Kategorie: thinkabouts

Nichts ist unmöglich …

Ein Leben lang traurig: Ein Mann isst sich über Jahre zu Tode

Schwül und warm bei oft bedecktem Himmel war der Sommer 1961. So war auch der Sonntag, 21. August, als die junge Mutter zuhause in den Wehen lag. Ewig zogen sich die Stunden dahin, immer wieder unterbrochen von schweren Blutungen. Die Hebamme war so besorgt, dass sie einen Boten zur Post schickte, dem Bauernhaus, in dem das einzige Telefon des Dorfes war, um den Hausarzt zu rufen. Zusammen arbeiteten sie daran, die junge Frau bei Bewusstsein zu halten, bis es endlich soweit war: Ein kleiner Junge mit merkwürdig bräunlicher Haut erblickte das Licht der Welt und war so erschöpft, dass er nicht schreien wollte. Regelrecht handgreiflich werden musste der beleibte, burschikose Hausarzt, bis sich das Kind entschloss, endlich zu atmen und ein leises, stotterndes Geräusch von sich gab. „Mein Gott, was für ein meckerndes Etwas“, kommentierte der Vater, bevor er das obligatorische Foto machte: Seine völlig erschöpfte Ehefrau mit dunklen Ringen unter den Augen, den Neugeborenen im Arm, daneben der ausgestopfte Reiher. Als Ersatz für den Klapperstorch, sozusagen.

Gerd war das dritte Kind seiner Mutter. Weil das zweite vor der Geburt gestorben war, nahm er nun dessen Platz ein. Er hatte eine massive Gelbsucht und Rachitis, als er zur Welt kam – und damit hatte er noch Glück gehabt: Erst im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte seine Frau das Einschlafmittel Contergan genommen. Später wurde bekannt, wie sehr dieses Medikament Kinder im Mutterleib geschädigt hatte: Vielen Neugeborenen fehlten Gliedmaßen, etliche kamen gehörlos oder mit anderen Organschädigungen zur Welt. Krankheit sollte dennoch auch zu Gerds zweitem Vornamen werden.

Ursprünglich wollte der Vater genug Kinder für eine Fußballmannschaft zeugen. Aber es sollte sich zeigen, dass seine neun Jahre jüngere Frau das anders sah. Drei Jahre nach Gerd kam Volker zur Welt. Er war ein Junge, wie ihn sich der Vater erträumt hatte: laut, wild, leidenschaftlich. Schön anzusehen war der dralle Junge mit seinen dunklen Augen, seinen schwarzen Haaren und den roten Bäckchen. Beide Eltern waren begeistert von ihm. Gerd hatte es dagegen schwer: Der weißblonde Junge mit seinen grünen Augen war zart, ängstlich und von schwacher Gesundheit. Der strenge, laute Vater, der ihn so oft verächtlich ansah, verursachte panische Angst in ihm. Als er endlich sprechen konnte, stotterte Gerd so sehr, dass kaum jemand verstand, was er sagen wollte.

„Was für ein Schlappschwanz“ sagte dann der Vater zu seiner Frau, und sah sie an, als sei sie lebenslang schuldig für dieses Kind. Das Urteil hatte Wirkung: Das Gefühl lebenslanger Schuld verließ die Mutter nie mehr. Nach langjähriger Therapie mit Calcium und einem Solarium kurierte sich die Rachitis aus, und Gerds Knochen entwickelten sich normal. Bis dahin fiel das Kind immer wieder über seine eigenen Füße und stieß sich dabei übel den Kopf. Eltern und Geschwister folgten dem Rat des Hausarztes und halfen Gerd, gegen den „Stotterwolf“ anzukämpfen. Mit den Jahren wurde seine Sprache flüssiger – außer, wenn er sich der Wut des Vaters ausgesetzt sah: Dann erstarrte er und brachte kein Wort heraus.

In den 1960er Jahren probierte die Regierung neue Schulsysteme und neue Unterrichtsmethoden aus. Statt in der Dorfschule wurde Gerd im Nachbarort eingeschult und einer neuen Lernmethode unterworfen: Statt einzelner Buchstaben sollte das Kind über ganze Wörter lesen und schreiben lernen. Die Folgen seiner langen Krankheit traten jetzt überdeutlich zu Tage: Gerd lernte langsam, vergaß viel und hatte dazu noch die liebe Not, die Wörter, die er morgens in der Schule gelernt hatte, nachmittags bei den Hausaufgaben aufzuschreiben.

Foto: Adobe Stock

1968 beschlossen die Eltern, in einem etwa 30 Kilometer entfernten Dorf ein Haus zu bauen. In ihrem derzeitigen konnten sie nicht bleiben, ein Haus zu kaufen war zu teuer, und in Breidesheim, wohin die Schwester des Vaters geheiratet hatte, waren die Bauplätze unschlagbar günstig: 5 Mark kostete der Quadratmeter im Neubaugebiet. Der letzte Bauplatz in der Straße lag an einem Nordhang, bot aber eine eindrucksvolle Aussicht über das Tal zu den Mittelgebirgen und auf grandiose Sonnenuntergänge. 105 000 Mark kostete das Fertighaus, das die junge Familie kaufte. Aber es würde zu wenig Platz bieten, wenn die Kinder größer würden. Deshalb entstand darunter ein Kellergeschoss mit Tageslichtfenstern nach Norden. Dieses musste gemauert werden, und fortan fuhr der Vater jeden Tag nach der Arbeit noch für einige Stunden auf die Baustelle, um Handlangerdienste zu verrichten.

Neun Jahre nach der Geburt der ältesten Schwester hatte ein viertes Kind das Licht der Welt erblickt: Noria lächelte viel, war sehr ruhig und wurde von ihrer Mutter zärtlich „Musche“ genannt. Auch hier gab es viele Schuldgefühle: Verzweifelt darüber, schon wieder schwanger zu sein, war die Mutter bewusst die Kellertreppe hinuntergefallen, in der Hoffnung, das Kind möge den Sturz nicht überleben. Der Fötus blieb dabei unbeschädigt, aber die junge Frau balancierte danach wochenlang mit Besen und Schrubber unter den Armen umher, weil sie sich einen Knöchel ganz furchtbar verstaucht hatte. Danach sprach sie offen mit dem Hausarzt: Wenn dieser ihr jetzt nicht diese neue Antibabypille verschreibe, werde sie sich bei der nächsten Schwangerschaft das Leben nehmen. Sie bekam die Pille.

Je knapper das Geld und je anstrengender der Hausbau wurde, desto stärker stieg die Spannung in der Familie. Eines morgens entlud sie sich beim Vater ganz unerwartet und einmalig: Gerade, als er zur Arbeit fahren wollte, brach er in Tränen und ein nicht enden wollendes Weinen aus. Die Mutter hielt ihn still im Arm. Dann ging der Tag weiter: Mit gewohnter Strenge und Disziplin. Vier Kinder, das älteste zehn, das jüngste ein Jahr alt, ein großes Haus, umgeben von einem großen Nutzgarten und ein Perfektion verlangender Gatte überforderten die Mutter zunehmend. Ganz besonders schlimm wurde es, wenn es nachmittags an die Hausaufgaben ging.

Dann saßen Caro, die Älteste, und Gerd am Küchentisch. Gerd musste beaufsichtigt werden, damit das mit dem Lesen und Schreiben auch funktionierte. Dabei blieb aber Hausarbeit liegen, und die Mutter fürchtete das strenge Urteil ihres Mannes. Wenn Gerd so gar nichts zustande brachte, wurde sie immer nervöser, immer ärgerlicher, und verlor immer wieder völlig die Façon. Dann ohrfeigte sie das Kind und schrie es an, es sein ein Ochse und ein Idiot – mit dem Ergebnis, dass der kleine Junge völlig erstarrte. Einmal kam der Vater zu einer solchen Szene dazu. Statt mäßigend einzuwirken, begann auch er zu schreien und Gerd zu schlagen. Cora fand das ungerecht und forderte die Eltern auf, die Misshandlung zu stoppen. Das war keine gute Idee: Auch sie bezog eine ordentliche Tracht Prügel.

Gerd wurde erneut schwer krank. Täglich besuchten ihn die Eltern im Krankenhaus, wo als erste Diagnose Leukämie gestellt wurde: Die Zahl der weißen Blutkörperchen war viel zu hoch. Die Mutter weinte nur noch, der Vater schwieg und schlug die Kinder, sobald diese einen Mucks machten. Aber der Junge erholte sich wieder. Die Ärzte hatten nicht herausgefunden, wo der Entzündungsherd in seinem Körper genau war, aber die Entzündung ging zurück. Das Kind lebte und kam wieder heim.

Am letzten Tag des Oktober 1969 zog die Familie ins neue Heim. Dort herrschte drangvolle Enge, denn der Keller konnte nicht sofort ausgebaut werden. Erst musste ein neuer Bausparvertrag voll bespart werden, das würde mindestens fünf Jahre dauern. So fanden sich die beiden Mädchen in einem winzigen Zimmer wieder, in das gerade so zwei Betten und ein Schrank passten, außerdem ein kleiner Schreibtisch. Die Jungen mussten in einem Etagenbett schlafen, sonst hätte der kleine Tisch für die Hausaufgaben nicht mehr in den Raum gepasst. Schmalhans war Küchenmeister, damit die Raten jeden Monat gezahlt werden konnten. Die Mutter hatte ebenfalls eine Arbeit angenommen: 12 bis 15 Nachtschichten im Monat.

Für die Kinder wurde das Leben zur Qual: Bis zum späten Nachmittag schlichen sie flüsternd durch Haus und Garten. Trotzdem beschwerte sich die Mutter, die grundsätzlich bei gekipptem Fenster schlief, täglich neu darüber, dass sie wegen des Kinderlärms nicht schlafen könne. Die schönen Stunden, in denen der Vater Märchen erzählte und mit den Kindern spielte, nahmen kontinuierlich ab, bis sie bei null waren. Die Prügel durch den Vater nahm kontinuierlich zu. Jeden Tag lag mindestens ein Kind auf dem Boden und schützte den Kopf vor seinen Fäusten. Nur Noria, die Kleine, blieb davon verschont. Gerd hatte in seiner Angst vor Strafe seine eigene Methode entwickelt, um sich zu schützen: Er log, dass sich die Balken bogen. Nur nicht schon wieder von den mächtigen hellgrünen Augen des Vaters verurteilt und zusammengeschlagen werden – dafür hätte der Junge alles getan. Körperlich schoss er in die Höhe und wurde zum Liebling der Frauen: Der schlaksige, blonde junge Mann mit seiner freundlichen Schüchternheit beeindruckte auch Coras Schulkameradinnen.

Als er endlich die Schule hinter sich gebracht hatte, verließ Gerd das Haus: Er verpflichtete sich zu zwei Jahren Bundeswehr. Hier endlich fand er einen Platz im Leben. Die Struktur, die Befehlskette, die Zusammengehörigkeit in der Truppe begeisterten ihn. Sein Rücken streckte sich, sein Blick wurde offener, und er konnte nun mit einem entschlossenen Ton auftreten. Das Leben war gut: Gerd unterschrieb für Z 12.

Foto: Bundeswehr

Klein, zart und empfindsam war seine langjährige Freundin: Auch Nathalie hatte einen Vater, der sie misshandelte. Nach der Schule verließ sie schnellstmöglich das Haus, um Musik zu studieren. Was sie später mit dem Studium anfangen wollte, wusste sie nicht so genau. Aber Musik war das wichtigste in ihrem Leben. Das merkwürdige Paar schien wunderbar miteinander zurecht zu kommen und unterstützte sich gegenseitig bei der Bewältigung der schlimmen Kindheitserfahrungen. Ein Hochzeitstermin wurde festgelegt.

Zwei Wochen vor der Hochzeit ein Aufschrei der Eltern: Gerd hatte sich in eine andere Frau verliebt und wollte Nathalie nicht mehr heiraten. Undenkbar sowas, wo doch die Gäste schon eingeladen und das Hochzeitsessen bestellt war. Die Mutter nahm sich der Sache an. Als sie mit ihm fertig war, war Gerd bereit, zu heiraten. Von der anderen Frau sprach er nie wieder. Auch in der Zukunft sprach er von Dingen, die er nicht ändern konnte, nie wieder, so wie er überhaupt persönliche Gedanken weitgehend für sich behielt. Er wurde nach Baden-Württemberg versetzt, das junge Paar zog dort hin und mietete sich in einem der drei Hochhäuser des Ortes ein. Später kauften die beiden dort eine Eigentumswohnung. Dort gab Nathalie an ihrem weißen Klavier Privatstunden. Sie suchte auch nach einer Anstellung und fand sie schließlich im örtlichen Edeka: Sie wurde zuständig für das Milch- und Käseregal.

Rückblickend waren die 12 Jahre bei der Bundeswehr die glücklichsten Jahre im Leben des jungen Mannes. Kein Wunder, dass er beschloss, sich nach deren Ende auf Lebenszeit zu verpflichten.

Aber es sollte anders kommen.

Auf dem Weg in die Kaserne kam dem Soldaten in einer Kurve ein Wohnmobil entgegen. Was genau passierte, konnte später nur mühsam in Teilen rekonstruiert werden. Jedenfalls zermalmte das Wohnmobil die komplette Fahrerseite des Fords und die komplette linke Körperhälfte Gerds. Schreckliche Diagnose im Krankenhaus: Gehirn gequetscht, Milz nicht mehr zu retten, Kiefer und linke Gesichtshälfte zertrümmert, linkes Ellenbogengelenk zertrümmert, linkes Bein ebenso. Die Ärzte nagelten und schraubten alles, so gut es ging zusammen. Aber ohne Ellenbogengelenk war der linke Arm nur noch begrenzt nutzbar, und die linke Wade blieb dauerhaft gelähmt.

Am schlimmsten war die Beschädigung des Gehirns: Die sozialen Fähigkeiten des jungen Mannes waren erheblich beeinträchtigt. An den Unfall selbst konnte er sich nicht erinnern. Dafür sprach er nun alles aus, was er auch dachte: „Du stinkst“ begrüßte er beispielsweise seine Frau, die zu seinem Ärger eine starke Raucherin war. „Hast du mal ein altes Buch aussortiert…“ kommentierte er ein Buchgeschenk seiner Schwester Cora, während seine Augen tief in schwarzen Höhlen lagen, aus seinem Gesicht lange Metallstangen ragten, ebenso aus Arm und Bein. Das Elend komplett machte schließlich eine Sepsis, die seinen ganzen Körper erfasste: Wochenlang schwebte Gerd zwischen Leben und Tod, bis er endlich die Intensivstation verlassen konnte.

Sein Lebenstraum war geplatzt: Berufssoldat konnte er nun nicht mehr werden.

Foto: Adobe Stock

Nach einer langen Rehabilitation bezahlte die Bundeswehr nun eine Umschulung. Es war die Zeit, als Computer in Masse auf den Markt kamen, und Gerd entschied sich für den Beruf eines Computertechnikers. Die Ausbildung machte ihm Freude, auch das dreimonatige Praktikum in einem Unternehmen lief gut. Aber: Niemand wollte den nun schwer behinderten Mann einstellen. Man sagte ihm auch, warum: Schwerbehinderte haben ein Recht auf mehr Urlaubstage und können kaum wieder gekündigt werden.

Der Absturz war tief, der Boden des schwarzen Lochs schien unendlich. Gerd fiel in seine bisher tiefste Depression, wusste nicht mehr, warum er überhaupt lebte und suchte Hilfe beim Therapeuten. Sein Umgang mit Nathalie war nun grob. Er war schnell reizbar, hatte kaum mehr Verständnis für ihre Gefühlslagen und sprach wenig. Auch der Kinderwunsch des Paares hatte sich erledigt: Gerd war nach dem Unfall so oft ungeschützt geröntgt worden, dass er nun unfruchtbar war. Nathalie litt sehr darunter, Gerd sprach nicht darüber. Statt dessen stopfte er sich voll: Mit Würstchen, Steaks, Kuchen und was sonst noch so da war.

Foto: NDR-Ratgeber Gesundheit

Um die Ecke der drei Hochhäuser gab es einen gut laufenden Copyshop, betrieben von einer älteren Frau, die eine Aushilfe suchte. Das wurde zum rettenden Strohhalm für den immer noch jungen Mann: Er begann, immer mal ein paar Stunden im Laden zu helfen. Als zwei Jahre später die Inhaberin in Rente gehen wollte, übernahm er diesen kurz entschlossen. Hauptsache, wieder eine Aufgabe im Leben. Nicht mehr zuhause rumzusitzen. Seinen Mann zu stehen. Nathalie wurde die Seele des Shops: Sie war es, die mit Schriften experimentierte, Speisekarten und Prospekte gestaltete, wenn sie mit ihrem Milch- und Käseregal fertig war. Zeit und Geld, um in Urlaub zu fahren, gab es tatsächlich auch. Gerd sparte lange, bis er zwei Wochen Kuba buchen konnte, und schenkte die Reise Nathalie zum Geburtstag. Später erstanden die beiden einen gebrauchten Wohnwagen, mit dem sie gern an den Bergseen der Alpen Urlaub machten. Sogar ein Gartengrundstück hatten sie zeitweise gepachtet.

Da kam das nächste Unglück ins Haus: Nathalie erhielt die Diagnose Brustkrebs. Das war, kurz nachdem ihr Vater an Krebs gestorben war. Untersuchungen brachten hervor, dass es sich um eine genetische Veranlagung handelte: Sowohl Vater, als auch Tochter trugen ein lebenslang deutlich gesteigertes Risiko, an Krebs zu erkranken.

Zunächst wuchs das Ehepaar ein letztes Mal näher zusammen. Nathalie durchlief die schwierige Prozedur der Entfernung einer Brust und des späteren Wiederaufbaus, alles verbunden mit Chemotherapie, Bestrahlung und den entsprechenden körperlichen Folgen. Wie alle, die eine Krebsdiagnose bekommen, fragte sie sich, ob sie sich in ihrem bisherigen Leben eigentlich gut genug um sich selbst gekümmert hatte – und musste das mit einem klaren Nein beantworten. In der Rehabilitation lernte sie einen großen, schlanken, feinfühligen Mann kennen. Die beiden kamen sich sehr nah. Als Nathalie nach Haus zurück kam, war sie nicht mehr die selbe. Oft verbrachte sie den ganzen Tag im Schlafanzug am PC. Ihr Interesse für Haus- und Küchenarbeit ließ merklich nach. Aber sie sprach nicht darüber, warum das so war, und Gerd wurde immer unruhiger.

Trotz seiner vielen Beeinträchtigungen nach dem Unfall zog Gerd die Frauen weiter magisch an. Das blieb auch so, als sich aus dem permanenten Frust, nicht mehr Soldat sein zu können, aus seiner Esssucht langsam, aber sicher ein großer, dicker Bauch entwickelte. Eines Abends erzählte er Schwester Cora, noch immer erstaunt, was sich heute in seinem Laden zugetragen hatte: Anne, die mit ihrem an Epilepsie erkrankten Ehemann zum Freundeskreis von Gerd und Nathalie gehörte, war dort ohne Vorankündigung erschienen, hatte die die Ladentür abgeschlossen und sich vor Gerd ausgezogen. Der war elektrisiert und konnte der Versuchung nicht widerstehen. Die Affaire dauerte wohl ein Jahr. Dann starb Annes Mann. Sie löste die Wohnung auf und verzog ohne Abschied nach Unbekannt.

Nathalie war das Ganze nicht verborgen geblieben. Eines Tages teilte sie Gerd mit, dass sie eine kleine Wohnung gefunden und gemietet hatte, in einem etwa 50 Kilometer entfernten Städtchen. Dorthin werde sie nun umziehen, und ihre Ehe sei hiermit beendet. Er weinte wochenlang, versuchte, mit ihr über alles zu sprechen, schlug eine Eheberatung vor, aber es war zu spät: Sie wollte nicht mehr.

Nun begann ein unaufhaltsamer Abstieg. Die Eigentumswohnung, auf die Gerd so stolz gewesen war, musste verkauft werden. Er zog in zwei Zimmer im Nachbardorf. Ohne Nathalie fehlte seinem Laden die Seele. Dazu kam, dass Computer immer stärker die Haushalte eroberten – samt zugehöriger Scanner und Drucker. Dem Copyshop brachen immer mehr Einnahmen weg. Ohne Nathalie fehlte auch die Struktur in der Buchhaltung. Wenige Jahre nach der Trennung hatte Gerd komplett die Übersicht verloren und stand unter enormem Schuldendruck. Sogar das auf Kredit erstandene Auto wurde vom Autohaus zurück gefordert, was zu ständigen nächtlichen Versteckaktionen führte. In seiner Not bat Gerd die Eltern um Hilfe: Wenn sie für einen Kredit über 40 000 Euro bürgen, würde er seinen Laden retten können.

Der Vater war misstrauisch und wollte die Bücher und Jahresbilanzen sehen. Die konnte Gerd nicht vorzeigen – sie bestanden aus Haufen unsortierter Papiere. Die Mutter setzte die Bürgschaft trotzdem durch, indem sie ihrem Mann mit Liebesentzug drohte. Erbost und verbittert stimmte der Vater schließlich zu. Cora und Gerd setzten mit ihm zusammen ein Papier auf, das die Bürgschaft über 40 000 Mark festlegte, und auch die Bedingungen, die der Vater stellte. Gerd musste schriftlich auf sein Erbe verzichten, bis alles bezahlt sein würde – das war die härteste. Während Gerd nun erstmal sein Geschäft weiterführen konnte und auch die Kreditraten regelmäßig zahlte, kam der Vater nicht damit klar, dass er gezwungen worden war. Bei jedem Familienkaffee zog er nun über seinen älteren Sohn her und auch über seine Frau und die Erpressung. Da Gerd zu diesen Treffen meistens nicht anwesend war, verteidigte Cora ihn – nur um selbst ins Visier des Vaters zu geraten.

24 000 Euro des Kredites waren abbezahlt, als in Gerds Laden schließlich nichts mehr ging. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass eine Erstattung der AOK über 34 000 Euro noch rechtzeitig eintreffen würde, aber das geschah nicht. Er musste Insolvenz anmelden. Er war völlig am Ende mit seinen Nerven, unfähig, die Zusammenhänge verständlich zu erklären und voller Angst vor der Reaktion des Vaters. Diese fiel aus wie erwartet. Der „Schlappschwanz“ und „Loser“war täglicher Bestandteil seiner lauten Wutreden. Die Rücklage des Vaters für den Fall seines eigenen Todes musste eingesetzt werden, als die Bürgschaft fällig wurde, was dessen Wut bis zur Raserei verstärkte.

Volker, der jüngere Bruder, hatte mit wachsendem Erstaunen und Ärger der Hilfestellung der Eltern für seinen Bruder zugesehen und fühlte sich nun massiv benachteiligt. Weil der Vater nicht bereit war, alle Geschwister auf den gleichen Informationsstand zu der Bürgschaft zu bringen, vermutete Volker ein Komplott durch Gerd und Cora, ihn und seine Familie um Erbanteile zu bringen. Dieser Stachel saß fortan in seinem Kopf und entwickelte ein Eigenleben, während Gerd seinen Copyshop auflöste, dabei weinte und weinte. Inzwischen gab es Möglichkeiten, online zu chatten. So chatteten Gerd und Cora fast jeden Abend, tauschten sich aus, brachten Schritt für Schritt Klarheit in die Lage. Schließlich war das Verfahren überstanden, und Gerd begann eine achtmonatige Rehabilitation in einer neurologischen Klinik in den Hochalpen; eine wohl lebensrettende Maßnahme. Hier übte er soziales Miteinander neu ein, verarbeitete endlich den schrecklichen Unfall und dachte darüber nach, was jetzt aus seinem Leben werden sollte.

Das Insolvenzverfahren endete mit einer sechsjährigen Wohlverhaltensphase. Gerd blieb gerade genug Geld, um sich zu ernähren. Die Einsamkeit war erdrückend. Er wünschte sich von ganzem Herzen eine neue Partnerin, aber es war keine in Sicht. Er verdrückte nun riesige Mengen Essen und Süßes, nahm auch gerne mal einen Schnaps und wurde gefühlt jeden Tag unförmiger. Von seinen früheren Freunden hielt er Abstand, weil er sich wegen der Insolvenz schämte. Auch begannen jetzt, pünktlich wie von den Ärzten nach dem Unfall vorausgesagt, starke Schmerzen in Armen, Beinen und Füßen. So verbrachte Gerd die meiste Zeit des Tages zuhause vor dem PC, wo er online Computerspiele spielte. In dieser Community lernte er mit der Zeit neue Bekannte kennen. Man traf sich auch hier und dort bei Gaming-Events.

Auch versuchte er, den Kontakt zur Familie wieder zu intensivieren, was sich jedoch schwierig gestaltete. Bruder Volker war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, hatte kleine Kinder. Gerd hatte die Angewohnheit, sich bei den Eltern oder Geschwistern anzukündigen, dann aber dort zu sitzen, zu essen und kaum etwas zu sprechen, was besonders seinen jüngeren Geschwistern auf die Nerven ging. Da er über seinen Kummer und seine Sorgen nicht reden wollte, weil er die Verachtung der Familie fürchtete, wusste Gerd nicht, was er nun erzählen könnte und wartete irgendwie immer auf ein Zeichen der Zuneigung, das aber nie kam.

Und dann traf ihn die angestaute Wut Volkers mit voller Macht. Nachts, unter Einfluss von Alkohol, ließ dieser seitenlange Unflätigkeiten per Mail ab. „Nein, ich wünsche mir nicht deinen frühen Tod,“ hieß es da zum Beispiel. „Leben sollst du, und mindestens 100 Jahre alt werden. Dann verrecke, langsam und mit erheblichen Schmerzen, ersticke an dir selbst. Verachtung und Zorn sind noch untertrieben, was deine Person betrifft. Um deiner Gesundheit willen nimm keinen Kontakt zu mir auf. Der Knüppel steht hinter der Tür. Ich werde dich prügeln bis zu deinem Auto und noch weiter…“ Aus Mangel an Informationen über die Bürgschaft hatte sich Volker einen Schuldenberg von 100 000 Euro ausgemalt, um die Gerd ihn unter Zuhilfenahme von Cora bei den Eltern „betrogen“ hätte. Eine Chance, die Dinge richtig zu stellen, gab es nicht: Volker sprach weder mit Gerd, noch mit Cora je wieder ein Wort.

Aber auch das Glück sollte Gerd ein letztes Mal begegnen.

In einem erneuten Versuch, der Depression und der Einsamkeit zu entfliehen, fährt er über das Wochenende zu einem Gamer-Event. Dort trifft er sie. Eva ist zwei Jahre älter als Cora, hat eine dunkle, rauchige Stimme, raucht Kette und erscheint unglaublich gelassen. Die beiden mögen sich sofort. Nach dem Ende der Veranstaltung lädt sie ihn ein, bei ihr zu übernachten, denn er hat noch einen langen Heimweg vor sich. Sie reden die ganze Nacht hindurch. Er erzählt von seiner gescheiterten Ehe, dem Unfall, der Laden-Insolvenz – sie berichtet von ihrem getrennt lebenden Mann, der schon vor Jahren in die Türkei zurück gekehrt ist, von ihrem wechselvollen Berufsleben als gelernte Krankenschwester, als Verkäuferin im Lampengeschäft ihrer Mutter und als Anwaltsgehilfin. Sie kochen gemeinsam und fühlen sich endlich nicht mehr allein. Zwei Wochen später fährt er zurück in seine kleine, leere Wohnung – aber nur für kurze Zeit. Wenig später zieht er bei ihr ein.

Das Leben ist schön. Zwei PC mit großen Bildschirmen bauen sie nebeneinander auf, wo sie stundenlang gamen. Dazwischen führt er ihren Hund Gassi, kocht ein warmes Essen für sie, wenn sie von der Arbeit heimkehrt und geht einkaufen. Das Geld ist knapp, aber für gutes Essen reicht es immer. Gerds Bauch wächst stetig in ein unglaubliches Format. Auch Eva nimmt ein wenig zu – sie hat lange nicht mehr so viel und so regelmäßig gegessen – aber sie fühlt sich wohl mit ihrer Figur. Der jüngere ihrer beiden Söhne lebt im Stockwerk über den beiden, das uralte Haus im Zentrum der Kleinstadt gehört Eva. Die Bundeswehr zahlt Miete.

Gerds Schmerzen werden stetig schlimmer, aber trotzdem hat er neuen Lebensmut gefunden. Er beschließt, sich im örtlichen VdK zu engagieren und ist kurze Zeit später schon dessen Vorsitzender. Er macht umfangreiche Weiterbildungen und berät in seiner wöchentlichen Sprechstunde kranke und behinderte Mitglieder, die sich um eine Pflegestufe, einen Behindertengrad oder eine Erwerbsminderungsrente bemühen. Dabei erwirbt er bemerkenswerte Kenntnisse über die Feinheiten, die es braucht, um Behörden zu überzeugen. Seine Sprechstunde erfreut sich großer Beliebtheit. Zuhause gibt es schonmal Ärger, wenn Gerd sich konsequent vor der Hausarbeit drückt und aus dem Kühlschrank auch die Leckereien verzehrt, die Eva für sich selbst gekauft hat. Aber insgesamt vertragen die beiden sich wunderbar und sind froh, einander zu haben.

Bereits kurz nach der Insolvenz des Copyshops war es das erste Mal passiert: ein Herzinfarkt. Gerd, der ausgebildete Sanitäter, hatte die Anzeichen erkannt und war rechtzeitig im Krankenhaus gewesen. Seitdem leidet er immer wieder unter starker Atemnot, schläft nachts mit Atemmaske, weil er ständig Atemaussetzer hat. Als er mal wieder glaubt, fast zu ersticken und gleichzeitig heftige Schmerzen in der Brust verspürt, muss er den Notarzt rufen. Der Rettungsdienst weigert sich, den großen, schweren Mann die steile Treppe hinunter zu tragen und will ihn statt dessen von der Feuerwehr mit der Drehleiter aus dem Fenster holen lassen. Das beschämt den Kranken so sehr, dass er trotz Schmerzen, Atemnot und Todesangst auf allen Vieren allein die Treppe hinunterkrabbelt. Diesmal ist es eine beidseitige Lungenembolie. Vorher bereits muss er an einer riesigen Bauch-Hernie operiert werden: Die Ärzte ziehen ein stabiles Netz ein, damit der „Bruch“ nicht mehr wieder kommen kann.

Quelle: Youtube

Die Ärzte, die Familie und seine gesamte Umgebung warnen ihn jetzt immer lauter: Er muss dringend abnehmen, sein Leben steht auf dem Spiel. Aber die Sucht hat ihn erbarmungslos im Griff. Gerd verbietet allen, die er kennt, sein Gewicht anzusprechen, verrät auch nicht, wie viele Kilos es sind. Cora spricht ihn dennoch immer wieder darauf an. Als sie einmal sagt, dass sein Bauch irgendwann platzen wird, muss er lachen: Nein, das Netz darin sei ganz sicher stabil.

Zwei Jahre später ist der Bauch so riesig, dass problemlos eine Schubkarre darunter passen würde. Er hat nun die Grenze von 200 Kilo Gewicht überschritten. Zum Ärger von Eva kauft er sich keine neue Kleidung mehr – mit dem Argument, dass er erst abnehmen müsse. Es folgen eine weitere Lungenembolie, der nächste Herzinfarkt – und die Diagnose, dass eine Herzklappe unbedingt operiert werden muss. Er nimmt immer mehr Medikamente und geht zweimal wöchentlich zur Lymphdrainage, um das „Wasser“ in seinem gestressten Beinen wenigstens teilweise los zu werden.

Endlich wird die Herzklappe operativ behandelt. Bei diesem Krankenhausaufenthalt verliert Gerd mehr als 20 Kilo Flüssigkeit. Nach der OP kann er wieder besser atmen und gehen; er schöpft neue Hoffnung. Gute EKG-Werte versprechen, dass er sich wieder gesünder fühlen wird, auch wenn die Nieren- und Leberwerte alarmierend schlecht sind. Er kehrt nach Hause zurück, und ein unerwarteter Glücksfall beschert ihm seinen ersten Urlaub mit Eva: Sie muss eine Messe nah seiner alten Heimat besuchen. Er begleitet sie, und sie verlängern den Aufenthalt auf eine ganze Woche. Dabei besuchen sie seine alten Freunde und fühlen sich das erste Mal seit langem wieder jung und glücklich. Sie verabreden, im Sommer wieder zu kommen. Eva will dann an der einwöchigen Fahrradtour der Freunde teilnehmen und Gerd will das Versorgungs-Auto fahren.

Vielleicht schaffen sie es jetzt ja auch endlich, einmal gemeinsam an die Ostsee zu fahren und über die masurische Seenplatte – ein Traumziel Gerds seit seinem Jugendtagen. In den Telefongesprächen mit Cora geht es um die Frage, ob sie vielleicht sogar mit zwei Paaren fahren könnten, die polnische Ostsee entlang und dann zur Seenplatte.

Aber es soll anders kommen.

Gerd wird eine weitere Reha genehmigt; diesmal in einer Klinik im Schwarzwald. Und auch die Fahrradtour rückt näher. Aber plötzlich platzen seine Beine auf, und die Lymphe läuft heraus. Es entwickeln sich ein hartnäckiger Ausschlag an den unteren Waden und mehrere tiefe „Löcher“ in den Beinen, die nicht heilen wollen. Er kann nicht mehr gehen, verbringt den ganzen Tag auf dem Sofa oder im Bett. Seine Hausärztin kommt jetzt zu ihm heim, und erstmals nähert er sich dem Gedanken, sich doch vielleicht ein Magenband legen zu lassen. Aber nicht jetzt, sondern erst, wenn es ihm wieder besser geht… Coras Apelle werden flehend: Sie sagt ihm, sie will nicht, dass er an seinem Gewicht stirbt. Da beginnt er zu weinen: „Es geht mir so furchtbar elend, ich habe für nichts mehr Kraft. Ich kann mich selbst nicht mehr tragen…“

In einem Chat schreibt er ihr, dass sie nächstens mal telefonieren sollten, am besten, wenn Eva ihren Bridge-Abend habe. Er wolle ihr etwas vertrauliches mitteilen. Kein Problem, meint Cora. Aber als er sie zu ihrem Geburtstag anruft, vergessen sie das Thema.

Und dann ist es zu spät.

Dreieinhalb Wochen nach diesem Gespräch bekommt Gerd in der Nacht zum Sonntag akute Luftnot. Eva läuft, um das Sauerstoffgerät zu holen. Aber es wird nicht besser, und er bekommt Angst. Um 2.30 Uhr rufen sie den Rettungsdienst. Acht Männer sind nötig, um Gerd die Treppe hinunter in das Rettungsauto zu tragen. Im Krankenhaus angekommen, entspannt er sich, fühlt sich in Sicherheit und erzählt der Ärztin, was ihn alles plagt.

Und plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, bricht sein System zusammen: Akutes Herzrasen, überhaupt keine Luft mehr, Bewusstlosigkeit, Herzstillstand.

40 Minuten lang versucht das Team, den Patienten zu reanimieren, aber es ist zu spät.

Gerd ist tot. Er starb am 18. Februar um 4.30 Uhr. Er wurde 62 Jahre alt.

*

*

Anmerkung: Keines der obigen Bilder zeigt Gerd. Die Namen im Text wurden geändert. Eine knappe Woche nach seinem Tod wartet Gerds Körper zurzeit auf die Einäscherung und Bestattung der Urne in einem Friedwald. Aufgebahrt wurde er nicht. Weil es im Krankenhaus keine passende Kühlbox gab und der Bestatter an einem Sonntag erstmal einen übergroßen Sarg beschaffen musste, hatte der Körper knapp 12 Stunden in einem beheizten Raum auf einer Pritsche gelegen. Gerds wertvollste Habe waren ein neuer Gaming-PC, ein brandneues I-Pad und ein Mcbook. Die hat er seinem Bruder Volker vererbt. Der nimmt sie gern…

Siehe auch:

Gewalt in der Erziehung

Gewalt gegen Kinder

Depression

Adipositas

Essucht -Ratgeber

H.G. Tudor beschreibt den Tod (englisch)

Haiku für meinen alten Apfelbaum

In meinem Garten steht ein alter Apfelbaum. Er ist der letzte von vieren, die dort vor über 30 Jahren standen, als ich einzog. Damals zählte er schon mehr als 50 Lenze.

Er ist jetzt richtig alt geworden. Die letzten dürren Sommer hat er gar nicht gut vertragen, trotz vieler Extraportionen Wasser riefen seine Wurzeln unter meinen nackten Füßen ständig nach mehr. Inzwischen sind drei seiner einst fünf starken Arme abgestorben, Flechten haben sich auf ihm angesiedelt. Misteln wohnen in seinen Zweigen, einen Teil seiner Rinde hat der Specht abgehackt. Und doch blüht er grade wieder wie ein Jüngling. Aus wundervollen, pinkfarbenen Knospen werden zarte, weiß-rosa Blüten, bevor er die ganze Fläche um sich herum mit Blattschnee beregnet.

Nachwuchs ist gepflanzt. Aber ich werde nicht mehr erleben, wie aus ihm starke, kraftvolle Bäume werden. Wenn sie groß genug sind, um Blütenblätter regnen zu lassen, weil meine Nachfolger sie hoffentlich nicht abgesägt haben, werde ich nicht mehr sein. Auch deshalb liebe ich meinen alten Freund sehr. Viele Tränen habe ich zu seinen Füßen geweint, und noch viel mehr schöne, entspannte Sonnenstunden unter seinen Zweigen verbracht. Er wird auch dieses Jahr extra Wasser bekommen, damit er mich noch eine Weile begleitet.

Haiku ist eine alte japanische Form des Gedichts. Dabei haben die erste und die dritte Zeile jeweils fünf Silben, die zweite sieben. Aufgrund der starken Unterschiede in der Sprache ist die genaue Silbenfolge in unserer Sprache nicht bindend.

Child in Time – Kind der Zeit – ist noch immer erschreckend aktuell

1969 schrieb die britische Hardrockgruppe Deep Purple das Lied „Child in Time„. Es war ein Protestsong gegen den Vietnamkrieg, ein Stellvertreterkrieg der USA und Russland. Mehr als 50 Jahre später, im erneuten Stellvertreterkrieg der beiden Mächte und Systeme in der Ukraine, zeigt sich mit erschreckender Klarheit, wie universell Text und Lied gültig sind.

Süßes Kind, mit der Zeit wirst du die Linie sehen,

die Linie, die gezogen ist zwischen Gut und Böse.

Schau auf den Blinden, wie er auf die Welt schießt,

Kugeln fliegen umher, sie nehmen ihren Tribut.

Wenn du böse warst – Gott, ich wette, das warst du –

und nicht von umherfliegendem Blei getroffen wurdest,

Dann schließe besser deine Augen, neige deinen Kopf

und erwarte den Querschläger...

*

Sweet child in time – you’ll see the line

The line that’s drawn between the good and the bad

See the blind man shooting at the world

Bullets flying taking toll

If you’ve been bad, Lord I bet you have

And you’ve not been hit by flying lead

You’d better close your eyes and bow your head

And wait for the ricochet…

Videoquelle: Youtube

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt

und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Transzendieren in) „Stufen“ von Hermann Hesse

Spanien-Urlaub trotz Corona- Reisewarnung

Was für ein hässliches Jahr 2020 doch ist: Ein Virus hat dafür gesorgt, dass viele Menschen sogar Freunde und Familienangehörige als potentielle Überbringer des Todes sehen und wir mit angsterfüllten Blicken aufgefordert werden, bloß nicht zu nah zu kommen. Abstand und Maske werden wohl zu den Unwörtern des Jahres werden. Bei mir persönlich gehört ein weiteres dazu: Panikmache.

Nach Mexico wäre ich gern geflogen im Frühjahr. Keine Chance: Der Flugverkehr war weltweit praktisch eingestellt. Gut, dass ich nicht gebucht hatte: Ich würde, wie tausende Andere trotz EU-Gesetz der Erstattungspflicht innerhalb von zwei Wochen auch nach Monaten noch auf mein Geld warten – so wie ich auch noch immer darauf warte, dass die Bundesregierung wie versprochen die Kosten für die Thomas-Cook-Anzahlung für Ägypten von vor einem Jahr erstattet. Der Sommerurlaub gehört dem Hund, deshalb suche ich dann, wenn möglich, ein günstiges Ferienhaus mit Garten und Pool. So hatte ich schon im Januar für den September ein schönes Haus im Süden Kataloniens gefunden und gebucht.

Wochen vor Reisebeginn kam sie: Die erneute Reisewarnung der Bundesregierung für Spanien. Die zweite Welle habe das Land erwischt, alles sei ganz furchtbar, die Bürger sollten Rücksicht üben und zuhause bleiben. Parallel dazu kam die Mail des spanischen Vermieters: Man habe inzwischen so viele Verluste gemacht, dass man auch aus Kulanzgründen auf keinen Fall Stornierungen zustimmen werde. Da war das Haus dann schon für zwei Wochen bezahlt. Was tun?

Einige meiner Facebook-Freunde sind derart von den Maßnahmen der Bundesregierung überzeugt, dass sie einen Shitstorm über jeden loslassen, der versucht, selbst zu denken. Ich sehe das differenzierter: Man kann Abstand halten, ohne auf alles verzichten zu müssen. Außerdem: So viel Geld habe ich nun auch nicht, dass ich bereit wäre, es einem Vermieter in Spanien zu schenken. Da es sich um keine Pauschalreise handelt, habe ich kein Recht auf Erstattung bei Stornierung. Also fahre ich. Basta.

Vorher gibt es noch Kopfzerbrechen: Bis 15. September gilt zwar die Möglichkeit, sich als Reiserückkehrer kostenlos testen zu lassen. Aber es dauert bis zu zehn Tagen, bis das Ergebnis da ist, das geht gar nicht. Außerdem sind die Testzentren oft nur vormittags geöffnet, an Wochenenden nur bis Samstag mittag oder gar nicht. Sie liegen auch nicht etwa an den Autobahnen, sondern irgendwo in anliegenden Städten. Was für ein Unsinn. Welcher Rückkehrer ist denn samstags mittags schon zurück, oder sucht nach einer langen Fahrt noch umständlich irgendwo das Zentrum? Ich finde schließlich ein privates Unternehmen, das am Flughafen Frankfurt rund um die Uhr sieben Tage die Woche testet und verspricht, bei kostenlosen Tests innerhalb von 12, bei kostenpflichtigen innerhalb von 8 Stunden das Ergebnis mitzuteilen. Ok, das geht. Also los.

Nach all den Warnungen vor strengen Kontrollen erwarte ich an den Grenzen zu Frankreich und Spanien Posten, die Fieber messen oder ähnliches. Weit gefehlt: Weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg sind an den deutschen, französischen oder spanischen Grenzen irgendwelche Kontrolleure zu finden, das freie Schengen-Europa funktioniert wie immer. Aber die Autobahnen sind leerer. 14 Stunden für 1400 Kilometer trotz Pausen: einzigartig. Die Autoroute du Süd, auf der ich in über 40 Jahren zu jeder Tages- und Nachtzeit nie ohne Stau unterwegs war, ist auf dem nächtlichen Hinweg wie leer gefegt. Das, so denke ich mir, scheint tatsächlich eine Folge der vielen Corona-Verbote zu sein.

In Spanien angekommen stelle ich fest, dass die Regeln hier strenger sind als bei uns: Auch auf der Straße hat man Maske zu tragen, egal wie heiß es ist. Das gilt sogar auf dem Weg zum Strand. Erst ab Handtuch ist es erlaubt, das Teil endlich abzulegen. Das Ferienhaus in L’Amletlla de Mar liegt in einer dieser Villengegenden, die in Katalonien überall die alten Fischerorte umgeben. Dort wohnen nur ganz wenige Einheimische, fast alle Häuser werden an Touristen vermietet. Das Viertel ist so gut wie leer, es herrscht eine merkwürdige, dumpfe Stimmung. Beim Einkauf im Supermarkt und beim Spaziergang durch die Stadt wird klar: Ich bin ausschließlich unter Spaniern. Nur zweimal sehe ich eine deutsche Familie in diesem Urlaub. Trotz zahlreicher Ausflüge kann ich die deutschen Autos zählen: Es sind genau fünf in zwei Wochen.

In den kleinen Städtchen, wo die Einwohner unter sich sind, herrscht reger Betrieb. Aber es ist anders als in Deutschland. Obwohl 98 Prozent der Spanier die Masken- und Abstandsregeln strikt einhalten, wird nicht ständig darüber diskutiert. Man trifft sich auf der Straße, auf dem Markt, im Restaurant, hält den gebotenen Abstand, verzichtet aber nicht auf fröhliche Gespräche und Lachen. Das wirkt sehr erleichternd auf mich: Endlich mal raus aus der verbissenen, panischen Stimmung zuhause.

Die Hundestrände sind hier, wie überall, wo es sie in Spanien überhaupt gibt, eine Zumutung. Klein, felsig oder voller Kies, trotz des schönen klaren Wassers kein Vergnügen. Gott sei Dank gibt es das Ebro-Delta! Hier herrscht eine zauberhafte Stimmung. Man fährt lange über schmale Sträßchen durch die weite Ebene, in der die Reisfelder grüngolden leuchten. Dazwischen viele Bewässerungskanäle, vereinzelt Eukalyptusbäume und Palmen. Dazwischen gewürfelt und weit verstreut Pumphäuschen und Wohnhäuser. Das letzte Stück ist eine Sandpiste. Nur ein kleines Schild weist auf das Ziel hin: Platja Marquesa. Hier erreicht einer der vielen Arme des Ebros das Meer. Und hier ist endlich, was ich gesucht habe: Ein ewig langer Strand aus feinem Fluss-Sand mit einem rauschenden Meer. Es sind kaum Menschen hier: An Wochentagen liegt der Mindest-Abstand bei 500 Metern und mehr. Das sorgt dafür, dass auch der Hund toleriert wird: Herrlich. Lucy holt stundenlang Stöckchen aus den Fluten, ich sammele Muscheln und Schneckenhäuser.

Wie im Flug vergehen die beiden Wochen, der lange Rückweg steht an. Es ist ein heißes Wochenende mit etwas mehr Verkehr auf der Autoroute du Sud; Franzosen nutzen die Gelegenheit für ein Wochenende am Meer. Auch diesmal nirgendwo eine Kontrolle: Nach 14 Stunden ist es überstanden. Kaum empfängt das Autoradio wieder deutsche Nachrichten, höre ich neue Panikmeldungen über Corona in Frankreich und Spanien. Weiß unsere Regierung eigentlich, was sie diesen Ländern mit ihren Reisewarnungen antut? Mal ganz zu schweigen von den vielen Bundesbürgern, die dieses Jahr nicht fahren konnten…

Sonntag: Test am Flughafen FFM: Rechts werden die zahlenden Kunden von Firmenpersonal betreut, links die Gratis-Reiserückkehrer von der Bundeswehr. Von Stau keine Spur. „Hinsetzen. Mund auf. Gleich fertig.“ So unangenehm es ist, sich von einem Fremden im Mund herumstochern zu lassen, muss ich fast lachen: Soldaten…

Ok, das mit den 12 Stunden war nichts, es hat 24 gedauert. Ich bin natürlich negativ. Wo hätte ich mich auch anstecken sollen…. ?