Kategorie: Politik

Pleiten, Pech und Pannen bei Abwasserbeiträgen: Ärger im Kirner Land

Kirn-Land. Eine regelrechte Völkerwanderung war heute abend in Richtung Gesellschaftshaus Kirn unterwegs, wo die Verbandsgemeindeverwaltung die neue Beitrags- und Gebührenordnung in Sachen Ab- und Schmutzwasser erläuterte. Nicht nur der große Saal, sondern auch die Empore war voll besetzt, als Bürgermeister Thomas Jung sich für Pleiten, Pech und Pannen bei der neuen Ordnung entschuldigte und erklärte, was sich die Verbandsgemeindewerke dabei gedacht haben.

Aber von vorn: In der Fusionsvereinbarung zwischen der Stadt Kirn und der damaligen Verbandsgemeinde Kirn-Land vom 30. Januar 2019 ist folgendes festgelegt: Die Aufgaben der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung der bisher verbandsfreien Stadt Kirn und der Verbandsgemeinde gehen vollständig auf die neu zu gründende Verbandsgemeinde Kirner-Land über. Dazu gehören auch die entsprechenden finanziellen Verpflichtungen und der Betrieb des Jahnbades. Die neue Verbandsgemeinde führt zum 1.1. 2020 für den Bereich Abwasserentsorgung ein neues, einheitliches Beitrags-, Entgelt- und Gebührensystem ein. Zum 1.1.2023 soll das gleiche für die Wasserversorgung passieren.

Mit satter Verspätung verschickte die Verbandsgemeindeverwaltung Kirner Land am 28. November 2023 Grundlagenbescheide zur Festsetzung wiederkehrender Beiträge für die Niederschlagsabwasser- und Schmutzwasserbeseitigung. Die versetzten die Einwohner der Landgemeinden und der Stadt gleichermaßen in Wut. Rückwirkend zum 1.1. 2022 wurden da beitragsfähige Flächen für Schmutzwasser berechnet, die wegen der Hinzuziehung von Vollgeschossflächen als zulässige Bebauung auf einmal deutlich größer waren als die Grundstücksflächen selbst. Vollgeschosszuschläge für Schmutzwasser wurden sogar auf unbebaute Grundstücke berechnet. Dazu kam die Festsetzung eines wiederkehrenden Beitrags für die Entsorgung von Niederschlagsabwasser, der erneut für einen Sturm der Empörung sorgte: Weder waren darin Maßnahmen zur Sammlung und Weiterverwendung des Niederschlagwassers auf den jeweiligen Grundstücken einbezogen, noch akzeptierte die Mehrheit der Einwohner überhaupt eine Notwendigkeit, hier wiederkehrende Beiträge zu zahlen; schließlich versickere das Wasser doch im Boden.

Am 12. April 2024 wurden nun konkrete Beitragsbescheide über 70 Prozent der voraussichtlichen Gesamtsumme rückwirkend bis 1.1.2022 verschickt, deren Höhe den Hausbesitzern die Zornesröte ins Gesicht trieben, weil sie teilweise um bis zu 50 Prozent höher als im Vorjahr waren. Für 2023 waren keine Vorausleistungen erhoben worden, so dass Besitzer von Einfamilienhäusern am 1. Mai 2024, wenn die einmaligen Beiträge für 2023 eingezogen werden, teilweise mehrere hundert Euro los sind. Die wesentlich geringeren Beiträge für 2022 werden „zur Entlastung“ der Bürger erst am 1. August eingezogen.

Bürgermeister Thomas Jung, Werkleiter Jochen Stumm und die Mitarbeiter Drusenheimer und Feistel der neuen Verbandsgemeindewerke standen nun bereit, um nach einem Informationsteil Fragen Betroffener zu beantworten. Solche Informationsveranstaltungen wurden in allen Orten der Verbandsgemeinde abgehalten. Sie begannen überall gleich: Mit einer Entschuldigung der Verantwortlichen für das Chaos, das sie angerichtet haben. Um überhaupt aussagekräftige Daten zu den 7500 Grundstücken in der Verbandsgemeinde zu erhalten, so der Bürgermeister, habe man diese von Drohnen überfliegen lassen und einen externen Dienstleister gebeten, die Foto-Ergebnisse zusammen mit den Ergebnissen der 2023 verschickten Erhebungsbögen auszuwerten. Der Rückfluss der Erhebungsbögen sei mit 35 Prozent sehr gering gewesen; von diesen wiederum war rund die Hälfte nicht vollständig ausgefüllt.

Der externe Dienstleister habe Fehler über Fehler gemacht, so dass man mittlerweile mit Schadensersatzansprüchen gegen ihn vorgehe. Trotzdem hatten die Verbandsgemeindewerke, wie Werkleiter Jochen Stumm bestätigte, die letzte Datensammlung mit angeblich korrigierten Fehlern nicht mehr überprüft und deshalb vielfach auf fehlerhaften Daten basierende Abrechnungen verschickt. Daneben hatten die Verbandsgemeindewerke ein Ingenieursbüro beauftragt, sämtliche Entsorgungsleitungen mit Kameras zu untersuchen, um herauszufinden, ob die Kanaldurchmesser zu eng oder zu breit seien, wo es Beschädigungen gebe, und welche Kanäle für die Mischentsorgung von Oberflächen- und Schmutzwasser oder nur für Schmutzwasser genutzt werden. Sind die Durchmesser zu breit, müssen die Kanäle häufiger gespült werden, weil sich Reste in ihnen festsetzen.

Eines sei schonmal sicher, so der Bürgermeister: Die Sache mit den hinzu gerechneten Vollgeschossen müsse nochmal genau überdacht werden. Außerdem decken die jetzt verlangten Beiträge bereits die Gesamtkosten der Aufwendungen ab, mit weiteren Forderungen sei also nicht zu rechnen. Warum die Gesamtsumme so viel höher war als in Vorjahren ergab sich unter anderem aus der völlig anderen Berechnung der Grundstücksflächen. Die Größe für die wiederkehrenden Beiträge Schmutzwasser war von 6.888.000 auf nun 8.359.930 Quadratmeter gestiegen, die für das Niederschlagswasser von 2.876.000 auf 3.999.389 Quadratmeter. Dazu kommt, so der Werksleiter, „dass die allgemeinen Kostensteigerungen der letzten Jahre auch an uns nicht spurlos vorübergegangen sind.“ Dazu kommentierte Unternehmer Buss: „Wenn ich meinen Kunden 50 bis 60 Prozent an Preiserhöhungen für meine Waren innerhalb eines Jahres mit Kostensteigerungen erklären wollte, könnte ich gleich zumachen.“

Einmal öffentlich zu machen, wie diese Kosten sich zusammensetzen wünschten sich anschließend gleich mehrere Redner bei den Fragen an die Verwaltung. Auch dem Haushaltsplan der Verbandsgemeindewerke sind dazu keine Details entnehmbar. Im Erfolgsplan 2024 stehen im Bereich der Abwasserbeseitigung Einnahmen von 4.078 Millionen, Aufwendungen von 4.015 Millionen Euro, im Vermögensplan Einnahmen und Ausgaben von 8.591 Millionen Euro Schulden von insgesamt 7,75 Millionen Euro gegenüber. Verpflichtungsermächtigungen für Abwasserentsorgung, Wassergewinnung und Wasserversorgung für 2022 und folgende Jahre sind mit 8.467 Millionen Euro veranschlagt. Weder ist aufgeschlüsselt, woraus sich die jährlichen Aufwendungen zusammensetzen, noch weshalb eine so hohe Schuldenlast besteht. Darauf wurde auch in der heutigen Versammlung nicht eingegangen.

Die hohe Belastung größerer Grundstücke sei so nicht gewollt gewesen und werde auf jeden Fall noch verändert, sagte Bürgermeister Jung, der nach eigenen Angaben selbst ein Grundstück von 1800 Quadratmetern in Kirn besitzt. Auch das rief Ärger hervor: Sollen die kleinen Grundstücke dann zugunsten der großen mit höheren Beiträgen herangezogen werden? Besonders ärgerlich finden viele, dass überhaupt wiederkehrende Beiträge angesetzt werden, deren Höhe man durch Änderung des Verbrauchsverhaltens nicht steuern kann. Carl Christian Rheinländer als Mitglied der BI Limbachtal wies darauf hin, dass es ausschließlich in Rheinland-Pfalz überhaupt wiederkehrende Beiträge gebe; der Rest Deutschlands komme ohne aus. Das allein sei Beweis genug, dass es auch ohne gehe. Überhaupt vermisse er Nachhaltigkeit in der Wasserversorgungs-Planung. Der Hauptteil des wertvollen Nasses für die ganze Verbandsgemeinde komme aus Limbach- und Großbachtal, und die dortigen Quellen seien an ihrer Belastungsgrenze angekommen.

Während Werkleiter Stumm wiederkehrende Beiträge als einzige Möglichkeit bezeichnete, auch die Besitzer unbebauter Grundstücke zur Kasse bitten zu können, sagte Rheinländer, dieses Argument sei Quatsch. Es handele sich um reine Behördenwillkür und eine weitere Grundsteuer, zu der man die Bürger zur Kasse bitte. Auch die Kommunalberatung, mit der die Verbandsgemeinde zusammengearbeitet hatte, sei keine Behörde, sondern eine gewinnorientiert arbeitende Tochter des Städte- und Gemeindebundes, die hier gezielt gegen die Interessen der Bürger arbeite. Er plädierte dafür, dass man, wenn jetzt sowieso alle neu geregelt werde, man es auch „gleich richtig machen“ und zum Beispiel einen progressiven Tarif einführen könnte. Aus der Gemeinnützigen Baugenossenschaft war zu hören, dass die auf die Mieter umzulegenden Kosten im Jahr 2022 um 50 und im Jahr 2023 nochmal um 25 Prozent gestiegen sind. Das müsse erstmal vermittelt werden.

Sehr viel Kritik sei bei den Informationsveranstaltungen an die Verbandsgemeinde heran getragen worden, so Bürgermeister Jung. Nun wolle man es besser machen. Nicht nur überprüfen die Mitarbeiter der Verbandsgemeindewerke jetzt alle Datensätze des externen Dienstleisters zu den 7 500 Grundstücken noch einmal auf Richtigkeit. Auch sitze ein Ausschuss wöchentlich beisammen, um erneut zu beraten, ob man die richtige Wahl der Abrechnung getroffen habe. Man habe sich bereits mit einem Bürgermeister ausgetauscht, dessen gesamte Einnahmen nur über Gebühren und ohne wiederkehrende Beiträge kostendeckend seien. Auch dieser Gedanke stehe zur Diskussion – wobei Werkleiter Stumm darauf hinwies, dass die Bebauung der Verbandsgemeinde Kirner Land im Vergleich jedoch „viel weniger homogen“ sei. Es sei schwierig und teuer, sehr kleine Gemeinden mit wenigen Haushalten an das Netz anzuschließen.

Fazit: Die Verbandsgemeinde bucht zum 1. Mai erstmal ab. Was danach geschieht? Nichts genaues weiß man nicht. Offenbar bestehen starke Kräfte auf dem System der wiederkehrenden Beiträge. Aber auch der andauernde Protest der Einwohner hat die Verwaltung offensichtlich beeindruckt. Man kann also nur hoffen, dass dem Ausschuss noch etwas kluges einfällt, und dass es der Verwaltung gelingt, den externen Dienstleister in Regress zu nehmen, damit die Beitragszahler für dessen Murks nicht auch noch aufkommen müssen. Und die Einwohner? Sie standen nach der Veranstaltung noch Schlange, um weitere Fragen zu besprechen, nicht eingetroffene Erfassungsbögen zu melden und genaues Nachmessen ihrer Grundstücke zu fordern (siehe Bild oben). Zufrieden ist trotz Informationsveranstaltung auch jetzt keiner.

Manifest für einen neuen Rundfunk mit Teilhabe der Beitragszahler

„Nutzen Sie noch die öffentlich-rechtlichen Medien? 

Falls ja: Löst das bei Ihnen wachsende Unzufriedenheit aus? 

Dann sind Sie damit nicht allein!

Auch wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio, vermissen Meinungsvielfalt in der Berichterstattung. Auch wir zweifeln angesichts publik gewordener Skandale an den bestehenden Strukturen der öffentlich-rechtlichen Medien. Doch wir schätzen das Prinzip eines beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks als wichtige Säule von Demokratie und Kultur. Wir sind von seinen Grundsätzen und dem Programmauftrag überzeugt. Beides sehen wir allerdings in Gefahr.“

So werben Medienmacher und Unterstützer der öffentlich-rechtlichen Programme für ein Manifest, das an Deutlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. Um damit Erfolg zu haben, ist es mit einer Petition verbunden, die 50 000 Stimmen erreichen muss. Unterzeichner sind also jederzeit willkommen. Es geht um nichts weniger als die Erneuerung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Um die Einbeziehung derer, die diesen Rundfunk mit ihren Gebühren finanzieren. Und um das Entfernen des stetig zunehmenden Einflusses der Politik. In Zeiten, in denen man kaum noch unterscheiden kann, was fake news und was echte Nachrichten sind, wird diese Erneuerung jeden Tag wichtiger. Es muss Nachrichtenquellen geben, bei denen man sich in alle Richtungen informieren kann, die nicht von Werbetreibenden, und auch nicht von Politikern manipuliert werden.

Ein kleines Beispiel, warum das so wichtig ist: Israel will den arabischen Sender Al Jazeera abschalten, weil es sich um ein „Hetzblatt gegen Israel und zugunsten der Hamas“ handele. Die Bundesregierung zeigt sich „äußerst besorgt“ über die Beschneidung der Meinungsfreiheit. Aber: In Deutschland wurden russische Sender wie Russia today abgeschaltet, weil sie nach Ansicht der Bundesregierung fake news verbreiten und versuchen, die Bundesbürger im Sinne Russlands zu manipulieren. In der Ukraine wurde unter Präsident Selensky und Kriegsbedingungen 2023 ein neues Mediengesetz verabschiedet, das der ukrainischen Regierung volle Kontrolle über sämtliche Medien des Landes bis hin zu Bloggern gibt – alle können nach Bedarf zensiert werden. Bei den US-Medien sorgte das für größte Besorgnis und Aufrufe an Selensky, dies nicht zu tun – in Deutschland wurde gar nicht erst über das Gesetz berichtet.

Besonders auffällig wurde der Einfluss der Bundespolitik auf die Medien während Corona. Auch die öffentlich-rechtlichen Sender plusterten sich in Empörung der „Gerechten“ gegen jede Stimme auf, die sich gegen die restriktiven Maßnahmen der Regierung zu stellen wagte – das ging bis hin zur Heute-Show, die sich eigentlich der Satire verschrieben hat. Wer es wagte, sich öffentlich gegen die Impfflicht zu stellen, wurde von den Medien ausgegrenzt und verurteilt. Über die Sorgen der Menschen bezüglich der Impfungen und möglicher Nebenwirkungen wurde, wenn überhaupt, abwertend berichtet. Impfschäden wurden lange völlig tot geschwiegen. Die öffentlich-rechtlichen Medien sind immer öfter Sprachrohr der Regierungspolitik, bezeichnen sich aber trotzdem als unabhängig.

Die oben genannte Petition richtet sich an ARD/ZDF/DLR Rundfunkräte und Intendanten, die Rundfunkkommission der Länder und den Deutschen Bundestag.

Die Rundfunkräte überwachen die Einhaltung des gesetzlichen Sendeauftrags und sollen im Sinne des vom Gesetzgeber erdachten Vielfaltssicherungskonzepts die Offenheit des Zugangs zum Programm der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten für verschiedene gesellschaftlich relevante Gruppen garantieren. Der Rundfunkrat bestimmt nicht die Programmplanung; diese ist Aufgabe des Intendanten, sondern berät ihn lediglich.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 ein Urteil zur Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesprochen. Das Gericht erließ dabei ein „Gebot der Vielfaltsicherung“ bei der Besetzung der Rundfunkräte. Der „Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder“ wurde ausdrücklich auf höchstens ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums begrenzt, um die Staatsferne sicherzustellen.

Kritik wird beispielsweise daran geübt, dass zwar die Kirchen im Rundfunkrat vertreten sind, jedoch meistens keine Vertreter von anderen relevanten Religionsgemeinschaften, Atheisten und Agnostikern. Auch kann einem sich ändernden Bevölkerungsquerschnitt nur durch einen neuen Staatsvertrag Rechnung getragen werden. Ein weiterer Kritikpunkt des Gerichtes ist, dass die Beitragszahler bei der Zusammensetzung des Rates keinerlei Mitsprache- oder Wahlrecht haben.

In einer Studie des Netzwerkes Neue Deutsche Medienmacher*innen untersuchte Fabian Goldmann alle 542 Mitglieder der Rundfunkräte (ARD-Anstalten, Deutschlandradio, Deutsche Welle und ZDF). Er kommt zu dem Ergebnis, dass weder die Räte ihrem Anspruch, die Vielfalt der Gesellschaft zu repräsentieren, gerecht werden, noch dass benachteiligte Gruppen ausreichend anzutreffen sind. Goldmann kommt zum Fazit, dass eine gerechtere Repräsentation am fehlenden politischen Willen scheitere. Zur Verbesserung schlägt er unter anderem rotierende Sitze, Losverfahren und regelmäßige Neubewerbungen für einige Plätze vor.

Beispiel ARD: Die Verwaltungsräte der ARD-Landesrundfunkanstalten werden ausschließlich oder überwiegend vom Rundfunkrat gewählt. Die Aufgaben bestehen vor allem darin, den Wirtschaftsplan und den Jahresabschluss zu prüfen, den Dienstvertrag mit der Intendantin oder dem Intendanten abzuschließen und dessen bzw. deren Geschäftsführung zu überwachen. Gesetzliche Basis sind der ARD-Staatsvertrag (insb. §7 Abs. 2) und die ARD-Satzung (insb. §5a Abs. 1 und 2). Da Rundfunk Ländersache ist, orientieren sich die Gremien bei ihrer Arbeit jeweils an den für ihre Landesrundfunkanstalt geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Nun sollte man also meinen, durch die verschiedenen Kontrollgremien seien einem Missbrauch von Rundfunkgebühren genügend Sicherheitsriegel vorgeschoben. Aber dem ist nicht so.

2022 wurde öffentlich, welche komfortable Versorgung sich die Intendantin des rbb, Patricia Schlesinger, für die juristische Direktorin des Senders, Susann Lange, im Jahr 2020 unterschrieben hatte: Ihr Anstellungsvertrag sicherte dieser eine Grundvergütung von 195.000 Euro brutto jährlich, sowie eine „variable Vergütung“ von bis zu 8,33 Prozent, außerdem eine monatliche Aufwandsentschädigung von 250 Euro plus eine Kfz-Pauschale von 500 Euro. Dazu kam eine üppige, lebenslange Ruhestandsregelung: Sie errechnet sich aus einer vereinbarten Vergütung von 212.719 Euro (Grundvergütung plus variabler Anteil) jährlich. Der Vertrag der Juristischen Direktorin ist auf fünf Jahre befristet und endet Ende 2025.

Die Familie der Direktorin war im Vertrag gleich mit versorgt: Im Todesfall sichert dieser ein jährliches Witwengeld von 60 Prozent des Ruhegeldes zu, das an ihrem Todestag fällig werden würde. Waisen erhielten 20 Prozent davon und Halbwaisen 12 Prozent des Ruhegeldes. Darüber hinaus wurden auch andere Hinterbliebene mit einem sogenannten „Sterbegeld“ versorgt. Dazu zählen laut Vertrag nicht nur der Ehepartner oder die Ehepartnerin, sondern auch leibliche und angenommene Kinder, Verwandte der aufsteigenden Linie, Geschwister und Geschwisterkinder sowie Stiefkinder, die zum Zeitpunkt des Todes zur häuslichen Gemeinschaft der rbb-Juristin gehört haben…

Die Direktorin wurde vom Rundfunkrat auf Vorschlag der Intendantin gewählt. Ein Arbeitsvertrag wurde dem Rat nicht vorgelegt. Das Gehalt der Direktorin, die offenbar nicht die einzige beim rbb mit einem solchen Vertrag gewesen sein soll, war deutlich höher als beispielsweise das des Ministerpräsidenten. Nadia Pröpper-Schwirtzek, zertifizierte Compliance-Anwältin mit Spezialisierung auf Arbeitsrecht, hält die Vergütungs- und Versorgungsansprüche in den Verträgen für deutlich unangemessen, und deshalb in Teilen sittenwidrig.

Susann Lange wurde, genau wie Patricia Schlesinger, aus dem Amt entfernt. Der Intendantin selbst werden umstrittene Beraterverträge, Schlesingers Gehaltserhöhung auf 303.000 Euro, zusätzliche Boni, einen hochwertigen Dienstwagen (Wert: 145 000 €, mit Massagesitzen) samt zwei Chauffeuren , die Renovierung der Chefetage und Abendessen in ihrer Privatwohnung auf RBB-Kosten mit angeblich falschen Rechnungen vorgeworfen. Sie soll außerdem mehr als ein halbes Dutzend Urlaubsreisen auf Kosten des rbb gemacht haben, bei denen sie teilweise Familienangehörige begleiteten. Patricia Schlesinger klagte umgehend sowohl gegen ihre Entlassung, als auch um ein Ruhegeld von 18 400€ im Monat, das ihr laut Arbeitsvertrag lebenslang zusteht.

„Wie konnte Rundfunkrat und Verwaltungsrat entgehen, dass eine Frau an der Senderspitze die Bodenhaftung verloren hat, offenbar Regeln verletzte und womöglich Gesetze brach? Die Staatsanwaltschaft sieht bei Schlesinger, ihrem Ehemann und Ex-Verwaltungsratschef Wolf-Dieter Wolf mittlerweile einen Anfangsverdacht wegen Untreue und Vorteilsnahme“, schrieb im August 2022 der zur Springer-Presse gehörende Business-Insider, der den ganzen Skandal enthüllt hatte. Da gab es ein Boni-System, das Zusatzeinkommen garantierte, es gab geheime Absprache-Sitzungen vor den offiziellen Verwaltungsratstreffen, Wolf-Dieter Wolf hatte Schlesingers Ehemann Gerhard Spörl Honorare über rund 140 000 € verschafft, so die NZZ. Das komplette Gehalt der Intendantin wurde nie vorgelegt; auch die Wirtschaftsberichte des Senders blieben unter Verschluss. Obwohl hunderte von Seite stark, gab es für die Öffentlichkeit jährlich nur eine knappe Mitteilung über den jeweiligen Jahresverlust. Im Ranking der ARD-Sender belegt der rbb den letzten Platz.

Jörg Wagner vom rbb veröffentlichte im „Medienmagazin“ bei Radio Eins den kritischen Beitrag einer Journalistin über die ganze Affaire, der RBB-Finanzchef Claus Kerkhoff nicht gut aussehen ließ. Den Beitrag ließ der rbb, wie ebenfalls business Insider berichtete, nachträglich löschen, „weil er den Prozess der redaktionellen Abnahme nicht wie vorgeschrieben durchlaufen“ habe.

Vor dem Untersuchungsausschuss des Landes Brandenburg verweigerten alle drei Beteiligten die Aussage. Der rbb soll mittlerweile Forderungen in sechsstelliger Höhe gegen Schlesinger haben. Diese hat jetzt einen in monatlich fünfstelliger Höhe dotierten Beratervertrag. Laut Arbeitsvertrag beim rbb darf sie bis zu 90 Prozent ihres Ruhegehaltes ohne Anrechnung dazu verdienen. Der Sender prüft jetzt, ob das Ruhegeld wenigstens bis zum Beginn des offiziellen Rentenalters Schlesingers zurück gehalten werden kann.

„Wir sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der öffentlich-rechtlichen Medien aus verschiedenen Regionen des Landes. Wir arbeiten in unterschiedlichen Gewerken, Abteilungen und Redaktionen. Wir sind Programmmacher, Techniker, Sachbearbeiter, Kameraleute, Moderatoren, Sprecher sowie Musiker aus den Rundfunkorchestern und -chören. Uns eint der Wunsch nach Erneuerung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,“ heißt es im Vorwort zur anfangs genannten Petition.

„Auch wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio, vermissen Meinungsvielfalt in der Berichterstattung. Auch wir zweifeln angesichts publik gewordener Skandale an den bestehenden Strukturen der öffentlich-rechtlichen Medien. Doch wir schätzen das Prinzip eines beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks als wichtige Säule von Demokratie und Kultur. Wir sind von seinen Grundsätzen und dem Programmauftrag überzeugt. Beides sehen wir allerdings in Gefahr. Wir haben uns zusammengetan und ein Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk entworfen. Damit wollen wir unsere Stimme und Expertise in die Debatte um dessen Zukunft einbringen: einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sein Publikum ernst nimmt, der Debatten zulässt und ein breites Meinungsspektrum abbildet, ohne zu diffamieren.

Wir beobachten schwindendes Vertrauen der Menschen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zweifel an der gebotenen Regierungsferne sind nicht zu überhören. Von vielen wird die immer größer werdende Lücke zwischen Programmauftrag und Umsetzung beklagt. Zugleich ist es immer wichtiger für den demokratisch-gesellschaftlichen Diskurs, vertrauenswürdige öffentlich-rechtliche Medien zu haben.

Wir fordern:

  • Rückkehr zu Programminhalten, die den im Medienstaatsvertrag festgelegten Grundsätzen wie Meinungsvielfalt, Pluralität und Ausgewogenheit entsprechen.
  • Teilhabe der Beitragszahlenden bei medienpolitischen, finanziellen und personellen Entscheidungen, beispielsweise durch einen Bürgerrat.
  • Ein Beteiligungsverfahren, durch das alle relevanten Verbände und Initiativen, die sich für Veränderungen in den öffentlich-rechtlichen Medien einsetzen, eingebunden werden. Eine Möglichkeit ist ein Medienkonvent.“
  • Meinungs- und Informationsvielfalt
  • Ausgewogenheit und Fairness
  • Transparenz und Unabhängigkeit
  • Förderung von Kultur und Bildung
  • Bürgerbeteiligung
  • beitragsfinanziert,

das sind die Punkte, die das Manifest fordert. Der Wortlaut ist absolut lesenswert, deshalb hier in ganzer Länge:

„Seit geraumer Zeit verzeichnen wir eine Eingrenzung des Debattenraums anstelle einer Erweiterung der Perspektive. Wir vermissen den Fokus auf unsere Kernaufgabe: Bürgern multiperspektivische Informationen anzubieten. Stattdessen verschwimmen Meinungsmache und Berichterstattung zusehends auf eine Art und Weise, die den Prinzipien eines seriösen Journalismus widerspricht. Nur sehr selten finden relevante inhaltliche Auseinandersetzungen mit konträren Meinungen statt. Stimmen, die einen – medial behaupteten – gesellschaftlichen Konsens hinterfragen, werden wahlweise ignoriert, lächerlich gemacht oder gar ausgegrenzt. Inflationär bedient man sich zu diesem Zwecke verschiedener „Kampfbegriffe“ wie „Querdenker“, „Schwurbler“, „Klima-Leugner“, „Putin-Versteher“, „Gesinnungspazifist“ und anderen, mit denen versucht wird, Minderheiten mit abweichender Meinung zu diffamieren und mundtot zu machen.

Das sorgfältige Überprüfen zweifelhafter Meldungen ist wichtig. Allerdings suggerieren sogenannte Faktenchecks oft durch ihre Machart, Überschrift und Formulierungen eine vermeintlich absolute Wahrheit, die selten existiert. Der freie gesellschaftliche Diskurs wird dadurch schmerzhaft beschnitten.

Innere und äußere Bedingungen führen dazu, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihren journalistisch-ethischen Standards nicht mehr genügen können. Dazu zählen innerbetriebliche Praktiken wie die schon vor Dreh- bzw. Reportage-Beginn feststehende Kernaussage von Beiträgen, die Zentralisierung der Berichterstattung über sogenannte Newsrooms oder Newsdesks, zu großer Zeitdruck bei der Recherche, eine überwiegend an Einschaltquoten orientierte Programmgestaltung, Sparmaßnahmen der Sender am Programm und nicht zuletzt die Tatsache, dass zwei Drittel des redaktionellen Personals nur Zeitverträge haben oder gar komplett ohne Angestelltenverhältnis als sogenannte Freie arbeiten müssen. Letzteres führt zu Existenzängsten, die wiederum entsprechend „angepassten“ Journalismus begünstigen. Aufgrund der hohen personellen Fluktuation bleibt zudem oft keine Zeit für fachlichen Wissenstransfer.

Innere Pressefreiheit existiert derzeit nicht in den Redaktionen. Die Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Medien sind zwar formal unabhängig, meist gibt es auch Redaktionsausschüsse, die über die journalistische Unabhängigkeit wachen sollten. In der Praxis aber orientieren sich die öffentlich-rechtlichen Medien am Meinungsspektrum der politisch-parlamentarischen Mehrheit. Anderslautende Stimmen aus der Zivilgesellschaft schaffen es nur selten in den Debattenraum.

Dazu erschwert äußere Einflussnahme durch Politik, Wirtschaft und Lobbygruppen einen unabhängigen Qualitätsjournalismus. Interessensverflechtungen von Politik und Wirtschaft werden zu selten in tagesaktuellen Beiträgen aufgezeigt und erörtert. Alltägliche Recherchen bleiben im Kern oft oberflächlich.

Bei der Programmgestaltung dürfen Faktoren wie Einschaltquoten, die derzeit als allgegenwärtiges Argument für die dramatische Ausdünnung und populistische Ausrichtung der Kultur- und Bildungsangebote sorgen, keine Rolle spielen. Der öffentlich- rechtliche Rundfunk muss auch vermeintliche „Nischenbereiche“ abbilden und zu vermitteln versuchen – was seinem Bildungsauftrag entspräche, jedoch immer weniger stattfindet. Zudem darf sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht die strikt und gleichförmig durchformatierten Programme privater Sender zum (schlechten) Vorbild nehmen, wie dies aktuell weitestgehend der Fall ist. Dies gilt auch und vor allem in musikalischer Hinsicht für die ARD-Radioprogramme.

An der Auswahl der Mitglieder der Rundfunk-, Fernseh- und Verwaltungsräte, der höchsten Kontrollgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, sind die Beitragszahler nicht direkt beteiligt. Die Verwaltungsräte kontrollieren die Geschäftsführung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, doch wer kontrolliert die Verwaltungsräte?

Das heißt: es gibt keine Partizipation der Beitragszahler bei medienpolitischen, finanziellen und personellen Entscheidungen.

Auch die Programme werden größtenteils ohne Publikumsbeteiligung erstellt. Die meisten Programmbeschwerden von Beitragszahlern finden kaum Gehör und haben entsprechend wenig Einfluss auf die Berichterstattung und generelle Programmgestaltung. Sowohl das Publikum als auch die Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden in der Regel nicht über die Reaktionen und Beschwerden zum Programm informiert.

Nur ein Teil der Inhalte der öffentlich-rechtlichen Medien ist im Internet abrufbar und meist nur für eine begrenzte Dauer. Diese Praxis widerspricht der Idee eines öffentlich- rechtlichen Rundfunks und dem Gedanken eines universellen Wissenszuwachses im Internet.“

So soll der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk von Morgen für die Ersteller des Manifestes aussehen:

„Das Prinzip der Rundfunkbeitragszahlung wird beibehalten. Es sichert die Unabhängigkeit des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das heißt: öffentlich-rechtliche Anstalten werden von der Bevölkerung finanziert, aber auch kontrolliert.

Finanzflüsse sind transparent und öffentlich einsehbar. Dies gilt insbesondere für die Budgetverteilung zwischen einzelnen Ressorts, Redaktionen und der Verwaltung. Die Bezahlung aller Mitarbeiter, einschließlich Führungsposten bis hin zur Intendanz, ist transparent und einheitlich nach einem für alle geltenden Tarifvertrag geregelt. Die Berichte der Landesrechnungshöfe sind auf den Plattformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks leicht auffindbar.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk verzichtet auf Werbeeinnahmen aller Art, sodass Werbeverträge nicht zu Befangenheit in der Berichterstattung führen können.

Den Beitragszahlern gehört der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk. Ihre mehrheitliche Einbindung in den Kontrollgremien ist daher selbstverständlich. Diese Arbeit wird angemessen honoriert. Sie schließt die Wahrnehmung eines weiteren Amts, welches Interessenkonflikte birgt, aus. Die repräsentative Zusammensetzung der Kontrollgremien könnte beispielsweise nach dem Vorbild der Besetzung von Bürgerräten erfolgen. Direkte Wahl, Rotationsprinzip oder Losverfahren sind Möglichkeiten, um die Gesellschaft repräsentativ abzubilden.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk fungiert als Vierte Säule der Demokratie. Im Auftrag der Bevölkerung übernimmt er wichtige Kontrollaufgaben gegenüber den Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative. Damit er diesen Auftrag erfüllen kann, ist seine Unabhängigkeit von Staat, Wirtschaft und Lobbygruppen garantiert.

Drehtür-Effekte zwischen Politik und dem neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind dank mehrjähriger Sperrfristen ausgeschlossen; professionelle Distanz ist jederzeit gewährleistet. Jegliche Art von Interessenskonflikt wird angegeben, wie es auch in wissenschaftlichen Arbeiten üblich ist. Das Führungspersonal ist verpflichtet, jährlich einen öffentlichen Transparenzbericht vorzulegen. Führungspositionen müssen öffentlich ausgeschrieben sowie nach einem transparenten Auswahlverfahren besetzt werden und sind zeitlich limitiert. Eine Vertragsverlängerung ist nur nach Abstimmung durch die direkt unterstellten Mitarbeiter möglich.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk kontrolliert die Politik und nicht umgekehrt. Die Politik hat keinen Einfluss auf Inhalte. Es wird neutral, multiperspektivisch und zensurfrei im Rahmen des Grundgesetzes berichtet.

Dazu gehört die Verpflichtung, vermeintliche Wahrheiten immer wieder zu überprüfen. Für die Berichterstattung bedeutet dies ergebnisoffene und unvoreingenommene Recherche sowie die Präsentation unterschiedlicher Sichtweisen und möglicher Interpretationen.

Das Publikum hat einen Anspruch darauf, sich mit einem Sachverhalt auseinandersetzen und selbstständig eine Meinung bilden zu können, anstatt eine „eingeordnete“ Sicht präsentiert zu bekommen.

Meldungen von Nachrichtenagenturen werden soweit möglich nicht ungeprüft übernommen. Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt seine Verantwortung wahr, Ereignisse jenseits von Agenturmeldungen zu recherchieren und darüber zu berichten.

Fairness und respektvoller Umgang im Miteinander stehen im Fokus unseres Handelns, sowohl innerhalb der Funkhäuser als auch mit unserem Publikum. Die Journalisten des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks benutzen kein Framing und verwenden keine abwertenden Formulierungen.

Petitionen und Programmbeschwerden seitens der Gebührenzahler werden vom neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ernst genommen. Eine Ombudsstelle entscheidet über deren Einordung, Umsetzung und Veröffentlichung. Inhaltliche Korrekturen der Berichterstattung werden an derselben Stelle kommuniziert wie die fehlerhafte Nachricht im Programm.

Zur Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Vielfalt gehört Lokaljournalismus als wesentliches Fundament des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auch Themen aus dünn besiedelten Regionen, die vermeintlich nur von lokaler Relevanz sind oder Minderheiten betreffen, müssen sich im Programm spiegeln. Die Entscheidung, auch aus Gegenden fernab von Ballungsgebieten oder Metropolen zu berichten, muss von journalistischem Anspruch geleitet sein und darf sich nicht dem Kostendruck beugen.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk kommt seinem Auftrag in gleichem Maße auch in Sachen Bildung und Kultur nach. Bildung und Kultur haben substanziellen Anteil am Programmangebot und werden angemessen budgetiert und personell ausgestattet.

Kultur in ihrer breiten Vielfalt ist ein wichtiger Baustein und Ausdruck der demokratischen Gesellschaft. Diese Vielfalt gilt es umfangreich zu präsentieren und dokumentieren. Das betrifft alle Disziplinen wie Musik, Literatur, Theater, Bildende Künste und andere. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den aktiven Förderaspekt gelegt, beispielsweise durch eigene Produktionen sowie die Unterstützung von regionalen Künstlern.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk setzt mit eigenen Klangkörpern wie Orchestern, Big Bands und Chören Akzente im kulturellen Leben und engagiert sich im Bereich der Radiokunst Hörspiel.

Die Archive des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind frei zugänglich. Sie sind wesentliche Wissens- und Identitätsspeicher unserer Gesellschaft und somit von großer kultureller und historischer Bedeutung mit immenser Strahlkraft. Aus den Archiven, die er kontinuierlich in breitem Umfange erweitern sollte, kann der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk anhaltend schöpfen und sich und die Gesellschaft damit der Relevanz von Kultur und Bildung versichern.

Die Inhalte der Archive und Mediatheken des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind dauerhaft abrufbar. Die bereits gesendeten Beiträge und Produktionen stehen zeitlich unbegrenzt zur Verfügung. So kann jederzeit auf das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft zurückgegriffen werden. Dies ist für die öffentliche Meinungsbildung unverzichtbar.

Der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk verfügt über eine von Rundfunkbeiträgen finanzierte, nicht kommerzielle Internetplattform für Kommunikation und Austausch. Diese verwendet offene Algorithmen und handelt nicht mit Nutzerdaten. Er setzt in diesem Raum ein Gegengewicht zu den kommerziellen Anbietern, weil ein zensurfreier, gewaltfreier Austausch zu den Kernaufgaben des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehört.

Qualitätsjournalismus braucht eine solide Basis. Im neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten überwiegend fest angestellte Journalisten, damit sie weitestgehend frei von ökonomischen und strukturellen Zwängen sind. Dadurch sind sie unabhängig und ausschließlich dem Pressekodex verpflichtet. Für Recherche steht ausreichend Zeit zur Verfügung. Die individuelle Verantwortung des Redakteurs bzw. Reporters muss gewährleistet sein und nicht zentralistisch von einem Newsroom oder Newsdesk übernommen werden.

Journalistische Autonomie ist ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung journalistischer Qualität und Meinungsvielfalt. Deshalb wird die Weisungs-Ungebundenheit redaktioneller Tätigkeit im Hinblick auf Themenauswahl, Themengestaltung und Mitteleinsatz nicht nur in Redaktionsstatuten, sondern auch in den Landespressegesetzen und Rundfunk-Staatsverträgen festgeschrieben.

Outsourcing ist kontraproduktiv. Es verhindert öffentliche Kontrolle und fördert Lohndumping. Die Produktion von Programminhalten, die Bereitstellung von Produktionstechnik und -personal sowie die Bearbeitung von Publikumsrückmeldungen erfolgen deshalb durch die Sender.

Der neue (wie auch der jetzige!) öffentlich-rechtliche Rundfunk steht nicht in Konkurrenz zu den privaten Medien. Daher wird die vorrangige Bewertung nach Einschaltquoten bzw. Zugriffszahlen abgeschafft.

Die Stabilität unserer Demokratie erfordert einen transparent geführten neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk als offenen Debattenraum. Zu dessen Eckpfeilern gehört die Unabhängigkeit der Berichterstattung, die Abbildung von Meinungsvielfalt sowie die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern.“

Alle Fotos sind Screenshots von den Websites der Medienanstalten

Weltordnung und Weltwährung drehen: Der Stern des Westens sinkt

Die bisherige Weltordnung ist mitten in einem scharfen Umschwung – und kaum jemand redet darüber.

Noch.

In Deutschland jedenfalls.

Der US-Dollar und mit ihm die USA verlieren in immer rasanterem Tempo an weltweiter Dominanz. Was das für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bedeutet, blenden die meisten Politiker am liebsten aus, ist es doch zu beängstigend. In rasendem Tempo übernimmt der Osten unter Chinas Führung die wirtschaftliche Weltherrschaft. Immer öfter lachen Staaten weltweit den Westen und seinen politischen Führungsanspruch aus. Der US-Dollar und mit ihm die USA verlieren in immer rasanterem Tempo an weltweiter Dominanz. Am schlechtesten steht dabei Europa da: Im Gegensatz zu den USA hat der Staatenverbund kaum eigene Rohstoffe. Alles, was Europa zu bieten hat, ist Wohlstand, der auf Erfolgen der Vergangenheit basiert und ein hohes innovatives Potential. Aber der Abstand zu früheren Entwicklungsländern wird stetig kleiner.

Und das ist erst der Anfang.

Es ist der Ukraine-Krieg, der den lange schwelenden Ärger der Welt über den Führungsanspruch der USA so deutlich wie nie vorher offenbar werden lässt. Es begann mit der ständigen Provokation Russlands durch die Führungsmacht der Nato, die von allen Verbündeten selbstverständlich vehement geleugnet wird. Nachdem die Annektierung der Krim für Präsident Putin kaum Folgen hatte, sah dieser sich ermutigt, im nächsten Schritt gleich die ganze Ukraine einzunehmen und marschierte am 24. Februar 2022 dort ein.

Die Reaktion des Westens fiel aus, wie immer seit vielen Jahren: Mit ihrer ganzen Wirtschaftskraft machten sie mobil gegen den Angreifer. Wieder einmal wurde die Herrschaft der USA über den Dollar benutzt, um massive Sanktionen einzuleiten, die bis heute ständig verstärkt werden. Dieses Verhalten ist weltweit gefürchtet und verhasst, wird es doch seit Jahrzehnten zunehmend genutzt, um andere Staaten zu politischem Wohlverhalten im Sinne des Westens zu bewegen. Aber diesmal geht die Rechnung nicht auf. Weil die Sanktionen weltweit zu extrem steigenden Energiekosten geführt haben. Weil Nahrungsmittel so teuer geworden sind, dass immer mehr Menschen sie sich nicht leisten können. Weil die Wut auf Nordamerika einen Point of no Return erreicht hat.

Die USA sind ein zerrissenes Land. Unter der Präsidentschaft von Donald Trump wurden die widerstreitenden politischen Meinungen im Land derart offenbar, dass sie weltweit nicht mehr übersehen werden konnten: Rechte Hardliner ziehen das Land zunehmend weg von seinem demokratischen Grundsätzen, zurück in einen fast mittelalterlich wirkenden Zustand. Mehrere völkerrechtswidrige Kriege mit weltweit bekannten Kriegsverbrechen haben besonders im Osten die Achtung vor dem Land, das ständig mit dem Zeigefinger Menschenrechte und demokratische Werte anmahnt, immer weiter schwinden lassen. Gleichzeitig ist der Punkt gekommen, an dem sich das ungebremste Schuldenmachen der Nation gegen sie wendet: Auf mehr als 32 Billionen Dollar werden die Staatsschulden inzwischen geschätzt. 32 000 000 000 Dollar. Die Folgen: Allein die Zinszahlungen für diese enorme Summe lagen in den letzten neun Monaten bei 652 Milliarden Dollar – 25 Prozent höher als vor einem Jahr.

Von Oktober 2022 bis Juni 2023 gab die US-Regierung 1,4 Billionen Dollar mehr aus, als ursprünglich im Staatshaushalt veranschlagt – auch deshalb, weil sie mit insgesamt 60 Milliarden Dollar Hauptfinanzier der massiven Kosten zur Verteidigung der Ukraine ist. Das sind um 170 Prozent höhere Ausgaben als in der gleichen Periode des Vorjahres. Sie treffen zusammen mit sinkenden Staatseinnahmen und deutlich gestiegenen Kreditzinsen. „Wir entgleisen in einem alarmierend schnellen Tempo“ fasste die Vorsitzende des Commites für einen verantwortungsvollen Staatshaushalt, Maya Macguineas, zusammen. Den amerikanischen Bürgern geht es nicht anders: Deren Kreditkarten-Schulden haben jetzt die Milliardengrenze überschritten.

Viel zu spät mahnte erst im Juni 2023 US-Finanzministerin Janet Yellen, die frühere Fed-Chefin vor immer stärkeren Sanktionen durch ihr Land: „Sie könnten die Sanktionierten dazu bewegen, sich Alternativen zu suchen,“ erklärte sie. Aber jetzt ist ein Zurückrudern gar nicht mehr möglich. Im Juli 2023 fiel der US-Dollar auf das niedrigste Niveau seit 15 Monaten, im August setzt sich der Trend bisher fort. Während die Öl-Importe Chinas um mehr als 45 Prozent zunahmen, ist die strategische Ölreserve der Vereinigten Staaten auf dem niedrigsten Stand seit 1983. Russland, dessen Kriegskasse durch die Sanktionen ausgetrocknet werden sollte, hat eine weiter sprudelnde Einnahmequelle, indem es jede Menge Öl nach China und Saudi-Arabien verkauft. Saudi-Arabien exportiert sein eigenes Öl teuer nach Europa – ein Ringtausch also, so wie es Nato-Länder mit den Waffen für die Ukraine vereinbart haben.

In Europa hat man sich mit den Sanktionen selbst geschwächt: Im Winter 2022/2023 konnte eine Energiekrise nur knapp vermieden werden; wie es mit dem kommenden Winter aussieht, wissen wir noch nicht. Die Energiekosten insgesamt sind erheblich gestiegen, besonders in Deutschland, dem Wirtschaftsmotor der EU. Inzwischen stagniert die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Auch Deutschland unterstützt die Ukraine im Kampf gegen Russland massiv: Bisher wurden, so Finanzminister Lindner am 14. August in Kiev, 22 Milliarden dafür ausgegeben, davon 12 Milliarden Euro für militärische Hilfe.

Ein kurzer, nicht vollständiger Abriss der letzten 50 Jahre soll aufzeigen, wie sich die bisherige Weltordnung zusammensetzt. In dieser gibt es sogenannte Schwellen- und Entwicklungsländer, die alle in wirtschaftlicher Hinsicht dem Westen bisher nicht das Wasser reichen konnten. Dazu gehören der Nahe Osten ebenso wie ganz Afrika, wie Indien, China und Südamerika. Dies hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten aber zunehmend verändert: Sowohl die arabischen Länder, als auch China und Indien, sowie immer noch Russland, drängen mit Macht, zunehmender Wirtschaftskraft und wachsendem Führungsanspruch auf die Weltbühne.

In den 1970er Jahren haben die USA und Saudi-Arabien einen Deal beschlossen: Die USA würden das Land beschützen, und dafür würden alle Öl-Verkäufe in Dollar abgerechnet. Nur mühsam erkennen die amerikanischen Politiker, wie sehr sich die Zeiten inzwischen gewendet haben. Das arabische Land ist schon lange nicht mehr ihr Freund, sondern erhebt im Nahe Osten einen eigenen Führungsanspruch. „Die Golfstaaten und Russland sind begierig darauf, alle Formen ihrer Zusammenarbeit innerhalb der OPEC zu verstärken“, titelten die Arab News am 14. Juli. Man müsse die globale Wirtschaft und die Stabilität des Ölmarktes stärken, hieß es, und: Die Golfstaaten stehen hinter dem UN-Beschluss, sich nicht in die „inneren Angelegenheiten“ (gemeint sind der Ukraine-Krieg und Chinas Anspruch auf Taiwan) anderer Länder einzumischen.

Die G7 (Abkürzung für Gruppe der Sieben) ist ein informeller Zusammenschluss der zu ihrem Gründungszeitpunkt bedeutendsten Industriestaaten der westlichen Welt in Form regelmäßiger Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Das Forum dient dem Zweck, Fragen der Weltwirtschaft zu erörtern. Ihm gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten an. Die Europäische Kommission hat einen Beobachterstatus.

Die G7-Staaten stellen etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung und erwirtschaften etwa 45 Prozent des weltweiten Bruttonationaleinkommens. Die Gruppe wurde 1975 etabliert und 1998 durch die Aufnahme Russlands zur G8 erweitert. Am 24. März 2014 schlossen die anderen Mitglieder Russland aufgrund der Annexion der Krim aus und kehrten zum ursprünglichen Format der G7 zurück.

Den ersten „Weltwirtschaftsgipfel“, aus dem die G7 entstanden, haben 1975 der frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing und der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt ins Leben gerufen. Die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Großbritannien und den USA – die Gruppe der Sechs – trafen sich zu einem Kamingespräch auf Schloss Rambouillet in Frankreich. Angesichts der ökonomischen Probleme in den 1970er-Jahren – erste Ölkrise und Zusammenbruch des Systems der festen Wechselkurse (Bretton Woods) – diente das Treffen einem Gedankenaustausch über Lösungsansätze.

Foto: Gründungsversammlung der G6 1975 auf Schloss Rambouillet, Frankreich

Bestandteil des Bretton-Woods-Abkommens war der „White Plan“. In dessen Zentrum stand die US-Währung, zu der alle anderen Währungen ein fixes Wechselverhältnis hatten. Das Tauschverhältnis zwischen Dollar und einer Unze Gold wurde auf 35 Dollar je Unze Feingold (31,104 Gramm) festgelegt. Um die Goldparität des Dollars zu sichern, verpflichtete sich die Federal Reserve Bank of New York (FED), Gold zu diesem Preis unbegrenzt zu kaufen oder zu verkaufen. Der Goldpreis in US-Dollar wurde so für Jahrzehnte festgelegt. Der Dollar war damit goldgedeckte Weltleitwährung, eine Tatsache, die den USA zu großer wirtschaftlicher Macht verhalf.

Die Zentralbanken der Mitgliedsstaaten verpflichteten sich im Vertrag von Bretton Woods dazu, durch Eingriffe an den Devisenmärkten die Kurse ihrer Währungen in festgelegten Grenzen zu halten. Sobald einer der Wechselkurse nicht mehr dem realen Austauschverhältnis entsprach, mussten sie Devisen kaufen beziehungsweise verkaufen, um das Verhältnis wiederherzustellen. Devisengeschäfte waren hauptsächlich Käufe und Verkäufe von einheimischen Währungen der jeweiligen Länder gegen den US-Dollar. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wurde geschaffen, um das Funktionieren des Systems zu gewährleisten.

Tabelle: IWF – Wikipedia

Das Bretton-Woods-System litt von Anfang an unter einem als Triffin-Dilemma bezeichneten Konstruktionsfehler. Der wachsende Welthandel führte zu einem steigenden Bedarf an Dollar-Währungsreserven. Diese Währungsreserven konnten aber nur durch konstante Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber den USA erwirtschaftet werden. Die USA unterlagen dabei nicht dem Leistungsbilanzanpassungszwang anderer Länder, weil die Verschuldung in eigener Währung vom Ausland finanziert wurde, solange ausländische Staaten ein Interesse daran hatten, Währungsreserven anzulegen.

Ständige US-Leistungsbilanzdefizite mussten jedoch früher oder später das Vertrauen in den Dollar untergraben. Durch hohe Leistungsbilanzdefizite der USA überstiegen die Ende der 1950er Jahre bei ausländischen Zentralbanken befindlichen Dollarbestände die Goldreserven der USA bei weitem. Wenn alle Bretton-Woods-Mitglieder gleichzeitig auf der im Bretton-Woods-System vorgesehenen Goldeinlösepflicht bestanden hätten, hätten die USA dem nicht vollumfänglich nachkommen können.

Der Dollarpreis am freien Goldmarkt hatte schon über längere Zeit Druck auf den offiziellen Goldpreis ausgeübt. Als im Februar 1973 eine Entwertung von 10 Prozent bekannt gegeben wurde, entschieden sich Japan und die EWR-Länder relativ schnell dazu, die Wechselkurse ihrer Landeswährungen zukünftig nicht mehr am Dollar zu fixieren. Zwischen dem 11. und 14. März 1973 beschlossen mehrere europäische Länder den endgültigen Ausstieg aus dem System fester Wechselkurse, angeführt von der Schweiz und Großbritannien. Im selben Jahr wurde das Bretton-Woods-System offiziell außer Kraft gesetzt. Danach wurden in den meisten Ländern die Wechselkurse freigegeben.

Die heutige Weltwährungsordnung ist eine Mischung aus einem System mit fixen und mit flexiblen Wechselkursen. Zwischen den Ländern des Europäischen Währungssystems EWS und Nichtmitgliedsländern wie zum Beispiel Japan und den USA besteht ein sich frei bewegendes Wechselkurssystem. Auf den internationalen Devisenmärkten in London, New York, Tokio und Frankfurt passen sich in diesem Wechselkurssystem die einzelnen Währungen den Gegebenheiten von Angebot und Nachfrage an. Gold spielt als internationales Zahlungsmittel kaum mehr eine Rolle, es sichert den heutigen Dollar nicht mehr ab. Die Tatsache, dass der weltweite Handel vorwiegend in Dollar getätigt wird, sichert noch immer den Status der USA.

Die G20 ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss aus 19 Staaten und der Europäischen Union. Sie repräsentiert die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Die G20 dient vor allem als Forum für den Austausch über Probleme des internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems, aber auch zur Koordination bei weiteren globalen Themen wie Klimapolitik, Frauenrechten, Bildungschancen, Migration oder Terrorismus. In den in der G20 direkt oder indirekt vertretenen Staaten leben knapp unter zwei Drittel der Weltbevölkerung. Sie erwirtschaften über 85 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) und bestreiten rund drei Viertel des Welthandels (Stand Ende 2016).  Sie sind auch für rund 80 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Das mit Abstand geringste Pro-Kopf-Einkommen der G20-Staaten hat Indien. Konkrete Erfolge waren etwa nach der weltweiten Finanzkrise die Stabilisierung der Finanzmärkte durch verbindliche Eigenkapitalquoten und strengere Regeln zur internationalen Bankenregulierung. Darüber hinaus wurden Maßnahmen gegen Steuervermeidung (wie etwa die globale Mindeststeuer) vereinbart, der Informationsaustausch zur Terrorabwehr verbessert, die Covax-Initiative vorbereitet und Maßnahmen zum Kampf gegen den Klimawandel auf den Weg gebracht.

Tabelle: IWF-Wikipedia

Die BRICS-Staaten sind eine Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften. Die Abkürzung „BRICS“ steht für die Anfangsbuchstaben der fünf zugehörigen Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Etwas mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung, knapp über drei Milliarden Menschen, leben in den BRICS-Staaten. Ihr Anteil am nominellen weltweiten Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2021 ein Viertel. Beim BIP nach Kaufkraftparität lag er mit über 31 Prozent deutlich höher. (Zum Vergleich: In den G7-Staaten leben etwa 11 Prozent der Weltbevölkerung, kaufkraftbereinigt werden dort 33 Prozent des weltweiten BIP erwirtschaftet).

Die New Development Bank, ehemals BRICS Development Bank wurde als eine multilaterale Entwicklungsbank am 15. Juli 2014 von den BRICS-Staaten als eine Alternative zu den bereits existierenden Institutionen Weltbank und Internationalem Währungsfonds gegründet. Als Schwesterorganisation entstand das Contingent Reserve Arrangement (CRA) mit einem Anfangskapital von 100 Milliarden Dollar. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs seit 2022 und des Konflikts um Taiwan „strebt der BRICS-Staatenbund nach mehr politischem Gewicht und versucht, sich als Alternative zur G7 zu positionieren“, so Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zum Ukrainekrieg selbst haben sich die Mitglieder der BRICS-Staaten nur zurückhaltend geäußert.

Vor dem Gipfel vom 22. bis 24. August 2023 in Südafrika, zu dem insgesamt 67 Staatschefs eingeladen sind, haben 40 weitere Staaten ihr Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft geäußert, darunter Bahrain, Indonesien, Mexiko, Nigeria und die Vereinigten Arabischen Emirate. Davon haben bisher 22 einen offiziellen Aufnahmeantrag gestellt, darunter Ägypten, Algerien, Argentinien, Iran und Saudi-Arabien. Südafrika, das den Gipfel leiten wird, hat überdies alle Staatschefs des afrikanischen Kontinents eingeladen, mit der Absicht, ganz Afrika in den Staatenbund zu integrieren. Auf dem Kontinent konkurrieren derzeit China, Russland und der Westen um Einfluss auf die rohstoffreichen, aufstrebenden Länder.

Ein weiterer Schwerpunkt der Interessen ist Südamerika. Da gibt es das Lithium-Dreieck mit Chile, Argentinien und Bolivien, in dem 60 Prozent der weltweiten Lithiumreserven zu finden sind. Peru und Chile sind die beiden weltgrößten Kupferproduzenten, und Brasilien besitzt 19 Prozent aller Nickel-Reserven. Vor dem Hintergrund des Klimawandels werden Unmengen der genannten Metalle gebraucht, um Energie speichern zu können. Auch hier scheinen der Westen und der Dollar ein Rennen zu verlieren: Zahlreiche Länder Südamerikas sind dabei, sich für den Yuan = CNY (Renminbi = RMB), also die chinesische Währung als Zahlungsmittel bei internationalem Handel zu entscheiden. Auch der Iran, der wegen der US-Sanktionen sein Öl nur schwer verkaufen kann, ist inzwischen im bilateralen Handel auf Landeswährungen ausgewichen. Vor wenigen Tagen haben Indien und Saudi-Arabien einen Vertrag unterzeichnet, wonach Indien seine Ölkäufe in seiner eigenen Währung, der Rupie, bezahlen darf. Die erste Zahlung ist diese Woche erfolgt. Argentinien will den Banken erlauben, Kundenkonten in Yuan zu eröffnen.

So könnte das Zahlungssystem der BRICS-Staaten aussehen unter Zuhilfenahme der Landeswährungen und unterstützt durch neue digitale Währungen.

Eines der großen Ziele der BRICS-Gruppe ist es, sich ein- für allemal aus der Klammer des Dollars zu befreien. Wie wichtig das für viele Staaten weltweit ist, wurde mit dem Ukrainekrieg noch einmal besonders deutlich. Die USA benutzen ihre Währung immer wieder, um mit Hilfe von „Sanktionen“ andere Staaten zu politischem Handeln in ihrem Sinn zu zwingen. Zwei Staaten, die darunter seit Jahrzehnten leiden, sind beispielsweise Kuba und der Iran. Jetzt sind so gut wie alle Staaten weltweit betroffen: Durch US-Sanktionen gegen Russland, die den Handel mit dem Land und dessen befreundeten Staaten empfindlich behindern, leiden vor allem ärmere Länder, für die sich Energie und Nahrungsmittel in teils unerträglicher Weise verteuert haben.

Deshalb prüft die BRICS-Gruppe die Einführung einer eigenen Währung, die durch Gold und andere wertvolle Ressourcen gedeckt werden könnte, wie etwa mit Seltenen Erden. Als ersten Schritt soll nächste Woche über einen Ausschuss gesprochen werden, der die Einrichtung eines gemeinsamen Zahlungssystems planen soll. Jedes Mitglied soll auch seine eigene Währung einbringen können. Die Neue Entwicklungsbank hat sich außerdem zum Ziel gesetzt, bis 2026 ein Drittel ihrer Kredite in Landeswährungen zu vergeben. Man habe nicht die Absicht, in einen Wettbewerb gegen den Dollar einzutreten, heißt es. Muss man ja auch gar nicht, wenn man ohne diesen auskommt. Verschiedene Kryptowährungen, wie etwa der digitale Yuan, der jetzt in China getestet wird, bieten weitere Möglichkeiten. Die Nutzer können ihr Geld in einer App über das Handy verwalten.

Foto: CZ. Zlataky – Unsplash

Eine Währung ist immer so viel wert, wie sie an Vertrauen unter den Nutzern hat. Das gilt besonders, wenn die Währungen nur aus gedrucktem Papier bestehen, wie der Dollar und auch der Euro. Dass das Vertrauen in den Dollar sinkt, ist seit einiger Zeit auch daran zu erkennen, dass die Zentralbanken weltweit ihre Goldkäufe verstärken. China hat allein 2023 bis einschließlich Juni nach eigenen Angaben 165 Tonnen Gold gekauft und seine offiziell gemeldeten Reserven auf 2113 Tonnen aufgestockt. Im gesamten Jahr 2022 kaufte das Land nur 62 Tonnen. Es ist außerdem eines der Länder mit den größten Goldreserven weltweit. Seit Jahrzehnten hält China massive Dollar-Reserven, die es in letzter Zeit verstärkt abstößt. Aber: Durch die Ausweitung des Handels in der Landeswährung vermehrt sich automatisch die Geldmenge in Yuan, was wiederum dessen Wert drückt. Ein Argument mehr für eine BRICS-Gemeinschaftswährung.

Insgesamt beliefen sich die weltweiten Goldreserven 2022, soweit sie veröffentlicht wurden, auf 35 500 Tonnen. Seit 2021, besonders stark aber seit dem letzten Quartal 2022, steigen die Goldkäufe massiv an. Die im Verhältnis mit Abstand größten Goldkäufe tätigte 2022 die Türkei: Sie steigerte ihre Reserven um 148 auf 542 Tonnen. Auch die Türkei hegt Großmacht-Gelüste, befindet sich aber seit geraumer Zeit in einer galoppierenden Inflation. Die USA, das Land mit den höchsten Goldreserven weltweit, kauften 2022 113 Tonnen zu.

2022 erwarben die Zentralbanken so viel Gold wie seit 1967 nicht mehr. Im Halbjahresbericht 2023 des World Gold Council setzt sich diese Tendenz fort. Nur scheinbar wird sie im zweiten Quartal des laufenden Jahres durchbrochen: Die Türkei musste wegen der Erdbebenkatastrophe 102 Tonnen Gold wieder verkaufen. Russland vermeldete den Verkauf von drei Tonnen Gold, es hält geschätzte 2 300 Tonnen in Reserve. Deutschland gab, wie im Vorjahr, zwei Tonnen für die Produktion von Goldmünzen frei und kaufte, wie schon seit Jahren, nichts zu. Sieht man von der Katastrophe in der Türkei ab, ist der Trend zum Kauf von Gold bei den Zentralbanken weiter ungebrochen.

Zum zweiten Augustwochenende fiel der Goldpreis bis auf ein Tief von 1 912 US-Dollar. Unter anderem der weltweite Anstieg der Zinsen macht das zinslose Gold für Investoren zurzeit weniger attraktiv. Betrachtet man jedoch die sich wandelnde Situation der Weltordnung, macht es Sinn, Goldvorräte aufzustocken, wie es viele Staaten zurzeit tun.

Saudi-Arabien hat angekündigt, 15 Milliarden Riyal (3,65 Milliarden Euro) in seine Gold-Industrie zu investieren. Die Minenproduktion soll ebenfalls deutlich ausgeweitet werden. Das Land hat seine Goldreserven inzwischen auf 323 Tonnen aufgestockt und ist zurzeit in Verhandlungen mit Pakistan, wo es sich an der Erschließung einer großen Kupfermine beteiligen will. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil die USA unter anderem Kupfer zum Metall von nationalem Interesse erklärt haben und den Handel damit entsprechend einschränken. Pakistan hat den Golfstaaten Investitionsmöglichkeiten im Wert von Milliarden von Dollar angeboten, was diesen die Möglichkeit bietet, ihr Portefolio zu diversifizieren. Indien hat im Juli 2022 seine erste internationale Edelmetall-Börse eröffnet. Außer bilateralem Handel in Landeswährungen haben auch Bemühungen zugenommen, im Handel mit Gold zu zahlen.

TonnesQ2’22Q3’22Q4’22Q1’23Q2’23 y/y change
Supply      
Mine production889.3950.4948.5857.1923.44%
Net producer hedging2-26.5-13.336.19.5383%
Total mine supply891.3923.9935.2893.2932.85%
Recycled gold285.3268.6290.7311.7322.313%
Total Supply1,176.61,192.51,225.91,204.91,255.27%
        
Demand      
Jewellery fabrication493.5582.6601.9511.5491.30%
 Jewellery consumption461.7525.6628.5474.8475.93%
 Jewellery inventory31.857.1-26.736.715.4-52%
Technology78.377.372.170.170.4-10%
 Electronics64.363.557.956.156.4-12%
 Other Industrial11.411.311.711.611.61%
 Dentistry2.62.52.42.42.4-10%
Investment213.8103.8250.8275.9256.120%
 Total bar & coin demand261.2347.9340.4304.5277.56%
  Physical Bar demand172.7225.5222.6183.4162.9-6%
  Official Coin70.889.48996.488.925%
  Medals/Imitation Coin17.63328.924.725.847%
 ETFs & similar products-47.4-244.1-89.6-28.7-21.3
Central banks & other inst.158.6458.8381.8284102.9-35%
Gold demand944.21,222.51,306.61,141.5920.7-2%
OTC and other232.5-30.1-80.763.4334.544%
Total Demand1,176.61,192.51,225.91,204.91,255.27%
LBMA Gold Price, US$/oz1,870.61,728.91,725.91,889.91,975.96%
Source: ICE Benchmark Administration, Metals Focus, World Gold Council

In Europa gibt es mit Ausnahme von Rumänien keine nennenswerten Goldvorkommen. Das rumänische Gold liegt überdies unter den Karpaten und wäre nur unter großen Schwierigkeiten zu fördern. Die Staaten Europas halten jedoch mit Stand November 2022 zusammen 10 256 Tonnen Gold. Davon entfallen 3 555 auf Deutschland, das nach den USA mit 8 134 Tonnen rechnerisch die zweithöchsten weltweiten Goldreserven hält. Europa steht also zumindest auf den ersten Blick mit seinem Bestand an der Welt-Reservewährung recht gut da. Aber: Ähnlich wie in den USA sind die Länder Europas hoch verschuldet. Auch Deutschland macht da seit der Covid-Pandemie keine Ausnahme mehr.

Nicht einbezogen obige Schulden sind haushaltstechnische Tricksereien. In Deutschland sind das die sogenannten Sondervermögen. Hier handelt es sich um Ausgaben zu bestimmten Aufgaben, die zusätzlich zum Bundeshaushalt umgesetzt werden. Sie haben jeweils eigene Einnahmen-, Ausgaben- und Finanzierungspläne. Die durch sie aufgenommenen Schulden werden nicht zur Staatsverschuldung hinzugezählt. Zurzeit werden im Bundeshaushalt 2023 folgende Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung bedient: Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS), Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), Investitions- und Tilgungsfonds (ITF), Restrukturierungsfonds (RSF) und das Sondervermögen Bundeswehr (SV BW).

Insgesamt ergab sich laut Juli-Mitteilung des Finanzministeriums: Der Bund hatte bis zum 31. Dezember 2022 Kredite in Höhe von 1 551,7 Milliarden Euro aufgenommen. Dieser Bestand erhöhte sich zum 30. Juni 2023 auf 1 601 Mrd. Euro. Die Erhöhung gegenüber dem 31. Dezember 2022 um 49,3 Milliarden resultierte aus neuen Aufnahmen im Volumen von 303,4 Milliarden, denen Fälligkeiten im Volumen von 254,1 Milliarden Euro gegenüberstanden. Die Bedienung der Schulden wird mit zunehmenden Zinserhöhungen durch die EZB immer teurer: Von Anfang Januar bis Juni 2023 wurden für die Verzinsung aller auch in früheren Jahren aufgenommenen bestehenden Kredite saldiert 22,8 Milliarden Euro aufgewendet.

Die USA haben sich auf China als Hauptrivalen um die wirtschaftliche Vorherrschaft festgelegt und inzwischen die Ausfuhr zahlreicher Wirtschaftsgüter dorthin eingeschränkt oder verboten. Damit soll die Entwicklung des Landes verlangsamt werden – was allerdings ein zweischneidiges Schwert ist: China verfügt über große Mengen von Rohstoffen, die andernorts nur schwer zu bekommen sind, wie etwa seltene Erden. Weltweit kauft sich das Land seit Jahren in die Gewinnung von Rohstoffen ein. Gelingt es dem Westen nicht, trotz aller Schulden seine wirtschaftliche Vormachtstellung zu erhalten, ist sein Schicksal besiegelt: Die Führungsmächte der kommenden Weltordnung sitzen im Osten. So wie im Übrigen auch die meisten Einwohner dieser Erde: Während Europa, Kanada und die USA nichtmal eine Milliarde Menschen zählen, die zudem immer älter werden, wohnen allein in China und Indien zusammen schon die dreifache Anzahl an Menschen. Zwar gibt es auch unter den BRICS-Staaten erhebliche Rivalitäten, die die Entwicklung verlangsamen werden. Aber die Herrschaft der ungeliebten USA und ihres Dollars los zu werden, ist ein gemeinsames Ziel, das alle enorm verbindet. Eine gemeinsame Währung, vertrauenswürdig durch ihre Deckung mit Gold und anderen seltenen Gütern, würde außerdem die Wirtschaft aller Beteiligten nachhaltig stärken.

Tweet von „Gold-Telegraph“ zum Thema „Denkanstöße am Beispiel der Vereinigten Arabischen Emirate:

  • Wer ist ein Verbündeter der Vereinigten Staaten? Die Vereinigten Arabischen Emirate.
  • Wollen die Vereinigten Arabischen Emirate den BRICS-Staaten beitreten? Ja.
  • Wohin wurde eine beträchtliche Menge russischen Goldes gelenkt? In die Vereinigten Arabischen Emirate.
  • Die Luftstreitkräfte der Vereinigten Arabischen Emirate und Chinas planen, noch in diesem Monat zum ersten Mal gemeinsam zu trainieren.
  • Der Herrscher der Vereinigten Arabischen Emirate besuchte Russland im vergangenen Jahr zweimal, um sich mit Wladimir Putin zu treffen. Die Wirtschaft der Vereinigten Arabischen Emirate ist die viertgrößte im Nahen Osten.
  • Im Mai erfuhren wir, dass die VAE sich nicht mehr an Operationen einer von den USA geführten Task Force zum Schutz der Golfschifffahrt beteiligen würden.
  • Im Juni wurde bekannt, dass der iranische Marinekommandant Pläne für ein Seebündnis zwischen Iran, Saudi-Arabien, Indien, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten angekündigt hat.

So sieht eine sich verändernde Weltordnung aus.“

Beitragsbild: Monstera-Production, Pexels

Update: Brics mit Paukenschlag, Baerbock erschreckt sich

Update: Die Erweiterung der Brics-Gruppe ist eine Niederlage für von der Leyen und Borrell

Update: BRICS payment system would not replace SWIFT -S.Africa finance minister

Update: Das neue Selbstbewusstsein des globalen Südens

Update: Der konsternierte Westen diskutiert Strategien gegen BRICS

Update: Simbabwe, Kamerun und Pakistan wollen BRICS beitreten

Update: BRICS Bloc to Utilize Digital Assets in Place of the Dollar in Trade

Pressefreiheit: Nur in Skandinavien, Irland und Grönland noch alles gut

Krisen, Kriege und die anhaltende Ausbreitung des Autoritarismus haben dazu geführt, dass die Lage der Pressefreiheit im vergangenen Jahr so instabil war wie seit langem nicht. Dies lässt sich aus der neuen Rangliste der Pressefreiheit ablesen, die Reporter ohne Grenzen (RSF) zum Internationalen Tag der Pressefreiheit 2023 veröffentlicht haben. Entwicklungen wie die fast völlige Unterdrückung unabhängiger Berichterstattung in Russland infolge des Ukrainekriegs, massenhafte Festnahmen von Medienschaffenden in der Türkei und die weiter gestiegenen Aggressionen gegenüber Reportern am Rande von Demonstrationen in Deutschland sorgten dafür, dass viele Länder auf der Rangliste abrutschten. Die teils deutlichen Abstiege zeigen, wie volatil die weltweite Lage in einer Zeit von Krisen ist.

„Die Aggressivität gegenüber Medienschaffenden steigt weiter. Viele Regierungen und gesellschaftliche Gruppen versuchen, kritische Berichterstattung zu unterbinden. Erschreckend ist, dass die Zahl der Übergriffe in Deutschland auf ein Rekordhoch gestiegen ist“, sagte RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske. „Demokratische Regierungen müssen Medien in ihren eigenen Ländern unterstützen, den Druck auf autoritäre Regime erhöhen und auch Exilmedien stärken. Desinformation darf nicht die Oberhand behalten.“

Die Lage der Pressefreiheit ist der RSF-Skala zufolge in 31 Ländern „sehr ernst“, in 42 „schwierig“, in 55 gibt es „erkennbare Probleme“, und in 52 ist die Lage „gut“ oder „zufriedenstellend“. Die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende sind also in rund 70 Prozent der Länder weltweit problematisch, ähnlich wie im Vorjahr. Drei Länder sind dieses Jahr in die schlechteste Kategorie „sehr ernst“ abgerutscht: Tadschikistan, Indien und die Türkei.

Das größte Problem ist nach wie vor die Sicherheitslage für Journalisten. Sie werden auf Demonstrationen angegriffen, kommen in bewaffneten Konflikten ums Leben, werden gezielt ermordet, willkürlich festgenommen oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Sicherheitslage ist in 36 von 180 Ländern „sehr ernst“ – in Kriegsländern wie der Ukraine und dem Jemen ebenso wie in den größten Gefängnissen der Welt für Medienschaffende, China, Myanmar und Iran. In 33 weiteren ist die Sicherheitslage „ernst“ – von Peru bis Israel, von Hongkong bis zu den USA.

Auch organisierte Desinformation ist in vielen Ländern ein wachsendes Problem: In 118, also zwei Drittel aller Länder, gab eine Mehrheit der Befragten an, dass politische Akteure in ihrem Land in massive Desinformations- oder Propagandakampagnen involviert sind.

Deutschland belegt Rang 21. Der Abstieg um fünf Plätze ist vor allem mit dem Vorbeiziehen anderer Länder zu erklären, die sich zum Teil stark verbessert haben; Deutschlands Punktezahl hat sich im Vergleich zum Vorjahr nur um 0,13 auf 81,91 von 100 verschlechtert. Grund dafür ist die weiter wachsende Gewalt gegen Journalistinnen, Journalisten und Medien: Mit 103 physischen Angriffen dokumentiert RSF den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2015. Im Kalenderjahr 2021 hatte es 80 Angriffe gegeben, 2020 waren es 65.

Wie die aktuelle Nahaufnahme Deutschland von RSF zeigt, fand mit 87 von 103 Fällen die Mehrheit der Attacken in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten statt. Obwohl die Corona-Pandemie 2022 abflaute, wurde, teils zu anderen Themen, weiterhin demonstriert, so dass Versammlungen auch 2022 die gefährlichsten Orte für die Presse blieben. Zwei Drittel der Angriffe passierten in Ostdeutschland (Sachsen: 24, Berlin: 17, Thüringen: 13). Ein bundesweites Problem ist die Straflosigkeit. Viele der betroffenen Journalistinnen und Reporter äußerten Unzufriedenheit über die Arbeit von Polizei und Justiz. RSF fordert deshalb dringend effektiven Schutz.

Punkte verloren hat Deutschland auch in der Kategorie „sozialer Kontext“. Medienschaffende erleben zunehmende Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus, vor allem, wenn sie über diese Themen berichten.

Die Gesetzeslage ergibt ein zwiespältiges Bild: Positiv bewertet RSF den Digital Services Act der EU, der die großen Internetkonzerne in die Pflicht nimmt. In die richtige Richtung, so RSF, geht auch der Entwurf des European Media Freedom Act, der Europa vor Desinformation schützen soll. Problematisch ist die von der EU geplante Chatkontrolle. Zum Kinderschutz gedacht, würde sie auch in Deutschland eine fast vollständige Überwachung journalistischer Chats ermöglichen. Kritik gibt es auch am novellierten BND-Gesetz, gegen das RSF Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, weil es ausländischen Journalistinnen und Journalisten weiterhin weniger Schutz bietet als inländischen. Auch gegen das Artikel-10-Gesetz, das das Ausspähen Medienschaffender durch Software wie den sogenannten Staatstrojaner erlaubt, klagt RSF in Karlsruhe.

Die Medienvielfalt in Deutschland war 2022 weniger von Zusammenlegungen oder Schließungen von Tageszeitungen bedroht. Auswirkungen hatten aber die Entscheidungen großer Verlagshäuser, Zeitschriften einzustellen, sowie Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Auf den ersten und letzten drei Plätzen der Rangliste gibt es zum ersten Mal seit mehreren Jahren signifikante Veränderungen. Norwegen belegt zum siebten Mal in Folge den ersten Platz. Es ist das einzige Land, das bei allen Indikatoren mehr als 90 von 100 Punkten erzielt hat. Erstmals seit langem folgt auf dem zweiten Platz mit Irland ein Land außerhalb Skandinaviens. In Irland hat der Pluralismus auf dem Medienmarkt zuletzt zugenommen, ein neues Verleumdungsgesetz schützt Medienschaffende vor missbräuchlichen Klagen, und die Regierung hat sich bereit erklärt, den Großteil der Vorschläge einer Kommission für die Zukunft der Medien umzusetzen. Damit verdrängt Irland Dänemark vom zweiten auf den dritten Platz. Schweden fällt aus den Top 3 auf den vierten Platz. Mit einer Verfassungsänderung wurde dort Auslandsspionage unter Strafe gestellt und ins Strafgesetzbuch aufgenommen, was gegen Medienschaffende, Whistleblowerinnen und Whistleblower verwendet werden könnte. Zudem gab es einige Fälle von Polizeigewalt.

Die letzten Plätze belegen in diesem Jahr ausschließlich Regime in Asien. In Vietnam (178, -4) hat die Regierung ihre Jagd auf unabhängige Reporter und Kommentatoren fast abgeschlossen. Zuletzt traf es den Blogger Nguyen Lan Thang. Mitte April verurteilte ihn ein Gericht in Hanoi wegen „Propaganda gegen den Staat“ zu sechs Jahren Haft. Inhaftierte Medienschaffende sind teils entsetzlichen Haftbedingungen ausgesetzt: Sie werden misshandelt, isoliert und bekommen keine ärztliche Versorgung. Im August starb deshalb der Blogger Do Cuong Dong in Gewahrsam. In Vietnam geraten kritische Bloggerinnen und Blogger oft ins Visier der Behörden, weil sie die einzigen Quellen für unabhängig recherchierte Informationen sind. Die traditionellen Medien folgen den Anweisungen der seit 1975 regierenden Kommunistischen Partei.

Weiter verschlechtert hat sich auch die Situation in China (179, -4), einem der größten Exporteure von Propaganda. In keinem Land sitzen mehr Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, aktuell sind es mindestens 100. Mehr als zehn von ihnen könnten im Gefängnis sterben, wenn sie nicht sofort freigelassen werden. Mit einer seit Mao Zedong nie dagewesenen Machtkonzentration hat sich Staats- und Parteichef Xi Jinping eine historische dritte Amtszeit gesichert und setzt seinen vor zehn Jahren begonnenen Feldzug gegen den Journalismus fort. Wenig überraschend bleibt Nordkorea (180) auf dem letzten Platz, wo die Regierung keinerlei unabhängige Berichterstattung zulässt.

Die Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen vergleicht die Situation für Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Staaten und Territorien. Sie stützt sich auf fünf Indikatoren: Neben Sicherheit sind dies politischer Kontext, rechtlicher Rahmen, wirtschaftlicher und soziokultureller Kontext. Diese Indikatoren werden in jedem der 180 untersuchten Staaten und Territorien ermittelt – zum einen auf Grundlage einer qualitativen Untersuchung, für die ausgewählte Journalistinnen, Wissenschaftler und Menschenrechtsverteidigerinnen in den jeweiligen Ländern einen Fragebogen mit 123 Fragen beantworteten, zum anderen auf Grundlage von quantitativen Erhebungen zu Übergriffen auf Journalisten und Medien, deren Zahl in den Indikator Sicherheit einfließt. Mittels einer Formel wird daraus ein Punktwert zwischen 0 und 100 ermittelt, wobei 0 das schlechtestmögliche und 100 das bestmögliche Ergebnis ist. Aus der Abfolge der Punktwerte der einzelnen Länder ergibt sich die weltweite Rangliste.

Zur 20. Ausgabe wurde die Rangliste 2022 erstmals mit einer neuen Methode ermittelt, um die Komplexität der Verhältnisse, die die Pressefreiheit weltweit beeinflussen, besser widerzuspiegeln. RSF hat die neue Methodik mit einem Expertenkomitee aus Medien und Forschung erarbeitet. Aufgrund der geänderten Methodik ist beim Vergleich der Rangliste insgesamt und von einzelnen Ergebnissen vor und nach 2021 Vorsicht geboten.

Für das Kalenderjahr 2022 hat Reporter ohne Grenzen (RSF) in Deutschland insgesamt 103 Angriffe auf Medienschaffende geprüft und dokumentiert. Das ist der höchste Stand seit Beginn der Zählung im Jahr 2015. Zum Vergleich: 2021 gab es 80 Angriffe, 2020 waren es 65. Das Ausmaß der Gewalt gegen Medienschaffende dürfte in der Realität noch größer sein, von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. Da es zu vielen Fällen von Übergriffen und Angriffen nur Schilderungen, aber keine Ermittlungen oder Gerichtsverfahren gibt, kann eine solche Zählung wissenschaftlichen oder juristischen Kriterien nicht genügen. Dazu kommt, dass es, wenn Medienschaffende selbst angegriffen werden, naturgemäß relativ wenige Bildbeweise gibt.

Am häufigsten waren im Jahr 2022 Tritte und Schläge, auch mit Gegenständen (wie Plakaten, Trommelklöppeln oder Quarzhandschuhen). Als Angriff gewertet wurden diese, sofern sie die Körper und / oder die Ausrüstung von Journalisten tatsächlich getroffen haben. Medienschaffende wurden auch mit Gegenständen beworfen (z.B. Eiern, Glasflaschen oder Schlamm), festgehalten, an den Haaren gezogen oder gewürgt. In anderen Fällen hielten Angreifende ein Megafon mit lauten Geräuschen an das Ohr der Betroffenen, rissen ihnen die Corona-Schutzmaske herunter oder schubsten sie so, dass sie stürzten oder verletzt wurden.

Mit rund 84 Prozent (87 von 103 Fällen) fand die Mehrheit der Angriffe im verschwörungsideologischen, antisemitischen oder extrem rechten Kontext statt. Seit Beginn der Pandemie haben extrem rechte Personen und Gruppen an den Veranstaltungen der Querdenken-Bewegung teilgenommen und dort Journalisten angegriffen; inzwischen werden diese Veranstaltungen häufig von bekannten Rechtsextremen organisiert, so dass eine analytische Trennung von extrem rechten und anderen Motiven nicht mehr möglich ist.

Bei 36 dieser Angriffe konnte ein rechter bis extrem rechter Hintergrund bestätigt werden, etwa weil die Angreifenden namentlich bekannt oder Mitglieder rechter Organisationen wie AfD, Die Basis, Dritter Weg, Freie Sachsen und NPD sind. Neben Angriffen aus extrem rechten Parteien und militanten Neonazi-Organisationen wie dem Thüringer Heimatschutz sowie der verbotenen nationalsozialistischen Vereinigung Combat 18 waren auch rechtsextreme Hooligans von Dynamo Dresden beteiligt. Am 1. Oktober griffen sie einen Reporter des Kurier sowie mehrere Polizisten an und brachten die beiden Kameras des Reporters in ihren Besitz.

Der gefährlichste Ort für Journalisten waren in Deutschland Demonstrationen, hier wurden rund 84 Prozent der Angriffe (86 von 103 Fällen) gezählt. Die meisten der 103 verifizierten Angriffe ereigneten sich in Sachsen (24), gefolgt von Berlin (17), Thüringen (13), Bayern (10), Baden-Württemberg (9), Sachsen-Anhalt (7), Rheinland-Pfalz (5), Mecklenburg-Vorpommern (4), Niedersachsen (4), Hessen (3), Nordrhein-Westfalen (3), Schleswig-Holstein (2), Hamburg (1) und Saarland (1). Am 6. Januar übergossen Teilnehmende eines „Querdenken“-Protests im bayerischen Mittenwald einen Fotografen von hinten mit Kerzenwachs. Bei einem sogenannten Montagsspaziergang am 26. Januar in Homburg (Saar) rammte  ein rechtsextremer Teilnehmer einem Reporter der Rheinpfalz mit voller Wucht den Kopf in den Bauch. Der Täter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei einem Gedenkmarsch der Neonazipartei „Freie Sachsen“ am 13. Februar hielt ein Teilnehmer einem Kameramann eine Kerze unter dessen Vollbart und brannte diesen teilweise ab.  Wie bereits in den Vorjahren wurde Jörg Reichel, Geschäftsführer der dju in ver.di Berlin-Brandenburg, der seit langem als Kontaktperson für den Schutz von Journalisten auf Demonstrationen gilt, auch im Jahr 2022 angegriffen. Demonstrierende traten dem Gewerkschafter am 23. April in Berlin von hinten in die Beine, schubsten ihn und forderten ihn auf, die Versammlung zu verlassen. Am 27. April schlug ein Demonstrant in München einem Journalisten mit der Faust ins Gesicht. Am Rande einer Demonstration am 3. Oktober im thüringischen Heiligenstadt erlitt ein Journalist blaue Flecken und einen Schlag auf die Schläfe. Sein Begleitschutz wurde ebenfalls angegriffen und leicht verletzt. 

Seit zwei Jahren haben gewalttätige Teilnehmende der Querdenken-Proteste die Erfahrung gemacht: Mit Strafen müssen sie kaum rechnen. Obwohl die Polizei Betroffenen zufolge oft vor Ort war und manchmal unmittelbar daneben stand, griff diese oft nicht ein und leitete auch keine Ermittlungen ein. Nicht einmal in der Hälfte der 103 Fälle entschieden Betroffene sich aus Angst vor Bloßstellung in rechten Netzwerken für eine Anzeige, noch wurde von Amts wegen ermittelt.

Erstmals hat RSF Betroffene systematisch zu ihren Erfahrungen mit der Polizei befragt. In knapp einem Drittel aller Fälle (27 von 88) verhielt sich die Polizei nach einem Angriff zur Zufriedenheit der Journalisten, etwa indem sie diesen half, wieder aufzustehen, freundlich mit ihnen sprach, eine Anzeige aufnahm oder Tatverdächtige festnahm. In einzelnen Fällen eskortierte die Polizei Reporter aus Demonstrationen hinaus, so dass diese zwar in Sicherheit waren, aber nicht mehr aus der Nähe berichten konnten. 

In knapp einem Fünftel der Fälle (17 von 88) gaben die Betroffenen an, dass ihnen Unterstützung verwehrt blieb, obwohl sich Polizisten ganz in der Nähe aufhielten oder zum Einschreiten aufgefordert wurden. Betroffene berichteten RSF auch von einer Täter-Opfer-Umkehr durch die Polizei. Polizisten gaben den Journalisten die Schuld oder eine Mitverantwortung dafür, angegriffen worden zu sein. Statt die Tatverdächtigen zu verfolgen,  nahm die Polizei  die Personalien der Journalisten auf. 

In sechs Fällen griffen Polizisten Pressevertreter an. Bei einer „Querdenken“-Demonstration am 14. Februar 2022 in Hannover schubste ein Polizist einen filmenden Journalisten und schlug ihm das Smartphone aus der Hand. Ein Journalist beschrieb anonym, die Polizei habe ihm – offenbar absichtlich – Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, obwohl er auf seinen Pressestatus hingewiesen habe. Auf eine Anzeige verzichtete die betroffene Person. In einem anderen der sechs Fälle entschuldigte sich die Polizei im Nachhinein. Viele Journalisten, die über die extreme Rechte recherchieren, arbeiten seit Jahren mit Begleitschutz. Regional bieten zivilgesellschaftliche Organisationen an, auch freie Journalistinnen bei ihren Einsätzen zu begleiten. Insbesondere weibliche und queere Medienschaffende erhalten regelmäßig Beleidigungen hinsichtlich ihrer Kompetenz oder ihres Aussehens, Vergewaltigungs- und Morddrohungen – auf der Straße ebenso wie per Post, per E-Mail, per Telefon und in den Sozialen Medien.

Anlass zur Sorge bietet für den RSF weiterhin die Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung, die 2021 für fünf Jahre beschlossen wurde und eine Ausweitung der Befugnisse für Sicherheitsbehörden vorsieht. Die schwarz-rote Bundesregierung beabsichtigte unter anderem die „Entwicklung technischer und operativer Lösungen für den rechtmäßigen Zugang zu Inhalten aus verschlüsselter Kommunikation (…)”, also eine Umgehung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mittels Hintertüren, die die IT-Sicherheit aller Nutzer erheblich schwächen würde. RSF sieht insbesondere die Vertrauenswürdigkeit digitaler Kommunikationsmittel nach wie vor bedroht, auf die Medienschaffende und ihre Quellen im Alltag angewiesen sind.

Hinzu kommen Befugnisse zur aktiven Cyberabwehr und der Ausbau der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (​​ZITiS), bislang ohne eine gesetzliche Grundlage. Zwar soll diese Grundlage geschaffen werden, jedoch kritisiert RSF die immer weiter vorangetriebene Ausweitung der behördlichen Überwachungsbefugnisse ohne Prüfung einer tatsächlichen Notwendigkeit sowie Effektivität und Berücksichtigung einer ganzheitlichen Auswirkung auf Grund- und Menschenrechte. Insbesondere zeigt sich, dass der Gesetzgeber bei einem Mehr an Befugnissen für Sicherheitsbehörden es versäumt hat, eine angemessene Kontrolle sicherzustellen. So verwiesen Medienberichte im März 2023 darauf, dass das Bundeskriminalamt (BKA) und ZITiS bereits seit anderthalb Jahren an einem „Live-Zugang” zu verschlüsselten Smartphones arbeiten − ohne Kenntnis der Bundesregierung und entgegen dem Koalitionsvertrag.

Bereits Ende 2021 hätte die Bundesregierung die EU-Richtlinie zum Whistleblowerschutz umsetzen müssen. Im Dezember 2022 verabschiedete der Bundestag ein entsprechendes Gesetz, das jedoch im Bundesrat von unionsregierten Ländern wieder gestoppt wurde. Das EU-weit gültige Ziel: Wer Korruption, Missstände oder Betrug meldet, soll besser geschützt werden, sowohl in Behörden als auch in Unternehmen. Bereits der ursprüngliche deutsche Gesetzesentwurf war teilweise als zu wenig hilfreich kritisiert worden: RSF hielt die Anforderungen für zu hoch, die regeln, wann Informanten mit ihrem Verdacht oder ihrem Wissen an Medien herantreten dürfen. Dadurch werde die Zusammenarbeit von Investigativjournalismus und Hinweisgebenden vor allem bei Wirtschaftskriminalität und illegalen Geheimdienstaktivitäten erschwert. Kritisiert wird auch die Verpflichtung, dass Informanten sich zunächst an nicht-öffentliche interne oder externe Meldestellen wenden müssen. Ebenso ist die Weitergabe als vertraulich oder geheim eingestufter Dokumente kaum geschützt.

Bereits Mitte März 2023 unternahmen die Regierungsfraktionen einen neuen Anlauf, die EU-Richtlinie umzusetzen und dabei teilweise den Bundesrat zu umgehen.

Mächtige Akteure überziehen einzelne Journalisten oder Medienhäuser mit Drohungen und Zivilklagen, um sie einzuschüchtern. Genannt wird dies SLAPP, kurz für „Strategic Lawsuits Against Public Participation“. Finanzstarke Unternehmen reichen Zivilklagen ein, die oft unbegründet sind oder sich an Formfehlern aufhängen; ihre Anwälte versuchen sogar, Berichterstattung bereits im Vorfeld gänzlich zu verhindern. Freie Journalisten und kleinere Zeitungsverlage oder alternative Publikationen ohne finanzielle Rücklagen sind besonders gefährdet. SLAPP-Klagen bewegen sich dabei in einem Spannungsfeld von legitimem Rechtsgebrauch und offenkundigem Rechtsmissbrauch.

In der EU ist derzeit eine Richtlinie gegen Einschüchterungsklagen in Vorbereitung, deren Erarbeitung RSF unter anderem im Rahmen des zivilgesellschaftlichen NO-SLAPP-Bündnisses in Deutschland und auf EU-Ebene begleitet. Ziel ist es, dass offenkundig unbegründete Klagen frühzeitig von nationalen Gerichten abgewiesen werden können. RSF beobachtet, dass Journalisten vor allem grenzüberschreitend mit SLAPP von Unternehmen bedroht werden, die politische Interessen durchsetzen wollen − insbesondere aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, in denen die Rechtsstaatlichkeit schwach ausgeprägt ist. Deswegen begrüßt RSF, dass die geplante EU-Richtlinie bei grenzüberschreitenden Klagen auch in Deutschland greifen und bestehende zivilrechtliche Lücken schließen würde. Zudem empfiehlt sie den Mitgliedstaaten, auch strafrechtliche Lücken zu schließen, deren Regulierung nicht in der EU-Kompetenz liegt.

Auch jenseits von SLAPP-Klagen stehen Gerichte nicht immer auf Seiten der Pressefreiheit. Am deutlichsten wurde das beim Urteil im Fretterode-Prozess: Zwei aktive Neonazis, die 2018 im thüringischen Fretterode zwei Journalisten in ihrem Auto überfallen und schwer verletzt hatten, wurden nach etlichen Ermittlungspannen im September 2022 lediglich zu Bewährungsstrafen und Sozialarbeit verurteilt. Die Richterin am Landgericht Mühlhausen sah in dem Überfall keinen gezielten Angriff auf Journalisten und die freie Presse. Das Urteil stieß bundesweit auf scharfe Kritik; es sei nicht nachvollziehbar, dass das Gericht die politische Motivation der Tat nicht berücksichtigt habe, so die Staatsanwaltschaft. 

Das Landgericht Berlin wies im Dezember 2022 eine Klage der Journalistin Lea Remmert auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen das Land Berlin ab. Remmert war während TV-Aufnahmen bei der 1.-Mai-Demo 2020 in Berlin nachweislich von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen worden, so dass sie stürzte und zwei Zähne verletzt wurden. Das Gericht argumentierte, zum einen habe der gewalttätige Polizist nicht ermittelt werden können, zum anderen sei nicht zu klären, ob dieser vorsätzlich oder fahrlässig zugeschlagen oder sie nur unbeabsichtigt getroffen habe. Der Journalistin wurde sogar eine Mitschuld unterstellt, da sie sich im Bereich einer gewalttätigen Demonstration aufgehalten hatte. 

Aktiv wurde das Landeskriminalamt Niedersachsen bei der Journalistin Andrea Röpke, die bekannt ist für ihre Recherchen und Veröffentlichungen über das rechtsextreme Milieu. Die Abteilung Staatsschutz hatte aufgrund einer Verleumdungsanzeige gegen Röpke durch einen AfD-Politiker ihre Daten gespeichert und auch in einen nationalen Datenpool für „politisch motivierte Straftaten … von erheblicher Bedeutung“ eingestellt. Einer Klage dagegen seitens der Journalistin hat das Verwaltungsgericht Stade stattgegeben.

Während in den vergangenen Jahren Übergriffe der Polizei auf Medienschaffende vor allem im Zusammenhang mit Querdenker-Demonstrationen standen, wurden 2022 und im ersten Quartal 2023 Vorfälle vermehrt von Klimaschutzdemonstrationen oder Aktionen von Gruppen wie „Letzte Generation“, „Fridays for Future“ und ähnlichen gemeldet. Journalist*innen, die Aktionen wie das Festkleben auf Straßen dokumentieren, werden zur Seite geschubst, am Fotografieren oder Filmen gehindert. So wurde beispielsweise einer Redakteurin des „ND – Der Tag“ am 18. Mai während einer Aktion gegen die Raffinerie Schwedt im Mai in Brandenburg das Redaktionsequipment mit Laptop und Handy abgenommen. Der Journalist Danni Pilger, der regelmäßig über die Aktionen von Klimaaktivisten unter anderem auf Twitter berichtet, wurde im April in Frankfurt am Rande einer solchen Aktion für zweieinhalb Tage in Polizeigewahrsam genommen. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele.

Einen frühen Höhepunkt im Jahr 2023 stellen die Vorgänge bei den Protestaktionen in Lützerath dar, als die Polizei das besetzte Dorf am Rande des Braunkohletagebaus geräumt hat. Dabei wurde gewaltsam nicht nur gegen Aktivisten und Demonstrierende vorgegangen, sondern auch gegen Medienschaffende, was RSF kritisierte, so wie viele andere Organisationen. Die dju in ver.di beobachtete schon im Vorfeld der Räumung immer wieder gewalttätige Angriffe auf Medienvertreter und eine Behinderung der Pressearbeit durch die Polizei und Sicherheitsunternehmen. Kritisiert wurde auch die Akkreditierungspraxis der Polizei. Ein Presseleitfaden der Polizei Aachen enthielt zahlreiche, nicht gerechtfertigte Einschränkungen von Pressearbeit.

Die Medienvielfalt in Deutschland war 2022 anders als in den vergangenen Jahren weniger davon bedroht, dass Tageszeitungen zusammengelegt oder geschlossen worden wären. Massive Auswirkungen hatten aber die Entscheidungen großer Verlagshäuser, Zeitschriften einzustellen, sowie Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR). rbb-Skandal – dieses Schlagwort prägte ab Sommer das Medienjahr 2022. Und es rückte Fehlverhalten auch in anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ins Blickfeld, insbesondere beim NDRund BR. Das erschütterte Vertrauen in den ÖRR, und das zögerliche Verhalten der Politik bei der Reformdebatte hat Auswirkungen auf die Rundfunkfreiheit.

Der neue bundesweite Medienstaatsvertrag (MStV), der am 1. Juli 2023 in Kraft treten soll, sollte ursprünglich eine Strukturreform der ÖRR beinhalten. Er nimmt nur am Rande Bezug auf die Skandale; nachjustiert wurde durch die Einführung einheitlicher Compliance-Regelungen für ARD, ZDF und DLR. Gestärkt werden auch die Aufsichtsgremien, doch Diversität ist dort kaum verwirklicht: Vertreter der Zivilgesellschaft sind unterrepräsentiert, Publikumsvertreter weiterhin nicht vorgesehen. Mehrere Ministerpräsidenten sowie Dutzende Staatssekretäre und Minister sitzen persönlich in den Rundfunkgremien.

Seit Anfang 2023 kündigten die Konzerne Bertelsmann, Springer und Burda massive Stellenkürzungen sowie Einstellung und Verkauf von Magazinen an. Im Februar verkündete Bertelsmann-Chef Thomas Rabe das Aus für seinen Hamburger Verlag Gruner & Jahr und für mehr als  20 Zeitschriften. Sie sollen entweder eingestellt oder verkauft, 700 Stellen sollen abgebaut werden. Wenig später erklärte Springer SE, dass der Konzern in den kommenden drei Jahren 100 Millionen Euro mehr erwirtschaften will – vor allem durch Sparmaßnahmen in den Printredaktionen von BILD und WELT. 

Insgesamt leidet die Presse unter massiven Kostensteigerungen: Die Papierpreise haben sich verdoppelt, auch Druckfarben und -platten sind massiv teurer geworden. Der gestiegene Mindestlohn gilt auch für das Zustellpersonal. Die Funke Mediengruppe hat im März 2023 deshalb die Zustellung ihrer Ostthüringer Zeitung in ländlichen Regionen eingestellt, in denen der weite Weg von Briefkasten zu Briefkasten diese unrentabel macht. Die Leserschaft wird dort auf digitale Angebote bei reduziertem Preis umgestellt, ihr werden dafür Schulungen angeboten. 

Die Werbeeinnahmen sind weiter rückläufig. Zwar sieht der Koalitionsvertrag eine finanzielle Unterstützung der Presse vor, aber bisher wird über die konkrete Ausgestaltung noch nicht einmal diskutiert. Angesichts der Krise der Printzeitung und der Gefahr einer schrumpfenden Medienvielfalt wird seit Jahren die steuerliche Förderung von gemeinnützigem Journalismus gefordert. Diese einzuführen, ist ein noch uneingelöstes Versprechen im Koalitionsvertrag. 

 

Tibet nach 64 Jahren Besatzung: Wie China die Identität eines Volkes systematisch ausradiert

Der 10. März ist in Tibet ein Tag der Trauer und des Kampfes gegen das Vergessen. An diesem Tag im Jahr 1959 brach im Land ein Aufstand aus: Das Volk rebellierte gegen die Chinesen, die sich das dünn besiedelte Tibet bereits 1950 einverleibt hatten und seinen spirituellen Führer nicht akzeptierten. Am 17. März 1959 musste der Dalai Lama bei Nacht und Nebel flüchten. Zu Fuß und verkleidet überwand er das Hochgebirge. Seither residiert er auf der indischen Seite des Himalaya. Am 21. März 1959 wurde der Volksaufstand in Tibet brutal niedergeschlagen. Zehntausende Einheimische verloren dabei ihr Leben. Seitdem zerstören die Besatzer systematisch die gewachsene Kultur und nationale Identität des Landes.

Karten-Quelle: Wikipedia

Wenn man wissen will, wie China mit Nationen umgeht, deren Staatsgebiet es annektiert hat, sollte man sich die Geschichte Tibets anschauen – die, wie es aussieht, zurzeit in ihre letzte Dekade geht. 64 Jahre nach der Annexion ist der Dalai Lama hoch betagt. Die Besatzer maßen sich an, seinen Nachfolger zu bestimmen, haben den von tibetischen Mönchen gefundenen Jungen an einen unbekannten Ort verschwinden lassen. Dabei folgt das Finden eines neuen Dalai Lamas traditionell strengen Regeln: Das Kind muss sich als Wiedergeburt eines früheren Dalai Lamas beweisen.

Die Mönche, geistige Elite des Landes, werden systematisch schikaniert und willkürlich ins Gefängnis geworfen, wo man sie foltert, bis sie sterben. Unterrichten dürfen sie nicht mehr. Die traditionellen Nomaden werden gezwungen, sich in Siedlungen niederzulassen, gebaut von den Chinesen. Rund eine Million Kinder schickt man in weit entfernte Internate, wo sie mandarin sprechen müssen. Der Besitz eines Fotos, das den Dalai Lama zeigt, wird mit Gefängnis bestraft. Die reichen Ressourcen des Landes werden systematisch zum Wohle Chinas ausgebeutet.

Tibet ist der Mittelpunkt des tibetischen Buddhismus, der als Vajrayana bekannt ist. Der Buddhismus in Tibet hatte sich zunächst seit dem 8. Jahrhundert und später ab dem 11. Jahrhundert in vier großen Schulen (Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelugpa) entwickelt. Der  14. Dalai Lama ist zugleich bedeutender Repräsentant einer Mahayana-Schule (Gelugpa) und wird von der tibetischen Exilregierung als Staatsoberhaupt anerkannt. Die vorbuddhistische tibetische Religion ist der Bön (genannt auch Bon-Religion); sie ist von buddhistischen Einflüssen stark durchdrungen – ebenso wie der tibetische Buddhismus wiederum vom Bön beeinflusst wurde. Eine religiöse Kunstform stellen tibetisch-buddhistische Wandmalereien dar. Ein besonderer Kulturschatz sind Statuen, Glocken und Ritualgegenstände, die aus der Legierung Dzekshim gefertigt wurden. Auch sie werden systematisch zerstört.

Die chinesische Verwaltungsgliederung des größten Teils des historischen Großraums Tibet umfasst heute das Autonome Gebiet Tibet (AGT) mit der Hauptstadt Lhasa sowie zehn Autonome Bezirke und zwei Autonome Kreise in den Provinzen Qinghai, Sichuan, Yunnan und Gansu. Teile des historischen Siedlungsgebietes des Volkes der Tibeter außerhalb Chinas liegen in Pakistan, Indien, Nepal, Bhutan und Myanmar.

Insgesamt etwa 5,2 Millionen Tibeter leben in Tibet, dazu haben sich inzwischen etwa 5,3 Millionen Chinesen angesiedelt. Auch so kann man das gewachsene Leben in einem Land schleichend verändern. Etwa eine halbe Million Menschen leben in der Hauptstadt Lhasa, davon rund 80 Prozent Tibeter. Der wasserreichste Fluss Asiens, der Brahmaputra, entspringt in Tibet und heißt dort Yarlung Tsangpo. Er ist Teil von Chinas erbittertem Krieg um Wasser. Der Bergbau soll zu einer weiteren Säule der tibetischen Wirtschaft werden. Im Land sind Lagerstätten von Bodenschätzen wie Chrom, Kupfer, Magnesit, Bor, Blei, Gold, Erdöl, Eisen, Lithium, Kaliumchlorid, Aluminium, Zink und mehr.  Außerdem meldete die chinesische Regierung die Entdeckung von großen mineralischen Lagerstätten unter dem tibetischen Hochland. Die Lagerstätten sind nicht sehr weit von der Lhasa-Bahn entfernt und könnten die in China vorkommenden Bodenschätze an Zink, Kupfer und Blei verdoppeln.

Foto: Die historische Flagge Tibets aus Wikipedia. Ihr Besitz ist in der VR China verboten.

Die Internationale Kampagne für Tibet (ICT) ist eine der Organisationen, die regelmäßig über die Zustände im Land berichtet, das Handeln der Besatzer weltweit anklagt und sich für Verbesserungen einsetzt. Ausländische Journalisten dürfen kaum noch ins Land. Im Jahresrückblick 2022 der ICT heißt es unter anderem: Im osttibetischen Drango ließen die Chinesen zwei riesige Buddha-Statuen und 45 tibetische Gebetsmühlen vernichten. Die Bevölkerung wurde gezwungen, der Zerstörung eines 30 Meter hohen Buddhas beizuwohnen. Seit dem Ende der Winterferien werden alle tibetischen Kinder in allen Fächern in chinesischer Sprache unterrichtet. Auch die Lehrbücher sind jetzt in chinesisch geschrieben.

Dem Mönch und Schriftsteller Go Sherab Gyatso, der seit 2021 eine zehnjährige Haftstrafe absitzt, geht es gesundheitlich sehr schlecht. Er hat eine chronische Lungenkrankheit, die nicht angemessen versorgt wird. Die ICT prangert immer wieder die willkürlichen Verhaftungen von Tibetern an, die dann an unbekannten Orten festgehalten werden. Das Verschwindenlassen von Menschen sei Teil eines Repressionsmusters zur Unterdrückung abweichender Meinungen, erklärte Geschäftsführer Kai Müller in einer Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat. Immer wieder protestieren Männer gegen diese Repressionen mit Selbstverbrennung. Laut Zählung der ICT sind inzwischen 159 Personen qualvoll daran gestorben. Im März wurde allen Verschleierungsversuchen der Behörden zum Trotz bekannt, dass der beliebte tibetische Sänger Tsewang Norbu den schweren Verletzungen erlegen ist, die er sich im Februar bei seiner Selbstanzündung zugefügt hat. Ebenfalls im März setzte sich der 81jährige Tibeter Taphun vor der Polizeistation am Kloster Kirti in Brand und starb später an seinen Verletzungen.

Im Mai fordern die G7-Außenminister ungehinderten Zugang zu Tibet. Im Juni legt das ICT einen Bericht vor, der insgesamt 50 Fälle tibetischer Umweltaktivisten beschreibt, die von China verfolgt wurden. Dr. Gyal Lo, ein tibetischer Erziehungswissenschaftler, der 2021 aus China ausreisen konnte, berichtet unter anderem im deutschen Bundestag, dass bereits vierjährige Kinder in Internate gebracht werden, in denen ausschließlich mandarin gesprochen wird. Kommen sie im Alter von sieben in die Grundschule, beherrschen bereits die meisten Kinder kaum noch ihre tibetische Muttersprache. Bis zum Alter von 18 Jahren müssen sie in den Schulen leben.

Ebenfalls im Juni werden die Schwestern Youdon und Zumkar inhaftiert. Auf ihrem privaten Hausaltar befand sich, was von den Besatzern streng verboten ist, ein Bild des Dalai Lama. Im Juli feiert der Dalai Lama seinen 87. Geburtstag in seiner Residenz im indischen Daramsala. Der internationale ITC-Vorsitzende Richard Gere gratuliert. Im August macht der UN-Sonderberichterstatter auf sogenannte „Arbeitsprogramme“ in Tibet aufmerksam und spricht ausdrücklich von vergleichbaren Formen der Zwangsarbeit in Xinjiang und Tibet. Im September belegt ein Bericht von Human Rights Watch die massenhafte und systematische Sammlung genetischer Daten in der tibetischen Bevölkerung.

Im Oktober verleiht die ICT erstmals den Menschenrechtspreis „Schneelöwe“ an den Anthropologen und China-Forscher Dr. Adrian Zenz und das Tibet Film Festival. Im Dezember protestiert die Tibeterin Gontey Tashi vor dem Gebäude des mittleren Volksgerichtes in Lhasa gegen die Inhaftierung ihres Bruders Dorjee Tashi. Sie kann ihr Plakat rund 15 Minuten hoch halten, bevor sie abgeführt wird. Dorjee Tashi ist Geschäftsmann und Philantrop, der seit 2008 aus politischen Gründen eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt.

China reagiert harsch, wenn andere Nationen die Besatzung von Tibet und die Schikanen der Einwohner kritisieren. Es fordert von allen Staaten, mit denen es Wirtschaftsbeziehungen pflegt, die Anerkennung der „Ein China-Politik“. Dazu gehört auch, Taiwan als Teil Chinas zu akzeptieren. Seit der Regierung Schröder ist auch die Bundesregierung darauf eingeschwenkt und hat sich zu dieser Politik bekannt. Der Dalai Lama wird nur noch in seiner Funktion als spiritueller Führer empfangen – ein Akt, der dennoch jedes Mal für Verstimmung der chinesischen Führung sorgt. Seit der Machtergreifung Chi Jin Pings hat sich das aggressive Verhalten Chinas deutlich gesteigert: Jede Form der Kritik an seinem Umgang mit anderen Ethnien oder Bereichen, auf die die Volksrepublik Anspruch erhebt, wird zurück gewiesen und als Heuchelei westlicher Mächte mit dem Ziel der Spaltung Chinas diffamiert.

Update: UN Experts Express Concern Over Extensive Labour Exploitation in Tibet by China