränität der Ukraine, als auch Russlands Sicherheitsbedenken.

Tag drei ist von Erstaunen geprägt. Darüber, wie intensiv und hoch motiviert die Ukraine Widerstand leistet. Darüber, wie der Präsident, eigentlich Komiker von Beruf, sich zum echten Landesvater entwickelt hat, der sich mit Selfies der russischen Propaganda entgegenstellt und seinen Landsleuten immer wieder Mut macht. In Deutschland war es ein Tag des Erwachens. Es war eine Fehleinschätzung, zu glauben, dass man Russland mit Diplomatie Einhalt gebieten kann, gibt Kanzler Scholz zu. Die Regierung handelt folgerichtig: 1000 Panzerfäuste und 500 Stinger-Raketen werden zusammen mit 10 000 Tonnen Treibstoff zur Ukraine geschickt. Den Niederlanden und Estland wird außerdem erlaubt, deutsche Waffen weiter zu reichen. Botschafter Andrij Melnyk, der in den letzten Tagen unermüdlich um Waffen gebeten hatte, nennt das einen „historischen Schritt“.

Russlands Platz im Europarat wurde vorläufig suspendiert; die Regierung schäumt. Laut Ministerpräsident Dmitry Medvedev denke man darüber nach, die diplomatischen Beziehungen zur EU und zu den USA abzubrechen und die Todesstrafe wieder einzuführen. Die Ukraine behauptet, ihre Streitkräfte hätten bislang 3500 russische Soldaten getötet und 200 gefangen genommen. Zudem seien 14 Flugzeuge, acht Hubschrauber, 102 Panzer und mehr als 530 weitere Militärfahrzeuge zerstört worden. Zahlen, die sich nicht überprüfen lassen. Laut Ministerpräsident Dmitry Medvedev denkt Russland darüber nach, die diplomatischen Beziehungen zur EU und zu den USA abzubrechen und die Todesstrafe wieder einzuführen.

Russische Soldaten haben offenbar Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen der Lage vor Ort und der Propaganda ihrer Regierung einzuordnen und sind überrascht von dem heftigen Widerstand. Putin behauptet, die gesamte Ukraine und am besten ganz Europa müsse „entnazifiziert“ werden. Vor dem Hintergrund, dass der ukrainische Präsident ein Jude ist, wirkt das nicht nur zynisch, sondern auch widersinnig. Anonymous-Hacker haben russische Regierungsseiten lahmgelegt. Weltweit protestieren Zehntausende gegen den Angriffskrieg. Zumindest teilweise wurde heute nach der Meinungsänderung Deutschlands von der EU auch beschlossen, Russland vom Zahlungssystem Swift abzukoppeln. Vorerst betrifft das aber nur die Banken, die bereits sanktioniert wurden. Das heißt, über andere russische Banken kann normal Zahlungsverkehr stattfinden. Als es Nacht wird, werden aus Kiew schwere Detonationen vermeldet. Eine Gas-Pipeline nahe Kiew soll getroffen sein.

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Tag vier: 352 Zivilisten in der Ukraine sind tot, darunter mindestens 16 Kinder. Wenn die Angaben der Ukraine zutreffen, sind das weniger als zehn Prozent der 4 300 russischenToten. Russland gab das heute erstmals Verluste öffentlich zu. 400 000 Ukrainer haben inzwischen die Grenzen zu Nachbarländern überschritten und werden überall engagiert betreut. Seit 24 Stunden brennt ein Öllager nahe Kiew. Seit zwei Tagen braut die Pravda-Brauerei in Lviv kein Bier mehr, sondern stellt Molotov-Coctails her. Damit sind auch zahlreiche Privatleute beschäftigt. Die Russen zerschießen gezielt die Infrastruktur des Landes. Nun stellt Elon Musk sein Starlink-System zur Verfügung, um das Internet zu sichern.

Wladimir Putin hat Stufe zwei eines Angriffskrieges ausgerufen und die „Abschreckungswaffen“ des Landes in Alarmbereitschaft versetzt. Dazu zählen ballistische Raketen mit konventionellen Sprengköpfen, moderne Marschflugkörper und Kurzstreckenraketen, Hyperschallraketen und Atomwaffen. Belarus hat ein Referendum abgehalten und erlaubt Russland nun, Atomwaffen auf seinem Staatsgebiet aufzustellen. 65,06 Prozent der Teilnehmenden waren dafür. Im Referendum wurde auch gleich über lebenslange Straffreiheit für Lukaschenko abgestimmt. Über 2000 Menschen in Russland wurden inzwischen wegen verbotener Demonstrationen inhaftiert. Meist stehen sie einfach auf Plätzen herum, auf denen niemand herumstehen soll. Über 100 000 Menschen haben heute in Berlin für den Frieden demonstriert. Europa hat seinen Luftraum für russische Airlines und Privatflugzeuge gesperrt.

Friedensdemonstration in Berlin

In Deutschland gab es eine geschichtsträchtige Zeitenwende, die in den internationalen Medien erheblichen Niederschlag gefunden hat: Bundeskanzler Olaf Schulz und seine Regierung haben öffentlich eingestanden, dass ihre Appeasement-Politik naiv war und machen eine Kehrtwendung um 180 Grad. Die Bundeswehr soll ab sofort gezielt ausgerüstet werden, wofür noch dieses Jahr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro gebildet wird. Künftig werde man die zwei Prozent-Regelung der Nato für den Wehretat nicht nur erfüllen, sondern noch mehr als das investieren, damit Deutschland verteidigt werden kann. Der ukrainische Botschafter, der sich so unglaublich für sein Land einsetzt, wird in der Sondersitzung des Bundestages mit langem, stehendem Applaus geehrt.

Aber noch immer lässt der Druck auf Deutschland nicht nach: Man müsse vollständig aus Swift aussteigen, auch wenn das sehr weh tue, fordern Stimmen im In- und Ausland. Deutschland bezieht nicht nur Öl und 50 Prozent seines Gasverbrauches aus Russland, sondern auch 50 Prozent der Kohle, die in den Kohlekraftwerken verbraucht werden. Bei einem vollständigen Ausstieg aus dem Zahlungssystem der Banken wird es unmöglich, die Energie zu bezahlen – man wird also auf sie verzichten müssen. Deshalb sollen nun so schnell wie möglich zwei neue Flüssiggas-Terminals gebaut werden. Die CDU/CSU unterstützt die Haltung der Bundesregierung, nur die Linken und die AfD sind dagegen. Die Reihen sind geschlossen wie selten.

Putin hat der Ukraine Friedensgespräche angeboten – in Belarus. Genau dorthin, so die umgehende Antwort von Landesvater Selensky, werde man auf keinen Fall kommen. Man einigt sich auf einen Ort unmittelbar an der Grenze. Aber die russische Delegation ist nur mittelklassig mit Putin-Gefolgsleuten besetzt, und Selensky erwartet keine Fortschritte. Die EU-Außenminister schicken 450 Millionen zum Kauf von Waffen. die anonymen Krypro-Spenden summieren sich inzwischen auf 12 Millionen Euro. Das Auslandsvermögen der russischen Zentralbank ist eingefroren. Im Gegenzug hat diese ausländischen Tradern verboten, russische Sicherheiten zu verkaufen. Die EU will die russischen Staatsmedien Sputnik und RT verbieten. Der Euro und der Rubel fallen an den Börsen. Die USA und Frankreich haben ihre Bürger aufgerufen, Russland zu verlassen.

Weltweite Verteilung der Atomwaffen

Tag 5: Rasante Auswirkungen der Sanktionen: Die russische Zentralbank kann an westlichen Finanzmärkten nicht mehr handeln. Der Rubel stürzt zeitweise um bis zu 40 Prozent ab. Die Zentralbank verdoppelt den Leitzins auf 20 Prozent, um den Geldabfluss zu stoppen. Etwa 15 Prozent der Einlagen in Russland wurden in Devisen getätigt. Die Ausfuhr von Devisen wird verboten. Das Bargeld an den Automaten wird knapp. Die russische Börse ist geschlossen. Kryptowährungen scheinen der letzte Ausweg zu sein. Ausländische Unternehmen ziehen sich in Rekordgeschwindigkeit aus Russland zurück. Sie verkaufen Anteile, kündigen Kooperationsverträge auf und machen sich Sorgen darüber, was aus ihren Mitarbeitern vor Ort wird. Der russischen Bevölkerung wird langsam bewusst, dass Zeiten des Mangels anbrechen. Die großen Gewinner der Kriege sind die Rüstungsunternehmen.

Nachdem EU-Kommissionspräsidentin gestern den EU-Beitritt der Ukraine befürwortete, folgte heute der schriftliche Beitrittsantrag von Präsident Selensky. Während der Rede des Präsidenten bricht eine Dolmetscherin im Fernsehsender Welt in Tränen aus und kann nicht weiter arbeiten. Russland hatte erwartet, die Ukraine viel schneller zu besiegen. Am Samstag veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur versehentlich einen Jubelbericht darüber, dass Russland seine Einheit wiederhergestellt habe, bevor dieser schnell wieder gelöscht wurde. Reuters schreibt, dass diese Krise Deutschland dazu gebracht habe, seine Rolle als globale Macht nun anzunehmen. Die Schweiz hat sich entschlossen, ihren neutralen Status aufzugeben und schließt sich den Sanktionen an. Die Türkei schließt den Bosporus und die Dardanellen. Kriegsschiffe dürfen nicht mehr passieren. Die USA entscheiden, russisches Öl nicht zu sanktionieren, da dies nur die amerikanischen Kunden treffe, nicht aber Putin. Russland vereinbart einen Riesendeal mit China über die Lieferung von Öl und Gas in den nächsten 25 Jahren im Wert von 100 Milliarden Euro.

Russland wird von allen sportlichen Großveranstaltungen ausgeschlossen, Sport-Sponsorenverträge mit russischen Unternehmen werden gekündigt. Sogar IOC-Chef Thomas Bach, der vor kurzem noch der chinesischen Regierung huldigte, kann sich nicht ausschließen. Nachdem der Kölner Rosenmontagszug eigentlich schon abgesagt war, entschlossen sich die Karnevalisten kurzfristig, einen Friedensumzug zu organisieren. 250 000 Menschen kamen, teilweise kostümiert, aber nicht in Alaaf-Laune. Vor wenigen Tagen konnte der Weltsicherheitsrat Russland nicht verurteilen, weil dieses sein Veto dagegen einlegte. Heute begann nun eine Vollversammlung der 193 Nationen, die zur UNO gehören. Wegen sehr vieler Redebeiträge wird sie mehrere Tage dauern. Mit Spannung wird die Abstimmung erwartet, auch wenn sie keine rechtlichen Auswirkungen hat.

Der Vertreter der Ukraine, Oksana Markarova hat in einer Wutrede Wladimir Putin empfohlen, sich wie Hitler selbst zu beseitigen. Russland habe eine Vakuum-Bombe benutzt, sagte er. Diese Bomben saugen Umgebungs-Sauerstoff an, um dann eine extrem heiße Explosion folgen zu lassen. Sie sind als „Vater aller Bomben“ von der Genfer Konvention verboten. Anonymous-Hacker greifen russische Regierungsseiten an. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag nimmt eine Klage gegen Putin wegen Verletzung der Menschenrechte und Kriegsverbrechen an. Es werden inzwischen mindestens 406 zivile Tote verzeichnet.

Russland attackiert die Ukraine immer aggressiver und nimmt kaum noch Rücksicht auf Zivilisten. Am stärksten umkämpft ist zurzeit Kharkiv an der Ostgrenze. Das erste Treffen zu Friedensgesprächen endete ohne Ergebnis. Putin erklärte, er erwarte, dass die Ukraine die Krim als russisch anerkenne und selbst entmilitarisiert werde. Das Verhalten des russischen Präsidenten erscheint zunehmend unberechenbar. Die Amerikaner vermeiden es deshalb, ihre eigenen Abschreckungswaffen ebenfalls in Alarm zu versetzen. Die Geheimdienste haben bisher keine Veränderungen an den Stellungen der russischen Atomwaffen bemerkt. Die Angriffe konzentrieren sich auf die Großstädte der Ukraine. Dort gibt es jetzt teilweise Probleme mit der Wasserversorgung und Nahrungsversorgung. In Deutschland werden Hilfssendungen gepackt. Viele Millionen Spenden für die ukrainische Bevölkerung sind bereits zusammen gekommen. Die Ukraine bietet russischen Soldaten 40 000 Euro pro Mann dafür an, dass sie nicht kämpfen.

Tag 6: Heftige Debatten in der UN-Vollversammlung über das Verhalten Russlands. Aber es scheint recht viele Nationen zu geben, die das Land nicht verurteilen wollen. Die ersten 1300 Flüchtlinge sind in Deutschland angekommen, mehr werden folgen. Es wird befürchtet, dass bis zu vier der 40 Millionen Ukrainer flüchten werden. Russland kommt mit seinem Krieg nicht wie gewünscht voran, entsprechend brutaler wird es. Nicht nur der Fernsehturm und die Holocaust-Gedenkstätte in Kiew werden zerstört, es geht auch immer öfter gegen Wohnblocks, in der Nacht sogar gegen ein Krankenhaus in Kharkiw. Die Landfläche gegenüber der Krim scheint gefallen und die Krim von Russland aus auf dem Landweg erreichbar. Liest man die Tweets der russischen Nachrichtenagentur Tass, fühlt man sich wie in einem völlig anderen Film, so unterschiedlich sind die „Informationen“. Da steht etwa: „Russland kann nicht anders als zu handeln, bevor die Ukraine eine Nuklearmacht wird,“ oder „Die Befreiung des Donbass macht Fortschritte.“ Da steht auch: „Die Ukrainische Armee verlässt ihre Posten und legt die Waffen nieder.“ Auf twitter tauchen bots auf, die die Ukraine diffamieren. Präsident Selensky beweist sich als extrem kluger Kommunikator: Über alle Social Media-Kanäle sendet er Selfies von sich und seinem Kabinett und widerlegt falsche Behauptungen.

Immer mehr Firmen kappen ihre Kontakte zu Russland. Es kommt auch zu Ausgrenzungen einzelner Personen in Deutschland: So darf die Opernsängerin Anna Netrebko in Bayern nicht wie geplant auftreten, und der weltweit als einer der besten Dirigenten bekannte Valery Gergiev wird an der bayrischen Staatsoper entlassen, jeweils wegen mangelnder Distanz zum russischen Verhalten. Supermarktketten boykottieren Vodka, was den vielen Russlanddeutschen nicht gefallen wird. Alle Mitarbeiter des Altkanzlers Gerhard Schröder haben gekündigt, weil er sich nicht von seinen russischen Ämtern und der Freundschaft zu Putin distanziert. Darunter ist auch sein langjähriger Redenschreiber.

400 Söldner der Gruppe Wagner suchen Präsident Selensky in Kiew, um ihn zu töten. Historiker und Militärs sagen, die massiven Waffenlieferungen der EU und anderer Nato-Staaten an die Ukraine könnten wirken wie ein erster Schritt eines Nato-Einsatzes gegen Russland, und die Grenze sei schmal. Ein 60 Kilometer langer Militärkonvoi der Russen steht kurz vor Kiew. Die Ernährungslage der Russen scheint schlecht zu sein; es kursiert ein Video, das eine Gruppe beim Plündern eines Lebensmittelmarktes zeigt. Elon Musk liefert die erste Hardware für sein Starlink-Internet. Nicht bekannt ist, ob er auch die Preise erlässt, denn billig ist Starlink nicht: Die einfache Antenne kostet schon 500 Dollar, dazu kommen monatlich weitere 100. Es macht so schrecklich müde: Die ständigen gegenseitigen Anschuldigungen, diese Gier nach Macht, diese steten Versuche, in Gut und Böse aufzuteilen, wohl wissend, dass es weder das reine Gute, noch das reine Böse gibt – zumindest in der Politik.

Tag 7: Sie macht so müde, diese Schwarzweiß-Malerei: Eine Seite nur gut, die andere nur böse – ein kleines Kind weiß schon, dass das nicht funktionieren kann. Umso bemerkenswerter die Abstimmung in der UN-Vollversammlung heute: Von 193 Nationen verurteilten 141 Russland für diesen Krieg. Nur insgesamt 5 taten es nicht: Russland selbst, Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea. Aber: 35 Nationen enthielten sich der Stimme, darunter China und Indien. Zusammen stehen allein diese beiden für mehr als ein Drittel der rund 7,9 Milliarden Erdbewohner. Gezeigt haben sich also ganz klar vier Blöcke: Die USA und die EU mit zusammen rund 800 Millionen Menschen, China mit rund 1,4 Milliarden, Indien mit 1,38 Milliarden und Russland (146), Belarus (9,4), Nordkorea (26), und Eritrea (3,6) mit zusammen 185 Millionen Einwohnern, alle fünf mit einer schwachen Wirtschaft. Nur eine Einigkeit, wie sie zurzeit besteht, wird der Westen seine Macht und seine Währungen sichern können. In den USA beginnt man zu erkennen, dass Russland und China zusammen „das Potential haben, die globale Politik neu auszurichten“ (Bloomberg).

Der Krieg, soviel steht inzwischen fest, wird wohl noch eine ganze Weile dauern. Seine schlimmste Fratze hat er bisher noch nicht gezeigt – aber man sieht, wo es hin führt: So wurde beispielsweise heute ein Heim für blinde Kinder getroffen. 900 000 Menschen sind inzwischen auf der Flucht. Die Kampfmoral in der Ukraine ist unverändert hoch: Immer wieder stellen sich große Gruppen unbewaffneter Einheimischer den russischen Panzern entgegen. Russland hat 498 tote Soldaten zugegeben, die Ukraine spricht von mehr als 7000. Der inhaftierte russiche Regimekritiker Alexey Nawalny hat dazu aufgerufen, ab sofort jeden Abend auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren. Die Oligarchen, denen es ans Geld geht, haben Putin offen kritisiert, der Bund der Soldatenmütter fordert Aufklärung über den Verbleib der Söhne und einzelne Stimmen der Kritik sind deutlich lauter, als sonst üblich. Das alles dürfte Putin noch aggressiver machen. Zwei der letzten ausgewogen berichtenden Medien wurden jetzt geschlossen.

Roman Abramowich, in England wohnhafter russischer Oligarch, will seinen Fußballclub Chelsea verkaufen und den erwarteten Erlös von vier Milliarden Euro für die ukrainischen Opfer des Krieges spenden. Die EU sucht nach Wegen zu verhindern, dass Geldströme von den Banken in Kryptobörsen abwandern. Die westlichen Staaten überlegen derzeit angestrengt, wo überall Besitz der sanktionierten Personen versteckt sein könnte und wie man dran kommt. Auch Monaco hat sich den Sanktionen angeschlossen und friert jetzt Geld reicher Russen ein. Aber die Karibik ist ja noch frei…

Béla Anda, langjähriger Sprecher von Altkanzler Schröder, hat den gemeinsamen wöchentlichen Podcast der beiden gecancelt. Der Ausschluss Schröders aus der SPD steht im Raum. Dieser hat sich weg geduckt und bleibt seinem alten Freund Putin genauso treu, wie den gut dotierten Posten in dessen Reich. US-Präsident Biden hat ein ausgeprägtes Inlands-Problem: Donald Trump und große Teile der Republikaner loben Putin für seine „kluge Strategie“ und versuchen so im Vorfeld der Midterms, das Land weiter zu spalten. Die USA haben jetzt ebenfalls ihren Luftraum für russische Maschinen gesperrt. Bisher hat Russland noch keine Gegenmaßnahmen gegen die Sanktionen verkündet. Der Ölpreis stieg auf 112 Dollar pro Barrel, und die OPEC hat beschlossen, die Fördermengen nicht zu erhöhen. Der Spritpreis ist auf 1,70 € für den günstigsten Diesel gestiegen. Die Ukraine hat inzwischen rund 52 Millionen Dollar in Kryptowährungen als Spenden erhalten. Alex Konanykhin, ein russischer Großunternehmer, der in den USA lebt, hat eine Million Kopfgeld für die Gefangennahme Putins ausgesetzt – tot oder lebendig.

Siehe auch:

USA/NATO war spätestens 2008 klar, dass es Putin ernst war – Wikileaks

Angriff auf die Ukraine ein lange geplanter Finanzkrieg

Russland verdient Augenhöhe

3000 Jahre Geschichte Europas im Zeitraffer

und Pandora II

Abschied von Kanzlerin Angela Merkel – ein außergewöhnliches Leben

Sie hat diese norddeutschen Augen: meist grau, in mancher Stimmung blau, manchmal wolkenverhangen, auf den ersten Blick kühl; solche, die sich in sich selbst zurück ziehen können. Wer sich in ihnen täuschte, musste lernen, dass fehlendes öffentliches Feuer nicht Wehr- oder Tatenlosigkeit bedeuten muss. Sie hatte ein wildes, bewegtes Leben, das heute in ein neues Stadium eingetreten ist: Dr. Angela Merkel wurde nach 16 Jahren als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines großen Zapfenstreiches in den Ruhestand verabschiedet.

Die drei Musikstücke, die sie sich zum Abschied vom Orchester der Bundeswehr wünschte, erregten je nach persönlicher Einstellung teils Spott, teils Verachtung, teils Rührung: Die sonst so zurückhaltende Kanzlerin habe einen Blick in ihr Herz erlaubt, hieß es beim ZDF. Letzteres mag wohl so stimmen: Es war ein ganz persönlicher Rückblick auf ein ungewöhnliches Leben mit plötzlichen Umbrüchen, harten Kämpfen, tiefen Krisen und vielen Höhepunkten. Geboren am 17. Juli 1954 im Sternzeichen Krebs, wuchs Angela Dorothea Kasner der DDR auf, wo sie 1973 Abitur machte. Ihre jungen Jahre waren wie die aller anderen jungen Menschen, und so war Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen„, 1974 veröffentlicht, für sie genau wie den großen Teil der DDR-Jugend ein Lied mit Kult-Status, das scheinbar harmlos den ständigen Mangel und das quälende Gefühl der fehlenden Freiheit besang. „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef war Wunsch zwei. Die Knef, dreimal verheiratet, führte ein äußerst bewegtes Leben und lernte dabei ganz ähnlich wie Merkel, große Höhen kennen, aber auch schwarze Tiefen voller Spott, Hass und Verachtung. Auch Angela Merkel wurde 1982 nach fünfjähriger Ehe von ihrem Mann Ulrich geschieden. 1984 lernte sie an der Akademie der Wissenschaftler den fünf Jahre älteren Quantenchemiker Joachim Sauer kennen. Der zweifache Vater wurde 1985 geschieden; im selben Jahr erwarb das Paar ein Wochenendhaus in der Uckermark. 1998 heirateten die beiden. Viel mehr weiß man nicht über sie: Beide Eheleute halten die Medien aus ihrem Leben strikt heraus.

Großer Gott, wir loben dich„, ein Kirchenlied aus dem Jahr 1771, war das dritte Wunschlied der scheidenden 66jährigen. Sie ist nicht nur die Tochter eines Pfarrers, sondern hat auch selbst christliche Werte verinnerlicht. Vor diesem Hintergrund mag ihr spontaner Entschluss, einem Flüchtlingsstrom 2015 die Grenzen zu öffnen, verständlicher erscheinen. „Wir schaffen das“ sagte eine Frau, die zwei politische Systeme von innen heraus kennen gelernt und das Potential Deutschlands am eigenen Leib erfahren hat.

Als 1989 die Mauer fiel, war Angela Dorothea Merkel 35 Jahre alt. Schon in der Schulzeit war ihre überdurchschnittliche Intelligenz aufgefallen. Sie war Klassenbeste in russisch und Mathematik. 1973, nach dem Abitur, begann sie ein Studium der Physik in Leipzig und jobte nebenher als Bedienung in Diskotheken. Ihre Diplomarbeit vom Juni 1978 mit dem Titel „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“ wurde mit „sehr gut“ bewertet. Die Arbeit war zugleich ein Beitrag zum Forschungsthema „Statistische und Chemische Physik von Systemen der Isotopen- und Strahlenforschung im Bereich statistische und physikalische Chemie“ am Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Dort setzte sie ihr Berufsleben in der Abteilung Theoretische Chemie fort. Ihre Doktorarbeit  dem Thema „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ dort wurde mit magna cum laude bewertet.

Außer ihrem Engagement in einer FDJ-Gruppe während ihrer Zeit in Berlin war Angela Merkel in der DDR nicht politisch aktiv. Mit der Wende änderte sich das radikal. Eigentlich hatte sie in die SPD eintreten wollen; das Verfahren, erstmal einem Ortsverein beitreten und sich von dort aus hoch arbeiten zu müssen, war ihr aber zu umständlich. So landete Angela Merkel bei der CDU, wo sie schon 1990 ihre erstes Bundestagsmandat erreichte. Wahlsieger Helmut Kohl nominierte sie überraschend als Frauenministerin. Der Förderung Kohls verdankte sie die darauf folgende Karriere, die sie über das Ministeramt für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf den mächtigen Posten der CDU-Generalsekretärin führte. 1999 wurden die Spendenaffaire und die Rolle Helmut Kohls öffentlich. Im Herbst des selben Jahres brach Angela Merkel öffentlich mit ihrem langjährigen Förderer. Danach war ihr Weg nach oben offen: 2005 wurde sie die erste Bundeskanzlerin Deutschlands.

Ein herausragendes Kennzeichen Merkels ist ihr bescheidenes, ruhiges Auftreten. Während die Wirtschaft dies als sachlichen Führungsstil lobte, schätzten es einige ihrer innerparteilichen Konkurrenten als Schwäche ein – und mussten bittere Lektionen lernen. Leise, fast unhörbar verschwanden ehrgeizige Männer von der politischen Bühne, darunter Roland Koch, Karl-Theodor zu Guttenberg, Norbert Röttgen und Friedrich Merz. Die beiden letzteren haben die Niederlage noch immer nicht überwunden und suchen jetzt erneut ihre Chance. „Wer Merkel unterschätzt, hat schon verloren“, urteilte lächelnd Innenminister Seehofer, der sich mit ihr so manche Auseinandersetzung geliefert hat. Im Ausland wurden die uneitle Art und der Sinn für Gleichberechtigung Merkels hoch geschätzt. „Sie reihte sich in den Kreis ein – und überragte ihn“ sagte der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean Paul Juncker zu ihrem Abschied und hob hervor, dass Merkels Erfolge vor allem darauf beruhten, dass sie die kleinen Staaten mit der gleichen Aufmerksamkeit behandelte wie die großen.

„Merkel ist Physikerin. Sie denkt die Dinge vom Ende her. Was mich oft genervt hat, war die Zeit, die sie brauchte, um bis zum Anfang vorzudringen,“ ist ein anderes Statement Junckers zu ihrem Abschied. Damit trifft er ein Kernproblem der Kanzlerin. Oft, vielleicht zu oft, dauerte es einfach zu lange, bis sie sich endlich zu Wort meldete. Allerdings gab es auch Spontanentscheidungen -die wurden noch heftiger kritisiert. Eine davon entstand nach der Umweltkatastrophe, verursacht durch das Kernkraftwerk Fukushima. Merkel rief ohne Rücksprache das Ende der Kernkraftwerke für Deutschland aus und leitete damit eine bis heute ausgesprochen schwierige, weil unvorbereitete Energiewende ein. Genauso plötzlich und ohne Rücksprache öffnete sie 2015 die deutschen Grenzen. Zigtausende Migranten standen an den Außengrenzen Europas und drohten Länder wie Ungarn und Österreich einfach zu überrollen. Für die Nachbarn verhinderte die Entscheidung mit dem berühmten „Wir schaffen das“ eine Katastrophe. Innerhalb Deutschlands beförderte sie das Wachsen der äußerten Rechten und der AFD. Noch immer hallt die „Einladung“ nach: Viele Migranten an Europas Grenzen wollen nach Deutschland – wo sie inzwischen weit weniger willkommen sind als vor sechs Jahren. Als der Druck deswegen zunahm, wurde die Kanzlerin mit ihrer leisen Diplomatie aktiv. Die Transit- und die Heimatländer der Migranten sollten gegen viele Milliarden Euro den Strom aufhalten.

Mit den Jahren wurde die Kanzlerin auf internationaler Ebene als besonnene Verhandlerin mit langem Atem immer wichtiger. Umso mehr vernachlässigte sie aber dringende Probleme im eigenen Land. Das wurde während der Covid 19-Pandemie, die ihre letzten beiden Amtsjahre überschattete, besonders deutlich. Sie duldete einen durch und durch unfähigen Gesundheitsminister Spahn, der es nicht einmal in der Krise nötig fand, die 18 Ehrenamtlichen in der Stiko (ständigen Impfkommission) durch Hauptamtliche zu ergänzen. Nur die Aussagen dieser Kommission werden aber von der Ärzteschaft akzeptiert. Auch im Robert-Koch-Institut (RKI), zuständig für eine ziemlich unübersichtliche Datenlage über Zahl und Art der Infektionen bekamen drei hauptamtlich Angestellte keine weitere Unterstützung. Millionen wurden in Maskendeals verschwendet, Impfstoffe wurden zu spät und in zu kleiner Menge bestellt – und vieles mehr. Merkel schritt nicht ein. Als ähnlich unfähig erwies sich Verkehrsminister Scheuer, der Unmengen an Geld unter anderem in die Organisation einer Maut verschwendete, die schließlich nicht kam. Und dann Europa: Da Angela Merkel es versäumt hatte, mit den anderen Ländern über eine Aufnahme von Migranten zu verhandeln, bevor sie die Schleusen öffnete, bekam sie danach keinen Fuß mehr auf den Boden. Einige Mitgliedsstaaten lehnen bis heute die Aufnahme von Einwanderern ab. Auch das harte Eintreten für deutsche Interessen rief immer wieder Ärger bei den anderen Staaten hervor.

Die CDU unter Merkels Führung verhinderte erfolgreich ein Einwanderungsgesetz, mit dem sich die Zuwanderung hätte regeln lassen. Sie förderte konsequent Banken und Großindustrie, aber nicht den kleinen Mann. Sie versäumte konsequent den Ausbau eines Glasfasernetzes und die Digitalisierung der Behörden. Auch das hatte während der Pandemie katastrophale Auswirkungen; unter anderem die, dass bis heute niemand genau weiß, wie viele Deutsche nun wirklich geimpft sind. Noch schlimmer: Während die Großindustrie mit Milliarden gefördert wurde, gingen in den Lockdowns kleine Selbstständige unter, weil sie durch das Netz der ohnehin niedrigen Unterstützungsleistungen fielen. Die Schulen mit Luftreinigern auszurüsten, war allen Beteiligten zu teuer. So müssen viele Kinder jetzt schon im zweiten Winter bei ständig zur Lüftung geöffneten Fenstern frieren. Mit diesen und ähnlichen Nicht-Aktivitäten hat das für seine Gründlichkeit bekannte Deutschland während der Pandemie ein derart chaotisches Bild abgeliefert, dass es internationalen Spott erntete.

Angela Merkel ist kein charismatischer Mensch. Ihre Reden sind nüchtern, ihr Auftreten zurückhaltend. Aber sie verfolgte in den Anliegen, die ihr wichtig waren, mit langem Atem klare Pläne. Zum Beispiel beim Thema Frauen in hohen Ämtern. Sie, die sich durch männliche Netzwerke hatte hindurch kämpfen müssen, arbeitete daran, ähnliche Netzwerke für und mit Frauen zu etablieren. Sie förderte Frauen und sorgte immer wieder dafür, dass sie in Spitzenämter kamen; so wurde etwa Ursula von der Leyen, die als Verteidigungsministerin kein gutes Bild abgegeben hatte, auf ihre Initiative hin Präsidentin der EU-Kommission. Annegret Kamp-Karrenbauer scheiterte zwar als CDU-Vorsitzende. Aber als Verteidigungsministerin arbeitete sie lautlos – ihre Verbindung zu den Soldaten war stimmig. Auch ihre politische Karriere endete mit dem Zapfenstreich: Kramp-Karrenbauer zieht sich aus der Politik zurück. Angela Merkel und AKK verbindet eine empathische Persönlichkeit und leises Auftreten. Die Beziehung zur sehr ehrgeizigen, lauten Julia Klöckner, die Merkel ins Amt der Landwirtschaftsministerin hievte, schien mit der Zeit zu erkalten. Dennoch durfte sich auch Klöckner große Fehler leisten, ohne dass Merkel einschritt.

Im letzten halben Jahr ihrer Amtszeit war die 66jährige innenpolitisch kaum noch wahrnehmbar, dafür außenpolitisch umso aktiver. So konnte es geschehen, dass ihre noch im Amt befindliche Ministerriege, statt sich bis zum Regierungswechsel mit der innenpolitischen Pandemiekrise zu beschäftigen, auf Opposition umschaltete und der noch nicht gebildeten Ampel-Regierung lauthals Versäumnisse vorwarf, die sie selbst verschuldet hatte.

Dieser Missklang wird im Laufe der Zeit sicherlich in Vergessenheit geraten. „Wir werden sie noch vermissen“, kommentierte die ARD zum Abschied der Bundeskanzlerin. Das kann sehr gut schnell so werden. „Mutti“ stand für Verlässlichkeit, wenig Experimente und damit im Auge der Mehrheit der Bevölkerung für Sicherheit. Die neue Regierung will andere Wege einschlagen. Wie erfolgreich sie sein werden, wird man abwarten müssen.

Wie versteinert wirkte das ungewöhnlich stark geschminkte Gesicht der scheidenden Kanzlerin, während Gäste und Soldaten ihr die Ehre erwiesen. Nur bei den selbst ausgesuchten Musikstücken wurden ihre Augen ein wenig feucht – es mag Bedauern gewesen sein über eine lange vergangene Jugend in einem untergegangenen politischen System, Erinnerung an große innere und äußere Kämpfe – und Dankbarkeit für ein außergewöhnliches Leben. Rundlicher ist sie geworden in den Jahren. Fast zur Uniform mutierten ihre unzähligen, alle gleich geschnittenen Blazer über Hosen in allen denkbaren Farben – zum Jahreswechsel gern schimmernd. Immer gleich auch die Kanzlerinnenfrisur mit den gezähmten, glatten Haaren. Tief in ihre Züge eingeschnitten haben sich die Anstrengungen des Amtes, die vielen Reisen und nächtlichen Konferenzen, die Müdigkeit nach elend langen Tagen. Aber eins ist geblieben: Ihr strahlend schönes Lächeln. Mit genau dem entnahm sie am Ende der Zeremonie den beiden Behältern mit wundervollen, langstieligen Rosen, die das Rednerpult umrahmten, genau eine für sich selbst – und eine weitere für AKK. Dann stieg sie in die Limousine und entschwand in der Dunkelheit.

Marittas einsames Sterben: Maßlose Corona-Vorschriften

Es ist lange her. Über ein Jahr hat es gedauert, bis Simone und ich wieder einen Plausch im Eiscafé halten können: Ohne Coronatest und vorherige Anmeldung, nur mit Kontaktformular, einfach so im Freien sitzend. Wir sind beide doppelt geimpft und können langsam daran denken, unser Leben vor der Pandemie wieder aufzunehmen. Ein Leben, in dem für Simone nichts mehr ist, wie es war.

„Ich denke ständig darüber nach, was sie wohl in diesen letzten Tagen gedacht hat: Die ganze Zeit war ich da, habe sie zu den Ärzten und zur Chemo begleitet, und dann, als es ans Sterben ging, war sie allein.“ Simone ist sehr nachdenklich. Im Januar hat sie ihre Mutter verloren. Mitten in all den Beschränkungen der Pandemie starb sie im Krankenhaus, und ihre Familie durfte nicht zu ihr. Das war furchtbar und belastet alle noch sehr.

Das Leben ihrer Eltern war bis zum letzten Tag eine lange Liebesgeschichte. Dass Maritta und Josef sich kennenlernen konnten, war Marittas Oma zu verdanken. Sie hielt Ziegen, und Maritta liebte deren Milch. So besuchte sie ihre Oma, wann immer sie konnte und traf schließlich im Ort auf den gleichaltrigen Josef. Der Brückenbauer und seine Familie sind alt eingesessen und gut vernetzt im Dorf. Die beiden wurden ein Paar, heirateten, und Maritta zog ins Haus ihres Mannes. Nach einer Fehlgeburt kamen Sohn Patrick und Tochter Simone zur Welt, das Familienglück war perfekt.

Das Paar hat eine vielköpfige Verwandtschaft. Man traf sich regelmäßig, feierte Geburtstage und andere Feste zusammen. Bis die Beschränkungen kamen. Kontaktverbote, Verbote, zuhause Besuch zu empfangen. Natürlich hielten sich alle daran – obwohl niemand aus der weiten Familie infiziert war. Aber es wurde doch ziemlich einsam.

Vater Josef betrieb im Nebenerwerb Landwirtschaft, wie so viele im Ort. Maritta sorgte für Haus und Garten; ihre Koch- und Backkünste waren legendär. Das Paar pflegte Geselligkeit in der Familie und im Ort und  liebte sich zärtlich. Als Sohn Patrick in die eigenen vier Wände zog, war das selbstverständlich im Heimatort. Abends, nach der Arbeit, kam der Junggeselle weiter heim zum Essen, sehr zur Freude seiner Mutter. Nachdem  Tochter Simone geheiratet hatte, baute das junge Paar 2002 die alte Schmiede des Großvaters zur Wohnung aus und lebte fortan Wand an Wand mit den Eltern. Auch hier herrschte Harmonie: Man kochte gemeinsam, grillte viele Spießbraten im Gartenhäuschen. Enkelkind Melina war bei den Großeltern bestens aufgehoben, wenn ihre Eltern zur Arbeit gingen.

Wie in jeder Familie lief auch in dieser nicht immer alles glatt: Als Simone schwer krank und schließlich berufsunfähig wurde, standen ihr die Eltern zur Seite; als ihre Ehe zuende ging, ebenso. Jeden Morgen zog seitdem eine kleine Prozession die Treppe herunter durch die Hintertür an den Frühstückstisch der Eltern: Simone, Melina, Hündin Mimi und Katze Nala fanden sich ein, um beim Kaffee den Tagesablauf, gemeinsame Einkäufe, Arztbesuche und den ganzen Alltag zu planen. Im Familienzusammenhalt blieb so trotz Pandemie eine beglückende Gemeinsamkeit.

Rechtzeitig zur Goldenen Hochzeit im letzten Jahr renovierten Josef und Marita noch einmal ihr Haus. Ein neues Schlafzimmer wurde gekauft, Josef begann damit, das Bad rundum zu erneuern. Maritta, in den letzten Jahren etwas vergeßlich geworden, hörte auf, selbst Auto zu fahren. Vater oder Tochter erledigten die Einkäufe, immer öfter übernahm Simone das Kochen für alle. Und dann brach das Unglück über sie herein.

Maritta war immer schlank gewesen. Aber jetzt war sie auf einmal extrem dünn, aß und trank kaum noch etwas. Ihre Stimme veränderte sich, und sie bekam schlecht Luft. Am 22. Juli, dem Tag vor Josefs 80. Geburtstag, brach sie beim Backen zusammen, musste per Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht werden. Dort stellte man einen riesigen, gutartigen Tumor der Schilddrüse fest, der auf Speise- und Luftröhre gedrückt hatte. Der Tumor wurde entfernt.

Nun berichtete Maritta auch von dem Knoten in ihrer Brust, der dort seit Jahren wuchs. Er war inzwischen so groß wie ein Hühnerei. Die Mammographie ließ alle tief erschrecken: Der Tumor war bösartig und äußerst aggressiv. Er hatte bereits die umgebenden Drüsen befallen. Sofortiges Handeln war angesagt. Die ohnehin geschwächte alte Frau wurde erneut operiert.

Bevor das radikale Programm mit einer 16-teiligen Chemotherapie und 30 Bestrahlungen beginnen sollte, war sie zuhause zum Aufpäppeln. Richtig auf die Beine kam sie nicht. Ihr 80. Geburtstag am 23. Oktober wurde ein kleines und sehr ruhiges Fest: Josef, Patrick, Simone und Melina ehrten ein letztes Mal die Seele ihrer Familie.

Nach der ersten Chemo schien es, als vertrage sie diese relativ gut. Aber das änderte sich schnell: Marittas Blutwerte wurden immer schlechter, die Zahl der Leukozyten nahm radikal ab. Nach jeder Behandlung musste sie länger im Krankenhaus bleiben, sie wurde immer dünner und durchscheinender.

Nach der sechsten Chemo ging erstmal nichts mehr. Die Mutter lag zuhause auf dem Sofa, wollte weder essen noch trinken, war ein Schatten ihrer selbst. Es war ein Sonntag, als der Schlaganfall sie traf. Simone rief den Rettungsdienst, aber der nahm die Patientin nicht mit. Es sei „nicht so dringend“, hieß es. Die Folgen des Schlaganfalls waren heftig: Halbseitig gelähmt und kaum fähig zu sprechen, konnte sich Maritta nun gar nicht mehr selbst helfen. Dennoch: Auch beim zweiten Notruf nahm der Rettungsdienst sie nicht mit ins Krankenhaus. Verärgert und in Angst um die Mutter bat Simone den Hausarzt um Hilfe – der erreichte endlich die Aufnahme. Es folgte ein vorwurfsvoller Anruf der dortigen Stationsärztin an die Tochter, wieso die Patientin denn erst so spät gebracht worden sei, wo sie doch so schwach sei…

Was nun kam, war das schmerzhafte Erleben purer Hilflosigkeit für die Familie – ausgeliefert an Beschränkungen der Pandemie und das System Krankenhaus. Nicht lange nach dem Schlaganfall erlitt Maritta auch noch einen Herzinfarkt. An die Behandlung der Tumorfolgen war jetzt nicht mehr zu denken: Es ging um’s nackte Überleben.

Aber unter Pandemiebedingungen. Krankenbesuche waren nicht erlaubt. Und das für ein Ehepaar, das über 50 Jahre lang Seite an Seite gewesen war, das die gegenseitige Nähe brauchte, wie die Luft zum Atmen. Jetzt wurde Simone ernsthaft laut: Wenigstens ihren Mann müsse man doch für kurz Zeit zur Mutter lassen – nie hatte sie ihn nötiger gebraucht! Mageres Ergebnis: Vater Josef wurde es erlaubt, zehn Minuten (!!!) am Tag bei seiner Frau zu sein. Was für eine Willkür!

Glück im Unglück für die geteilte Familie: Edith, Ex-Schwiegermutter Simones, teilte sich mit Maritta das Zimmer. So war wenigstens ein Mensch in ihrer Nähe, den sie kannte – und die Familie konnte jederzeit erfahren, wie es der Mutter ging. Simone war verärgert und aufgewühlt: Als ihre Mutter zur Chemo im selben Krankenhaus war, hatte sie sie problemlos durch’s Haus begleiten dürfen. Jetzt, wo sie hilflos im Bett lag, durfte sie nicht zu ihr. „Ob sie dachte, ich habe sie im Stich gelassen? Ich frage mich das immer wieder.“

Schneller als erwartet, kam an einem Freitag der befürchtete Anruf aus der Kardiologie: „Ihre Mutter wird wahrscheinlich das Wochenende nicht überleben. Schafft sie es aber, möchten wir ihr am Montag gern einen Stent setzen, um ihr Herz zu entlasten.“ Nachdem sich Vater und Tochter vom ersten Schock erholt hatten, erinnerte sich die Tochter an Marittas tiefen Glauben. „Sollen wir für sie um die letzte Ölung bitten?“ Ja. Der Vater war dankbar für die Anregung, und die Station reagierte auf Simones Anruf blitzschnell: Minuten später war der Krankenhaus-Geistliche bei ihrer Mutter. Sie wurde gesalbt, die beiden beteten gemeinsam das Vaterunser. Sehr erleichtert und dankbar sei die Patientin gewesen, berichtete der freundliche Geistliche, der anschließend die Familie anrief, um auch ihr Beistand zu leisten.

Danach blieben nur noch Stunden. Beim 10 Minuten-Besuch ihres Mannes am Samstag konnte Maritta ihm noch die Hand drücken – wenig später verlor sie das Bewusstsein. Nicht nur ihren Mann Josef, auch Tochter Simone und Enkelin Melina nahm das schrecklich mit, an Schlaf war nicht zu denken. Simone beschloss daher, sich innerlich mit ihrer Mutter zu verbinden. Es war schon nach Mitternacht, als sie ihr sagte „Mama, du hast genug für uns getan. Du darfst gehen, wenn du jetzt gehen willst. Wir sorgen gemeinsam weiter für uns. Mama, wir lieben dich. Ich liebe dich.“…

Um 3 Uhr morgens in der selben Nacht tat Maritta ihren letzten Atemzug. Außer Edith, ihrer Zimmernachbarin, war niemand in ihrer Nähe.

Erst danach rief das Krankenhaus die Familie an, die sofort aufbrach. Jetzt durften auf einmal alle ins Haus und sich lange von der bereits aufgebahrten Mutter verabschieden. Und wieder bewegte sie die gleiche Frage: Wieso musste sie ohne den Beistand ihrer Lieben sterben, wenn danach alle das Haus betreten durften? Sogar eine Infektion eines Familienmitgliedes (die ja via Test hätte ausgeschlossen werden können) hätte ihr nicht mehr schaden können, als sie ohnehin im Sterben lag. Was sind das für Vorschriften, die Sterbende derart einsam zurück lassen?

Wenigstens im Tod wollten sie jetzt der Mutter noch ihre Liebe zeigen. „Ich habe ihre Lieblingskleider ausgesucht: Einen korallenroten Pulli und schwarze Jeans – und vor allem das Unterhemdchen, das für sie immer ganz wichtig gewesen war. Wir haben eine wunderschöne Urne gekauft, aus Terrakotta, in Erdtönen, mit einem Bild darauf, das die unendliche Weite nach dem Tod darstellt.“

Auch die Beerdigung der Urne fand unter Pandemiebedingungen statt: Ein sehr kleiner Kreis von Gästen fand sich auf dem Friedhof ein, wo der freundliche Geistliche aus dem Krankenhaus wunderbar menschliche Worte fand, um Marittas Leben in bunten Farben zu schildern. „Ich schicke dir jetzt einen Engel“ von Michelle erklang, und für einen Moment war die Mutter für alle noch einmal fast körperlich präsent.

Inzwischen ist ein neuer Alltag eingekehrt im Drei-Generationen-Doppelhaushalt. Simone hat einige Aufgaben der Mutter übernommen. Jeden Abend wird gekocht für Vater und Bruder, mittags für Tochter Melina. Nicht alles verläuft so reibungslos wie früher – neue gemeinsame Gewohnheiten wollen eingeübt werden. Oft betrachten Simone und Tochter Melina die Fotos, die sie vor zwei Jahren gemeinsam mit Oma aufgenommen haben. Da waren sie alle drei hübsch zurecht gemacht, und Maritta sah noch ganz gesund aus. „Wenn ich so darüber nachdenke, war dieser Tag der letzte, an dem sie so richtig aus vollem Herzen gelacht hat,“ meint Simone nachdenklich. „Sie fehlt mir jeden Tag.“ Ich hoffe, sie ist jetzt glücklich, da, wo sie ist.“

Narzisstische Wut will vernichten: H.G. Tudor und Donald Trump

Narzissten bestehen aus einem riesigen ICH.

Alles, was sie tun, dient dazu, dem unstillbaren Verlangen dieses ICHs nach Bestätigung genüge zu tun, alle Menschen, mit denen sie sich umgeben, ebenso. Gleichzeitig leben sie in einer Welt aus schwarz und weiß: Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Für sie zu sein, bedeutet uneingeschränkte Loyalität an den Tag zu legen, egal was sie tun – und in Kauf zu nehmen, dass sie selbst keineswegs loyal sind. Im Gegenteil: Jeder Mensch, jede Handlung, jedes Zeitgeschehen, im Zweifelsfall ein einziger Blick, können von Narzissten als Aggression wahrgenommen werden. Dann ist im selben Moment alles vergessen, was sie – manchmal über Jahre – an Loyalität einer Person erfahren haben. Dann schlagen sie zurück: So fest sie können und so vernichtend wie irgend möglich. Narzisstische Wut ist hitzig, nachtragend und kann lebensgefährlich werden.

H.G. Tudor, Autor des englisch sprachigen Blogs „Knowing the Narcissist“ beschreibt auf unnachahmlich persönliche Art aus eigenem Erleben die Denkweise eines Narzissten. Hier ein Beispiel zu narzisstischer Wut und wie er damit umgeht:

„Es hat viele Vorteile, ein Ultra-Narzisst zu sein (Anm.: im Gegensatz zu „schwächeren“). Einer davon ist die Fähigkeit, den eigenen lodernden Zorn unter Kontrolle zu halten. Die totale Kontrolle einmal entflammten Zorns in Schach zu halten, hat sich als kaum möglich erwiesen, aber wir schaffen es. Da, wo ein schwächerer Narzisst, wenn er verwundet wird, vor Wut explodierend, seine Partnerin eine hässliche, faule Nutte nennen würde, weil sie ihm nicht zu der Zeit das Essen brachte, zu der er es verlangt hatte, wird der stärkere Narzisst das oft unter Kontrolle halten. Wir bleiben verwundet, aber wir behalten die nötige Kraft, diese Wut auf alternative Art anzugehen und dieses beißende, grausame, brennende Feuer unter Kontrolle zu halten.

Für den richtigen Zeitpunkt.

Die, die uns verwunden und unsere Wut nicht sofort zu spüren bekommen, werden uns deshalb nicht entkommen. Ja, sie mögen sich die ätzend kritische Retourkutsche für den Moment erspart haben, oder dem eisigen Blick samt begleitendem Schweigen mit Ziel der Manipulation für den Moment entkommen sein, aber wir werden sie bestrafen. Wir haben einen geistigen Aktenvermerk gemacht, und es wird ausgleichende Gerechtigkeit geben. Immer.

Vor einigen Wochen sah sich eine Dame, Gillian, die Leiterin einer bestimmten Abteilung innerhalb des Unternehmens, bemüßigt, gegen einen Vorschlag zu stimmen. Meinen Vorschlag. Sie wurde überstimmt, und mein Vorschlag wurde angenommen. Die anderen Teilnehmer waren offensichtlich mit Verstand und Voraussicht ausgestattet. Sie nicht. Ihre Gegenmeinung war bar jeden Sachverstandes und finanziellen Augenmaßes, und echte geschäftliche Alternativen gab es nicht. Nein, es war offensichtlich, dass ihr Widerstand darauf aus war, mein Leben schwer zu machen, mit zwei Fingern in meine Richtung zu schnippen und meine Vorschläge zu Fall zu bringen.

Dies war ihre dritte Verfehlung dieser Art. Ich hatte die Kontrolle über meine schäumende Wut bei den letzten beiden Vorfällen behalten, wie auch bei diesem. Ich muss allerdings zugeben, dass es mich eine Menge Disziplin kostete, als ich sah, wie sie ihren Finger hob, um Gehör für ihren Widerstand zu bekommen und auch noch in meine Richtung sah, während sie das tat. Ausgemachte Unverschämtheit. Ich begegnete ihrem starren Blick mit unbeirrbarer Leere, obwohl ich mir gleichzeitg vorstellte, wie ihr komfortables Appartement in Flammen aufgeht und sie mitten im Inferno um Hilfe schreit. Ich verspottete ihren Widerstand, aber innerlich fühlte ich den gähnenden Abgrund und wie ich in seine Richtung fiel. So wirkt es, wenn ich verletzt werde. Ich saß im Sitzungsraum, und ihr Versagen der Zustimmung, ihre deutliche Ablehnung, meinen Vorschlag zu billigen, ihr Trotz und ihre Unnachgiebigkeit sagten mir, dass mein Plan nicht gut genug war.

Nicht gut genug.

Diese drei Worte waren das tägliche Motto meiner Kindheit. Nicht gut genug.

Sie war genau wie alle anderen. Unzuverlässig, heimtückisch, eine Verräterin, der man nicht glauben durfte. Soeben hatte sie zum dritten Mal bewiesen, dass man ihr nicht vertrauen konnte.

Drei Worte. Nicht gut genug. Genau wie SIE immer zu mir sagte. Sie war genau wie SIE, wollte meine Welt kaputt machen, mich beherrschen und kontrollieren. Ich bin kein Mensch, den man kontrolliert. ICH kontrolliere. Während diese Gedanken in Richtung des mich erwartenden Nichts taumelten, machte sich die Wut bemerkbar. Diese wohlbekannte Wut. Immer da, bereit, gegen den bösartigen Angreifer zurück zu schlagen. Ich fühlte, wie die erste Welle der Wut das Gefühl zu fallen verdrängte; zu fallen wegen der drei Worte.

Nun wurden sie von drei anderen Worten überlagert. Victoria aut morte – Sieg oder Tod. Es muss Sieg sein, immer Sieg. Die Wut stieg an, wischte jeden Anflug von Schwäche beiseite – man darf nie schwach sein (keine Tränen, HG, keine Tränen, wie SIE immer gewarnt hatte). Es gibt nie Tränen – meine jedenfalls nicht.

Meine Wut drängte mich, dieser dummdreisten Wichtigtuerin zu zeigen, wo ihr Platz ist. Ich starrte weiter auf ihre Hand, und während sie diese leicht absenkte, fuhr sie fort, mir zu trotzen, ihre Augen immer noch fest auf meine gerichtet.

Ich wollte sie vernichten, hier und jetzt; ihre Haltung mit Worten schreddern und sie demütigen, sie vor Wut bebend oder noch besser, zurückgeworfen auf Tränen des Unvermögens im Sitzungsraum zurücklassen und dann den herrlichen Energieschub trinken, den das Übertragen meiner Verwundung auf sie mir bringen würde. Das würde meine Wut verbannen. Ich wollte ihre schwache Analyse zerreißen, alle Mängel ihrer Abteilung offenlegen und sie dafür verantwortlich machen. Ich wollte den anderen Köpfen demonstrieren, dass sie ungeeignet für die Aufgabe war und so weiter, und so weiter.

Aber dies war der falsche Zeitpunkt. (…) Andere könnten sich gegen mich wenden. (…) Ich sah, wie die Hände der Anderen sich für meinen Vorschlag hoben, und diese Beweise von Unterstützung und Anerkennung gaben mir Energie. Weiteren Kraftstoff gab es von sekundär Beteiligten. (…) „Gut gemacht“, kommentierte jemand. Noch mehr Energie. Eine Hand klopfte auf meine Schulter. Noch mehr Kraftstoff.

Die Wunde begann, sich zu schließen. Ich behielt meinen kalten Blick bei. Sie schlug die Augen nieder, und da war es: Ich sah die Enttäuschung in ihren braunen Augen. Ich sah die heruntergezogenen Mundwinkel und ihr Stirnrunzeln. Ihre instinktive Reaktion des Geschlagenseins war offensichtlich. Ihr Körper sank leicht zusammen, ihre arrogante Steifheit erodierte und all das versorgte mich mit noch mehr Energie. (…) Ich hatte über ihre Rebellion triumphiert. Ich hatte die Kontrolle behalten.

Aber das war die dritte Verwundung durch sie innerhalb weniger Wochen.

Drei Wunden. – Drei Worte.

Sie muss bestraft werden.

Heute ist der Tag dafür.“ …..

Das Beispiel Donald Trump

Wird die verdeckte Motivation eines offenen Narzissten nach außen erkennbar, widerspricht man ihm und/oder kritisiert ihn, müssen alle, die das tun, schlimmes fürchten. Genau so fühlt und handelt Donald J. Trump, der Ex-Präsident der USA.

Donald Trump lernte bereits in frühster Kindheit, dass nur eine „Killernatur“ im Leben Erfolg haben kann (siehe weiter unten). Also stellte er sich als solche dar und sicherte sich so eine führende Position im Unternehmen seines reichen Vaters. Der hoch gewachsene, blonde Donald war schon als junger Mann eine charismatische Persönlichkeit, die in TV-Shows für viel Begeisterung sorgte und Zuschauerquoten garantierte. Ausgestattet mit großem Selbstwertgefühl, mit Siegesgewissheit, einem enormen Willen zum Kampf, mit völliger Respektlosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Regeln und Gesetzen, sowie einem schlafwandlerischen Instinkt für die Schwächen seiner Gegenüber und die Manipulation von Massen, richtete er als Präsident innerhalb von vier Jahren ein außenpolitisches Chaos an. Es erschütterte das Vertrauen in die USA nachhaltig und isolierte das Land. Im Innern sorgte er mit unverhohlenem Rassismus und Frauenverachtung, mit einem ganzen System von Lügen und Falschinformationen für eine Spaltung, die Amerikaner gegen Amerikaner aufhetzte.

Die Nacht vom 3. auf den 4. November 2020 wird der reine Albtraum für den erfolgsverwöhnten Mann: Donald Trump, dem republikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten scheint erscheint zunächst eine zweite Amtsperiode sicher. Nach Auszählung der in Wahlbüros abgegebenen Stimmen führt er vor seinem Herausforderer, den er herablassend „Sleepy Joe“, den verschlafenen Joe, nennt. Begeistert erklärt er sich zum Wahlsieger, obwohl noch so gut wie alle Briefwahlstimmen fehlen. Und dann kommt es: Langsam, wie ein tödliches Gift, schleicht die Niederlage heran. Es dauert mehrere quälend lange Tage, bis gegen den ungläubigen Amtsinhaber feststeht: Mit 74,22 Millionen Stimmen gewinnt er deutlich mehr Zustimmung als 2016. Aber der Demokrat Joe Biden hat noch viel mehr erreicht: 81,28 Millionen Wahlberechtigte entschieden sich für ihn. Nach der Zahl der Wahlmänner ist das Ergebnis noch klarer: Der Herausforderer erreicht 306, der Amtsinhaber ist mit 232 weit entfernt von den 270 Wahlmännern, die für die Mehrheit mindestens gebraucht werden. Zunächst scheint es wenigstens noch, als ob die Demokraten ihre bisherige Mehrheit im Senat verlieren, aber zwei Senatoren müssen in die Stichwahl. Am Ende ist es eine Niederlage auf ganzer Ebene: Das Land hat einen neuen demokratischen Präsidenten, der über eine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügt und über ein Patt im Senat, das mit Hilfe der Stimme seiner Stellvertreterin Kamala Harris in eine Mehrheit verwandelt werden kann.

Für den selbsternannten Dealmaker und Narzissten mit deutlich soziopathischen Zügen Donald Trump ist dieses Wahlergebnis ein Supergau und eine lebensbedrohliche narzisstische Kränkung. Diese, seine größtmögliche Niederlage, schreit nach Vergeltung.

Sein Leben lang hatte Donald Trump es geschafft, solche Kränkungen zu verhindern. Dabei war ihm jedes Mittel recht gewesen- ob nun legal oder nicht; so beschreibt es jedenfalls sein ehemaliger persönlicher Anwalt Michael Cohen. Sein ganzes Leben lang kämpfte er mit allen denkbaren Möglichkeiten, Lüge und Betrug eingeschlossen. Präsident zu sein hatte für Donald Trump viele Vorteile, die alle seiner narzisstische Persönlichkeit zusätzliche Energie zuführten: Er war der mächtigste Mann im Land und konnte sogar Gesetze zu seinen eigenen Gunsten ändern. Das Amt verschaffte ihm ein sehr viel größeres Umfeld an Menschen, die bereit waren, sein extremes Bedürfnis nach Anerkennung zu befriedigen. Und: Als Präsident war er weitestgehend immun gegen Strafverfolgung. Wohl auch, um letzteres unbedingt zu erhalten, versuchte er bereits im Vorfeld seiner zweiten Kampagne, das Wahlergebnis 2020 zu seinen Gunsten zu steuern, indem er seine Fans Mantra-artig darauf einstimmte: „Wenn ich nicht gewinne, wurde die Wahl manipuliert.“ Er setzte sogar einen noch persönlicheren Maßstab: Verlöre er gegen einen wirklich fähigen Widersacher, wäre das erniedrigend. Aber gegen so einen „nichtssagenden, uralten, verschlafenen“ Gegenkandidaten wie Joe Biden zu verlieren, wäre ein Beweis seines eigenen Unvermögens.

Als klar wird, dass der Präsident tatsächlich das Weiße Haus verlassen muss, beginnt ein bedrohliches Schweigen. Trump nimmt kaum noch Termine wahr, geht demostrativ golfen. Aus dem Innern des Weißen Hauses berichten Angestellte von stundenlangen wütenden Schrei-Anfällen, wüsten Drohungen und Stunden tiefster Depression, die der Präsident vor dem Fernseher verbringt. Sie fürchten um seinen Geisteszustand. Ein Trauma hat Donald Trump erfasst. Er will und kann nicht glauben, dass er wirklich verloren hat. Dann wäre er ja wirklich nicht gut genug gewesen…

Also beginnt er einen verzweifelten Kampf. Er wütet, droht, greift seine Widersacher persönlich und über Dritte an, verbreitet massenweise Fake-News über Twitter und Facebook, bis beide ihn sperren. Der Inhalt ist immer der gleiche: Die Wahl wurde manipuliert, um ihm die Präsidentschaft zu stehlen.

Die Trump-Fangemeinde hat zur Zeit des Wahlverlusts 2020 unzählige Accounts und Kanäle auf dem rechts orientierten Messenger Parler. Hier sorgen der Präsident und sein Sohn Donald jr. mit einem ständigen Fluss von Beiträgen an die Millionen „Patriots“ dafür, dass die Stimmung sich aufheizt. Unzählige Fans sind inzwischen überzeugt, dass die Wahlergebnisse manipuliert wurden, die Wahlmaschinen aus dem Ausland mit Viren infiziert waren, dass die herrschende Kaste einfach nicht mit den klaren Worten ihres Helden zurecht komme und ihn deshalb verbannen müsse. Trump lässt Dutzende von Klagen an den Gerichtshöfen der Bundesländer einreichen. Er verlangt Neuauszählungen, will die Wahl von Amts wegen rückgängig machen lassen. Angeblich sind tausende Stimmen bereits verstorbener Wähler gezählt worden, haben die Wahlmaschinen versagt, sind Wahlzettel zugunsten Trumps verschwunden. Tatsächlich gibt es verschiedene Neuauszählungen; nirgendwo erweisen sich die Vorwürfe des Verlierers als berechtigt. Da keine Beweise vorgelegt werden, werden alle Klagen abgelehnt. Auch Trumps Versuch, noch vom Supreme Court, dem obersten Gerichtshof, Recht zu bekommen, scheitert, obwohl er wenige Tage vor der Wahl dort noch eine republikanische Bundesrichterin eingesetzt hat.

Parallel dazu macht der Noch-Präsident Druck auf Abgeordnete und Wahlleitungen einzelner Bundesstaaten, in denen er besonders knapp verloren hat. Er bestellt rechtswidrig Abgeordnete aus Pennsylvania ins Weiße Haus ein – erfolglos. Er ruft Gouverneure an – ebenfalls erfolglos. Er lässt Republikaner in Schlüsselstellungen von Dritten erpressen. Er stilisiert sich als Opfer, verlangt „Fairnis“ für sich. Sein Team beginnt eine Spendenkampagne „für Kundgebungen und andere Dinge, die wir vorbereiten.“ Bis zur endgültigen Wahlfeststellung bleiben knapp zwei Monate Zeit, um noch Einfluss zu nehmen.

Derweil werden bizarre Details über Donald Trumps Amtsführung und seinen immerwährenden Durst auf Bestätigung bekannt: Offenbar wurden dem Präsidenten deshalb regelmäßig Informationen vorgelegt, die die Tatsachen stark beschönigten. Die ehemalige Militärärztin Deborah Birx hat beispielsweise die Bemühungen gegen die Pandemie koordiniert. „Trump präsentierte bei Briefings Grafiken, die ich nicht erstellt hatte“, sagte Birx im TV-Interview mit CBS-Journalistin Margarete Brennan: „Ich denke, dass jemand eine Art Parallel-Set an Daten für den Präsidenten erstellte. Ich weiß bis heute nicht, wer das gewesen sein könnte.“ Offenbar fürchteten die engen Mitarbeiter Trumps Wutanfälle so sehr, dass sie lieber als Überbringer guter Nachrichten vor ihn treten wollten.

Je knapper die Zeit wird, desto aggressiver werden Trumps Maßnahmen. Er ruft den Wahlleiter des Staates Georgia, Innenminister Brad Raffensperger an und verlangt von ihm, genügend Stimmen „zu finden“, die ihn zum Wahlsieger machen. Als dieser sich weigert, bedroht ihn der Präsident. Das Telefonat wird mitgeschnitten und verursacht enorme Empörung. Als Justizminister William Barr schließlich gegen den Willen Trumps öffentlich bekannt gibt, die Wahl sei rechtens verlaufen, muss er zurücktreten. Sein Stellvertreter Jeffrey A. Rosen wird Nachfolger, weigert sich aber ebenfalls, das Recht zu beugen. Der Plan, Rosen aus dem Amt zu drängen und einen Trump-Unterstützer, Anwalt Jeffrey Clark, zum Justizminister zu machen, kommt nicht mehr zustande. Clark sollte die Landesregierung Georgias zwingen, die Wahl für ungültig zu erklären. Nun erwartet Trump, dass sein Vizepräsident Pence die endgültige Feststellung des Wahlergebnisses verhindert. Aber auch dieser Mann, der vier Jahre lang zu allem, was der Präsident tat oder sagte, nur mit leuchtenden Augen genickt hatte, weigert sich, obwohl er von Trump laut schreiend übelst beschimpft wird. Damit hat Pence vier Jahre unverbrüchlicher Treue zu seinem jähzornigen Dienstherrn mit einem Schlag aus dessen Gedächtnis gewischt und durch mörderischen Zorn ersetzt.

Kurz vor Weihnachten soll es im Oval Office zu einer chaotischen Versammlung unter anderem mit der Anwältin und QAnon-Unterstützerin Sydney Powell, Ex-General Michael Flynn, Emily Newman, Patrick Byrne und Präsident Trump gekommen sein. Michael Flynn war von Trump erst wenige Tage zuvor per Begnadigung aus dem Gefängnis geholt worden. Nun soll er versucht haben, den Präsidenten von extremen Maßnahmen zu überzeugen, um seine Macht zu erhalten. Anwältin Powell wollte gleichzeitig erreichen, dass der nationale Notstand ausgerufen und sie selbst zur nationalen Sicherheitsberaterin ernannt würde. General Flynn soll bei dem Treffen mehrfach ausgerastet sein und Sicherheitsberater Herschbach angeschrien haben, er sei ein Feigling – unter anderem deshalb, weil dieser Beweise für Behauptungen verlangt hatte, dass Software des Wahlmaschinenherstellers Dominion von ausländischen Kräften manipuliert worden sei.

Als sich am 6. Januar der Kongress im Kapitol trifft, um endgültig Joe Biden als Wahlsieger zu erklären, hält Trump vor Tausenden seiner Anhänger eine Rede vor dem Weißen Haus und fordert sie auf, zum Kapitol zu marschieren. Die tun das auch und stürmen aggressiv das Gebäude. Fünf Menschen sterben. Ein Video von Donald Trump junior zeigt, wie das Team Trump fröhlich den Sturm beobachtet. Der Präsident soll gespannt und aufgeregt gewesen sein, begeistert, dass seine Fans sich so für ihn einsetzen – und gar nicht verstanden haben, warum es den meisten seiner Mitarbeitern nicht so ging. Wenig später wird bekannt: Das Wahlkampfteam Trumps soll über zwei Jahre hinweg knapp drei Millionen US-Dollar in Gruppen investiert haben, die am Sturm aufs Kapitol beteiligt waren. Unter den ausschließlich weißen Anhängern des Präsidenten waren viele bekannte Anhänger rechter Gruppen. Noch in der selben Nacht hält der Präsident eine Rede, in der er seine Fans aufruft, friedlich zu sein. Gleichzeitig bestätigt er ihnen aber, dass er sie verstehe und liebe.

Das war der Versuch eines Staatsstreiches, sind sich anschließend nicht nur Demokraten, sondern auch etliche republikanische Abgeordnete sicher. Damit Donald Trump nie wieder ein Staatsamt inne haben kann und nebenbei auch Präsidentenpension, -büro und -stab verliert, starten die Demokraten ein zweites Impeachment, obwohl dem Präsidenten nur noch wenige Tage im Amt bleiben. Nun beginnt ein Machtkampf Trumps mit seiner eigenen Partei, den Republikanern. Er nimmt sich die Abgeordneten, die ihn kritisiert haben, einzeln vor und droht ihnen, keinen Fuß mehr auf den Boden zu bekommen. Er droht seiner Partei unter anderem, mit Hilfe seiner millionenfachen Anhängerschaft eine neue Partei zu gründen, was den Republikanern im bestehenden Zwei-Parteien-System den Boden entziehen würde.

Nach dem Sturm auf das Kapitol und der anschließenden umfassenden öffentlichen Empörung werden die letzten Tage im Amt für Donald Trump einsam. Facebook und Twitter haben ihm sein Sprachrohr zu seinen Fans weg genommen, und Amazon entzieht jetzt auch dem Netzwerk Parler die Arbeitsgrundlage, indem es sich weigert, dieses weiter über seine Server zu hosten. Ein großer Teil der Fangemeinde schafft es, rechtzeitig zu Telegram überzusiedeln, wo alle verzweifelt darauf warten, dass ihr Held doch noch einen Weg findet, seine zweite Amtszeit anzutreten. Gleichzeitig wird dieser zur tragischen Figur: Gleich mehrere Banken trennen sich von ihm, darunter auch die Deutsche Bank, die noch hunderte Millionen Kredite von ihm hält. Die Stadt New York entzieht seinem Unternehmen mehrere lukrative Verträge. Auch der Golfverband PGA hat das nächste Turnier in Trumps Resort in Florida abgesagt. Die dortigen Clubmitglieder verschwinden reihenweise, nachdem Mar-A-Lago den präsidialen Glanz verloren hat. Der Name Trump ist plötzlich keine angesehene Marke mehr, erscheint nicht mehr „too big to fail“. Dazu ordnet das Gericht an, dass Trump innerhalb von drei Tagen seine Steuerunterlagen herausgeben muss. Das hatte er über vier Jahre hinweg erfolgreich verhindern können.

Trump wird hektisch aktiv: Nachdem er in seiner Amtszeit die Todesstrafe auf Bundesebene wieder eingeführt hat, lässt er in seiner letzten Amtswoche noch schnell das das 12. Todesurteil, das einer Frau, vollstrecken. Er erlaubt unter anderem auf den letzten Drücker die Ölförderung in den Naturschutzgebieten Alaskas, ordnet neue Sanktionen gegen China an, schert sich aber keinen Deut um Corona-Impfungen oder eine ordentliche Amtsübergabe. Außerdem begnadigt der Präsident zahlreiche Verbündete, die sich verschiedener Verbrechen schuldig gemacht haben. Darunter sind auch mehrfache Mörder. Für Trump zählen nicht die Taten, die diese Leute begangen haben, sondern die Frage, wer loyal zu ihm stehen, bzw. ihm später noch nützlich sein wird. Von einer Begnadigung seiner selbst und seiner Familie ist nicht die Rede. Sein langjähriger persönlicher Anwalt, Mike Cohen vermutet jedoch, dass diese geheim ausgesprochen wurden und nur bei akutem Bedarf genutzt werden sollen.

Donald Trump erklärt, nicht an der Amtseinführung Bidens teilnehmen zu wollen. Er organisiert seinen eigenen Abschied auf einem Militärflughafen einige Stunden vor Bidens Festakt und verspricht den wenigen erschienenen Fans, unter ihnen auch seine Kinder mit Tränen in den Augen: „We will be back in some form.“ Seine kampfbereiten Anhänger verfolgen Bidens Amtseinführung, trösten sich gegenseitig auf Telegram und hoffen bis zur letzten Minute auf ein Wunder. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich auf das Versprechen zu verlassen: „We will be back in some form.“

Bidens Amtsübernahme verläuft Corona-bedingt mehr als ruhig: Nur tausend geladene Gäste verfolgen das Spektakel, unter ihnen der ehemalige Vizepräsident Mike Pence. Der fürchtet seit dem Sturm auf das Kapitol um sein Leben und hat sich die meiste Zeit zuhause eingebunkert. Als die Bidens ins Weiße Haus gehen wollen, stehen sie vor verschlossenen Türen: Die Trumps haben als letzten Gruß dafür gesorgt, dass niemand da war, der sie von innen hätte öffnen können. Das sorgt für einen kurzen, peinlichen Moment des Stillstands im sonst so ausgefeilten Programm. Donald Trump sitzt zu diesem Zeitpunkt feixend in Florida vor dem Fernseher.

In welcher Form man demnächst von Trump hören wird, fragt man sich auch in Washington, denn allen ist klar, dass der Entthronte auf Rache sinnt. Donald jr. hat bereits die Einrichtung eines eigenen Messengers angekündigt: „Freedom“ soll er heißen. Dabei soll es aber nicht bleiben: Die republikanische Partei fürchtet vor allem, dass der Ex-Präsident seine eigene „Patriot“-Partei gründet. 74 Millionen Unterstützer fallen schwer in die Wagschale. Trump selbst droht mit allem, was er in den Händen hat, und seine Partei, von der große Teile den Aufstand im Kapitol missbilligen, steht vor einem Dilemma: Was tun im Impeachment-Verfahren?

Mar -A-Lago in Florida

„The Office of the Former President“ wird offiziell eröffnet – per Pressemitteilung. Angesiedelt ist es – so heißt es – im Palm Beach County in Florida. Dort liegt auch Trumps Golf-Anwesen Mar-A-Lago, das er zum Ärger der dortigen Nachbarn als neuen dauerhaften Wohnsitz gewählt hat, und dort eröffnet wenig später auch seine Frau das „Office of Melania Trump“. Von Donald Trumps Office aus sollen künftig öffentliche Auftritte, offizielle Aktivitäten und Erklärungen sowie das „Erscheinungsbild“ Trumps organisiert und koordiniert werden. „Präsident Trump wird für immer ein Champion für das amerikanische Volk sein“, heißt es dazu in der Mitteilung. Russ Vought, ehemals Leiter von Trumps Verwaltungs- und Finanzbüro, wird laut US-Medienberichten zwei Think Tanks ins Leben rufen, die dem Ex-Präsidenten die ideologische Munition liefern sollen, mit der er seine politische Haltung und seine Ziele auf der öffentlichen Tagesordnung halten kann. Wie genau Trump sich positioniert, hängt vom Ausgang des Impeachment-Verfahrens ab, für das sich der Senat auf Druck der Republikaner zwei Wochen Zeit genommen hat. Es fällt damit bereits in die Amtszeit Joe Bidens. Stimmen die Abgeordneten nicht zu zwei Dritteln zu (wozu sie 17 republikanische Stimmen brauchen), kann Trump 2024 erneut versuchen, Präsident zu werden. Geht das zweite Impeachment aber durch, muss er völlig andere Wege gehen. Gedacht ist dann unter anderem auch an den Aufbau eines Medienimperiums, mit der er seine eigenen Botschaften unter’s Volk bringen kann.

Die zehn republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus, die zusammen mit den Demokraten für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump gestimmt hatten, sehen sich großem Druck aus den eigenen Reihen, öffentlich, wie auch hinter den Kulissen, ausgesetzt. So reist beispielsweise einer der wichtigsten Verbündeten von Donald Trump, der Republikaner Matt Gaetz aus Florida, nach Wyoming, um die Abgeordnete Liz Cheney zu rügen, die im Repräsentantenhaus für die Eröffnung des Impeachment-Verfahrens gestimmt hat.  Trumps Leute bedrohen die eigenen Parteimitglieder, sich ja nicht für das zweite Impeachment auszusprechen. Einige von ihnen fürchten danach um ihr Leben. Nach Mar-A-Lago eingeladen wird dagegen die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, die QAnon offen unterstützt, sich daher mit Rücktrittsforderungen der Demokraten konfrontiert sieht und wenig später aus wichtigen Ausschüssen entfernt wird.

Eine, freundlich ausgedrückt, ambivalente Rolle spielt der Fraktionsvorsitzende im Senat, Mitch McConnel. Der Mann, der in einer ersten Reaktion auf den Sturm des Kapitols ebenfalls Donald Trump beschuldigt hatte, verteidigt diesen nach einem Gespräch in Mar-A-Lago. Der Mann, der nach innen die Partei warnt: „Verrückte Lügen und Verschwörungstheorien sind ein Krebsgeschwür für die Republikanische Partei und unser Land“, verteidigt die rechtsextreme QAnon-angehörige Marjorie Taylor Greene nach außen als „große Führungspersönlichkeit“. Dahinter steht nicht nur deutliche Angst vor der Wut des ehemaligen Präsidenten, der auch weiterhin eine Führungsrolle in der Partei behalten will: Auch Mitch McConnel will seinen einflussreichen Posten behalten.

Schon wenige Tage nach der Entscheidung des Senats, das Verfahren um zu vertagen, beantragt Senator Rand Paul, das Impeachment für verfassungswidrig zu erklären. 45 der 50 Republikaner stimmen dafür, auch Fraktionsführer Mitch McConnell. Inzwischen spricht die Homeland Security eine seltene nationale Terrorwarnung aus: Trumps Unterstützer vom Sturm des Kapitols machen erneut mobil. Verwaltungen sollen gesichert werden und Ladenbesitzern wird geraten, jedes Zeichen ihrer Kritik an Trump-Supportern zu entfernen. Die Biden-Administration hält Donald Trump inzwischen für so gefährlich, dass sie ihm die geheimdienstlichen Briefings entzieht.

Der Ex-Präsident will im zweiten Amtsenthebungsverfahren erneut den Fokus darauf setzen, dass die Wahl manipuliert und er der eigentliche Gewinner sei. Seine erste anwaltliche Vertretung quittiert deshalb den Dienst. Beide Parteien wollen möglichst schnell zu einem Ende kommen, um die Amtsführung des neuen Präsidenten nicht zu belasten. Die Ankläger präsentieren dem Senat neue erschütternde Videos, die eindeutig beweisen, dass Donald Trump den Sturm auf das Kapitol von langer Hand geplant und am 6. Januar auch initiiert hat. Eine Zeugin geht an die Öffentlichkeit und berichtet von hilfesuchenden Anrufen seiner eigenen Parteimitglieder während des Sturms, die darauf hinwiesen, dass sein Stellvertreter Mike Pence in Lebensgefahr war. Er rührte keinen Finger, um das Geschehen zu stoppen, twitterte statt dessen: „Es gibt offenbar Menschen, die sich stärker für Gerechtigkeit interessieren als Mike Pence. Mike Pence hatte nicht den Mut, zu tun, was hätte getan werden müssen, um unser Land und unsere Verfassung zu schützen.“ Es wird auch bekannt, dass der scheidende Präsident versucht hat, Protokolle zahlreicher geheimer Telefonate unter anderem mit Russlands Staatschef Putin in den Archiven zu verstecken.

Als es zur Abstimmung über das Impeachment kommt, entscheiden sich die Republikaner mehrheitlich dafür, dass man einen Privatmann nicht mehr vom Präsidentenamt entfernen könne, weil er es ja nicht mehr inne hat. Nur sieben von ihnen stimmen mit den Demokraten – zehn zu wenig. Auch Fraktionschef Mitch McConnell, der gleichzeitig Donald Trump eindeutig schuldig erklärt, findet, dass man ihn als Privatmann von Staats wegen nicht mehr belangen kann. Wer es wolle, könne den Ex-Präsidenten ja auf ziviler Ebene wegen Verfehlungen im Amt verklagen. Trump wird erneut nicht verurteilt und meldet sich umgehend jubelnd zu Wort: Er habe in der größten Hexenjagd der Geschichte obsiegt. Die Zeit von MAGA (Make America Great Again) habe gerade erst begonnen, sagt er. Die Drohung wird allseits als solche wahrgenommen.

In den Bundesstaaten beginnen bereits Strafaktionen aus den eigenen Reihen gegen Republikaner, die sich gegen Trump ausgesprochen haben. Wird Donald Trump 2024 wieder kandidieren? Es gibt Stimmen, die glauben, dass er mit der Vergeltung an all denen, die nicht loyal zu ihm standen, auf lange Zeit beschäftigt sein wird. Mit Mitch McConnell hat er bereits angefangen: „Mitch ist eine mürrische, übellaunige, nie lächelnde politische Fehlbesetzung, und wenn die republikanischen Senatoren an ihm festhalten, werden sie nicht nochmal gewinne,“ erklärt Trump und macht McConell damit eine Kriegserklärung. Die Partei soll entscheiden, wem sie in Zukunft folgen will. Und das ist erst der Anfang.

Ob Donald Trump weiter politisch tätig sein kann, hängt jedoch auch davon ab, dass er seine Freiheit behalten kann. Das ist zurzeit keineswegs sicher, denn es warten eine Vielzahl von Gerichtsverfahren auf ihn. Ein weiteres ist frisch dazu gekommen: Der Bundesstaat Georgia klagt ihn wegen des Versuchs der nachträglichen Wahlmanipulation an. Auch seine Organisation des Aufstands am Kapitol kann vor zivilen Gerichten noch verfolgt werden. Mit einer Selbstbegnadigung könnte er sich nur vor einem Teil der Verfahren retten. Eine der Klagen kommt aus der eigenen Familie: Nichte Mary Trump zieht in einem Erbschaftsstreit gegen den Onkel vor Gericht. In der in New York eingereichten Klage wird Donald Trump und anderen Mitgliedern der Familie vorgeworfen, Mary Trump um einen Erbanteil im zweistelligen Millionenbereich betrogen zu haben.

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Mary Trump

So wurde Donald Trump geprägt

Wie wird ein Mensch zu einem derart zerstörerischen, malignen Narzissten? Bei Donald Trump gibt es gleich zwei Gründe dafür: Sein Vater war ein Soziopath, und er selbst lernte in seiner Kindheit, dass es keine bedingungslose Liebe gibt. Wer anerkannt werden will, so die Lektion des Kindes Donald, muss etwas dafür leisten. Er muss sich durchsetzen und siegen, siegen, siegen.

Zuviel und nie genug – wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf“ heißt das 240 Seiten starke Buch von Mary Trump, das am 14. Juli 2020 erschien und sofort millionenfach verkauft wurde. Mary Trump ist die Tochter von Donald Trumps Bruder Fred Trump Jr., der 1981 im Alter von 43 Jahren starb. Sie erzählt die Lebensgeschichte der Brüder in einem Werk, das Einblicke in eine toxische Familie vermittelt, wie es sie zuvor nicht gab.

Mary Trump ist eine verbitterte Frau. Zu lange fühlte sie sich im Trump-Clan zurückgesetzt, zu sehr schmerzt sie noch heute der unwürdige Tod, den ihr Vater wegen der Empathielosigkeit seiner Eltern und Geschwister starb. Aber neben einem Master in englischer Literatur führt sie auch einen Doktortitel in klinischer Psychologie. Diese Kombination macht ihr Buch so spannend: Einerseits erfährt der Leser sehr viele Details aus dem Leben des Präsidenten, andererseits ist das Buch eine Studie zum Thema Narzissmus und Soziopathie. Wie wird ein Narzisst ein solcher – und wie entwickelt sich aus einer vererbten Anlage das Vollbild eines Soziopathen? Das zu beschreiben gibt es kaum geeignetere Menschen, als die Autorin. Sie unterrichtete an Universitäten Trauma, Psychopathologie und entwicklungsgemäße Psychologie.

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Donald Trump (ganz links) mit seinen Geschwistern Fred, Elisabeth, Maryanne und Robert.

Donald Trump ist das vierte von fünf Kindern: Nach Fred (im Folgenden Freddy genannt), Elisabeth und Maryanne kam er vor seinem Bruder Robert am 14. Juni 1946 im Stadtteil Queens/New York zur Welt. Er hat in seiner Kindheit zwei Traumata erlebt, die ihn maßgeblich geprägt haben. Donald war zweieinhalb Jahre, sein jüngster Bruder Robert neun Monate alt, als die Geschwister eine Katastrophe traf: Mitten in der Nacht fand die zwölfjährige Maryanne ihre Mutter Mary bewusstlos in einer Blutlache. Vater Fred schaffte seine Frau umgehend ins beste Krankenhaus New Yorks, wo man feststellte, dass es nach der Geburt Roberts unentdeckte Komplikationen im Unterleib gegeben hatte. Fast einen Tag lang schwebte die Mutter in Lebensgefahr. Die folgenden sechs Monate musste Mary Trump im Krankenhaus bleiben, danach blieb sie dauerhaft leidend. Besonders den beiden Jüngsten, Donald und Robert, fehlte dadurch in einer entscheidenden Zeit ihrer Entwicklung eine liebende Bezugsperson.

Fred und Mary führten eine schwierige Ehe: Fred Trump, ein Mann ohne jede Empathie, war völlig auf seine Arbeit konzentriert. Ehefrau Mary-Anne, ebenfalls sehr ehrgeizig, war emotional hoch bedürftig. Sie nutzte ihre Kinder, um ihr Bedürfnis nach Zuwendung zu befriedigen und stellte sich selbst regelmäßig als Opfer oder gar Märtyrerin dar. Nach ihrem Krankenhausaufenthalt verstärkte sich dieses Verhalten. Besonders Donald und Robert wurde durch den nicht anwesenden Vater und die selbstzentrierte Mutter ein wichtiges Grundgefühl versagt, das jedes Kind für eine positive Entwicklung unbedingt braucht: Emotionale Sicherheit durch positives Feedback und das Gefühl, geliebt zu werden. Das prägte ihn für sein ganzes Leben.

Auch das zweite Trauma begleitet den heute 74jährigen noch immer. Es heißt Fred Trump sr., den Mary Trump einen „hochgradig funktionieren Soziopathen ohne jedes emotionale Bedürfnis“ nennt. „Symptome von Soziopathie sind das Fehlen von Empathie, eine Veranlagung zum Lügen, Gleichgültigkeit gegenüber Recht und Unrecht, ein falsches, missbräuchliches Verhalten und fehlendes Interesse an den Rechten Anderer. Wenn ein Kind ein soziopathisches Elternteil hat und niemand da ist, der die Wirkung dieses Verhaltens abmildern könnte, sind ernste Störungen im Selbstbild der Kinder, in der Art, wie sie ihre Gefühle einordnen und wie sie sich mit der Welt auseinander setzen, garantiert,“ schreibt die Autorin.

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Donald Trump 1951

Besonders die beiden jüngsten Kinder, Donald und Robert litten unter dem völligen Mangel an Interesse ihres Vaters. Je größer ihre emotionale Not war, desto mehr stieß Fred Trump sie zurück. Er hasste es, wenn man etwas von ihm verlangte, und die Belästigung, als die er die Bedürfnisse seiner beiden jüngsten Kinder empfand, sorgte für eine gefährliche Spannung im Hause Trump: Donald und Robert lernten, jede Form von Bedürftigkeit gleichzusetzen mit Demütigung, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. „Kindesmissbrauch ist oft die Erfahrung von ‚zuviel‘ oder ’nicht genug‘. Donald erlebte die Erfahrung von ’nicht genug‘, indem er in einer wichtigen Phase seiner Entwicklung den Kontakt zu seiner Mutter verlor, was ihn tief traumatisierte. Ohne Vorwarnung gab es niemanden mehr, der sich um seine Bedürfnisse kümmerte, der seine Ängste und Sehnsüchte gelindert hätte.

Donald erlebte Entbehrungen, die ihn für den Rest seines Lebens ängstigen würden,“ schreibt Mary Trump. „Die Persönlichkeit, die er daraufhin entwickelte, indem er Züge von Narzissmus, ein schikanierendes, grandioses Verhalten an den Tag legte, sorgte schließlich dafür, dass sein Vater Notiz von ihm nahm – aber nicht auf eine Weise, die in irgendeiner Form das Entsetzen in ihm abmildern konnte.“ Als er dann älter wurde, erlebte Donald sozusagen ‚aus zweiter Hand‘ das ‚zuviel‘. Er beobachtete, was mit seinem ältesten Bruder Freddy geschah, als dieser zu viel Aufmerksamkeit von seinem Vater bekam, unter zu hohen Erwartungen, und vor allem zuviel Demütigung leiden musste und schließlich kapitulierte.

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Fred Trump 1950

Vater Fred interessierte sich nur für seine Kinder, wenn diese seinen eigenen Bedürfnissen dienten. Liebe bedeutete ihm nichts, er konnte ihre Not nicht nachempfinden, was ein wesentliches Kennzeichen für einen Soziopathen ist; er erwartete Gehorsam, das war alles. Kinder können solche Unterscheidungen nicht machen, also dachten seine Kinder, ihr Vater liebe sie – oder sie könnten sich seine Liebe irgendwie verdienen. Sie fühlten aber auch, dass die ‚Liebe‘ ihres Vaters, so, wie sie sie erfuhren, niemals vorbehaltlos war.

Um damit irgendwie zurecht zu kommen, entwickelte Donald machtvolle, aber primitive Verteidigungshaltungen, die sich in zunehmender Feindseligkeit gegenüber Anderen und scheinbarer Gleichgültigkeit gegenüber der Abwesenheit seiner Mutter und der Vernachlässigung durch seinen Vater äußerten. Obwohl ihn das von den schlimmsten Auswirkungen seines Schmerzes schützte, machte es ihm auch extreme Schwierigkeiten, seine emotionalen Bedürfnisse zu erfüllen, weil er sich angewöhnte, so zu handeln, als gäbe es sie nicht. Mit der Zeit entwickelte er ein aggressives, respektloses, tyrannisches Verhalten, das anfangs seinen Zweck erfüllte, später aber immer problematischer wurde. Es prägte zunehmend seine Persönlichkeit, denn es sorgte dafür, dass Vater Fred auf seinen lauten und schwierigen Sohn aufmerksam wurde. Er lobte ihn und ermutigte ihn zu diesem Auftreten, das ihn immer weniger liebenswert machte – das direkte Ergebnis von Freds Missbrauch.“

Fred Trump hatte schon im Alter von 12 Jahren die Geschäfte seines Vaters Friedrich übernommen, der an der spanischen Grippe gestorben war. Mit 25 lernte er auf einer Tanzveranstaltung seine künftige Frau Mary kennen und wusste sofort, dass er sie und keine andere wollte. Die Rollen der beiden waren von Anfang an klar: Fred würde arbeiten – meist mehr als 12 Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche – sie würde sich um Haus und Kinder kümmern. Fred Trump wurde immer erfolgreicher, knüpfte Netzwerke mit den Mächtigen und Entscheidern, kaufte und renovierte sich ein Millionenvermögen an Immobilien zusammen und achtete immer sorgfältig darauf, so wenig wie möglich Steuern zu bezahlen. Er selbst brauchte wenig für sich, und die Familie, die zwar im eigenen, extra erbauten Haus wohnte, führte ein relativ bescheidenes Leben.

Aber so erfolgreich Fred auch war: Er war kein begabter Redner, kannte sich mit den Feinheiten der Sprache nicht aus. Er zog es vor, im Hintergrund die Strippen zu ziehen. Davon abgesehen, hatte der Patriarch ein unzerstörbares Selbstvertrauen: Er war reich, weil er es verdiente, reich zu sein. Punkt. Nun wollte er einen Nachfolger aufbauen, der die erfolgreichen Geschäfte fortsetzte. Der sollte über das gleiche Selbstvertrauen verfügen, aber außerdem das Unternehmen so sprachgewandt wie optisch ansprechend in der Öffentlichkeit präsentieren und gleichzeitig knallhart das jeweils beste Geschäft durchsetzen.

Freddy Trump mit Mutter

Der älteste Sohn Freddy war dafür denkbar ungeeignet: Er war freundlich, mitfühlend, er liebte seine Freunde, das Tiefseefischen und das Fliegen. Freddy mühte sich redlich, seines Vaters Erwartungen zu erfüllen, wurde aber immer wieder gedemütigt und degradiert. Dazu kam, dass er eine einfache Frau heiratete, die der Vater nicht billigte. Mit Linda bekam er Tochter Mary und Sohn William, der von Geburt an unter spastischen Lähmungen litt.

Verzweifelt und immer wieder vergeblich bemühte sich Freddy um die Anerkennung des Vaters. Ein einziges Mal versuchte er, sich von dieser Bürde zu befreien: Er machte den Pilotenschein für Verkehrsmaschinen und begann, hauptberuflich zu fliegen. Sein Vater nannte das verächtlich „Busfahrer der Lüfte“. Da war Freddy schon Alkoholiker. Kaum ein Jahr flog er, dann sorgte sein Alkoholkonsum dafür, dass er nirgendwo mehr eine Anstellung fand und reumütig in die Firma zurückkehrte.
Donald hatte das Geschehen genau beobachtet und beschloss, niemals den Fehler zu machen, zu weich zu sein. Er würde den Killerinstinkt beweisen, nach dem der Vater verlangte, und er würde sich brillierend in der Öffentlichkeit präsentieren. Noch war es aber nicht soweit: Erstmal wurde der junge Donald ein lauter, brutaler und gemeiner Rüpel, der seinen jüngeren Bruder Robert schikanierte, seiner Mutter nicht gehorchte und in der Schule immer wieder randalierte – so lange, bis sein Vater ihn in ein Militär-Internat schickte.

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Donald in der Militärakademie

Danach ging alles sehr schnell: Donald überflügelte Freddy im Schnellverfahren und wurde von seinem Vater systematisch aufgebaut: Mit den Jahren kreierte Fred den Mythos seines Sohnes vom erfolgreichen Selfmade-Geschäftsmann, der das Trump-Unternehmen nach außen vertrat.

Von Anfang an leistete sich der junge Mann dabei einen opulenten Lebensstil, den der Vater wortlos finanzierte. Es folgte eine aus Sicht des Vaters fruchtbare Zusammenarbeit: Sohn Donald wurde das Gesicht des Unternehmens und er selbst konnte in Ruhe die Strippen im Hintergrund ziehen. Das ließ er sich Millionen kosten. Sohn Freddy sank gleichzeitig immer tiefer im Unternehmen und kam vom Alkohol nicht mehr los. Das zerstörte die Ehe mit Linda. Während Ivanka Trump, Donalds erste Frau, jedoch bei der Scheidung mit 25 Millionen abgefunden wurde, erhielt Linda gerade mal 600 Dollar im Monat. Die Ausbildung von Mary und William, sowie die gesamte Krankenversicherung von Freddys Familie zahlte das Unternehmen. Als Freddy nicht mehr in der Lage war, allein zu leben, zog er zurück ins „Haus“, wie das Anwesen der Eltern von der ganzen Familie genannt wurde. Er bekam das schäbigste Zimmer ohne direktes Sonnenlicht, wo er mit seinem Kofferradio völlig vereinsamt seine Tage verbrachte.

Als Freddy zum Sterben ins Krankenhaus gebracht wurde, war niemand aus der Familie bei ihm: Die Eltern saßen wie gewohnt zuhause und Donald ging mit Schwester Elisabeth ins Kino. Tochter Mary wurde in ihrer Schule erst benachrichtigt, als ihr Vater bereits tot war. Wenig später begann der Clan, den Erstgeborenen auszuradieren: Die Krankenkasse für seine Familie wurde nicht mehr bezahlt und man zwang seine Kinder, ihre wenigen Anteile der Firma, von denen sie überhaupt wussten, für gerade mal 200 000 Dollar an die Verwandten zurück zu geben.

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William mit Vater Freddy Trump

Ohne finanzielle Absicherung der 24-Stunden-Pflege für den von Geburt an schwer behinderten Bruder William war dieser in ständiger Gefahr, plötzlich zu sterben. Freddies Familie verklagte das Unternehmen, das daraufhin die Krankenversicherung für William wieder übernahm.

In der Folge schildert Mary Trump detailreich eine große Zahl von Aktivitäten ihres Onkels und dessen Umfeld, mit vielen Geschäften am äußersten Rand der Gesetze, mit Zahlen und Gerichtsurteilen. Niederlagen akzeptierte ihr Onkel nur, wenn absolut keine andere Möglichkeit mehr offen stand – und dann verwandelte er sie für die Öffentlichkeit in eine Erfolgsgeschichte.

Patriarch Fred Trump verbrachte seine letzten Jahre in zunehmender Demenz. Kurz bevor der Vater starb, startete Sohn Donald einen großen Coup: Er versuchte, den alten Mann ein geändertes Testament unterschreiben zu lassen. Dies hätte das gesamte Immobilienunternehmen allein in seine Hände übergehen lassen. Im letzten Moment bemerkten die Geschwister die Absicht und vereitelten sie. Als Donald ohne die finanziell ausgleichende Hand seines Vaters Geschäfte machte, liefen diese deutlich schlechter als zuvor. Mehrmals musste er Insolvenz anmelden, und noch heute stapeln sich seine Schulden auf insgesamt 1,1 Milliarden Dollar. Dass die Banken ihn immer wieder auffingen, verdankte er einem einzigen Umstand: Er und seine Marke waren „too big to fail.“

„Donald ist heute noch wie ein dreijähriges Kind; unfähig zu wachsen, zu lernen oder sich zu entwickeln, unfähig, seine Gefühle zu kontrollieren, sachbezogen zu antworten oder Informationen zu sammeln und einzuordnen,“ sagt Mary Trump in ihrem Buch. „Seine tief sitzende Unsicherheit hat ein tiefes, schwarzes Loch voller Bedürfnisse in ihm erschaffen, die ständig das Licht von Komplimenten einfordern. Dieses Licht verschwindet, sobald er es in sich eingesogen hat: Nichts wird jemals genug für ihn sein.“

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