Schlagwort: Besatzung

Tibet nach 64 Jahren Besatzung: Wie China die Identität eines Volkes systematisch ausradiert

Der 10. März ist in Tibet ein Tag der Trauer und des Kampfes gegen das Vergessen. An diesem Tag im Jahr 1959 brach im Land ein Aufstand aus: Das Volk rebellierte gegen die Chinesen, die sich das dünn besiedelte Tibet bereits 1950 einverleibt hatten und seinen spirituellen Führer nicht akzeptierten. Am 17. März 1959 musste der Dalai Lama bei Nacht und Nebel flüchten. Zu Fuß und verkleidet überwand er das Hochgebirge. Seither residiert er auf der indischen Seite des Himalaya. Am 21. März 1959 wurde der Volksaufstand in Tibet brutal niedergeschlagen. Zehntausende Einheimische verloren dabei ihr Leben. Seitdem zerstören die Besatzer systematisch die gewachsene Kultur und nationale Identität des Landes.

Wenn man wissen will, wie China mit Nationen umgeht, deren Staatsgebiet es annektiert hat, sollte man sich die Geschichte Tibets anschauen – die, wie es aussieht, zurzeit in ihre letzte Dekade geht. 64 Jahre nach der Annexion ist der Dalai Lama hoch betagt. Die Besatzer maßen sich an, seinen Nachfolger zu bestimmen, haben den von tibetischen Mönchen gefundenen Jungen an einen unbekannten Ort verschwinden lassen. Dabei folgt das Finden eines neuen Dalai Lamas traditionell strengen Regeln: Das Kind muss sich als Wiedergeburt eines früheren Dalai Lamas beweisen.

Die Mönche, geistige Elite des Landes, werden systematisch schikaniert und willkürlich ins Gefängnis geworfen, wo man sie foltert, bis sie sterben. Unterrichten dürfen sie nicht mehr. Die traditionellen Nomaden werden gezwungen, sich in Siedlungen niederzulassen, gebaut von den Chinesen. Rund eine Million Kinder schickt man in weit entfernte Internate, wo sie mandarin sprechen müssen. Der Besitz eines Fotos, das den Dalai Lama zeigt, wird mit Gefängnis bestraft. Die reichen Ressourcen des Landes werden systematisch zum Wohle Chinas ausgebeutet.

Tibet ist der Mittelpunkt des tibetischen Buddhismus, der als Vajrayana bekannt ist. Der Buddhismus in Tibet hatte sich zunächst seit dem 8. Jahrhundert und später ab dem 11. Jahrhundert in vier großen Schulen (Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelugpa) entwickelt. Der  14. Dalai Lama ist zugleich bedeutender Repräsentant einer Mahayana-Schule (Gelugpa) und wird von der tibetischen Exilregierung als Staatsoberhaupt anerkannt. Die vorbuddhistische tibetische Religion ist der Bön (genannt auch Bon-Religion); sie ist von buddhistischen Einflüssen stark durchdrungen – ebenso wie der tibetische Buddhismus wiederum vom Bön beeinflusst wurde. Eine religiöse Kunstform stellen tibetisch-buddhistische Wandmalereien dar. Ein besonderer Kulturschatz sind Statuen, Glocken und Ritualgegenstände, die aus der Legierung Dzekshim gefertigt wurden. Auch sie werden systematisch zerstört.

Die chinesische Verwaltungsgliederung des größten Teils des historischen Großraums Tibet umfasst heute das Autonome Gebiet Tibet (AGT) mit der Hauptstadt Lhasa sowie zehn Autonome Bezirke und zwei Autonome Kreise in den Provinzen Qinghai, Sichuan, Yunnan und Gansu. Teile des historischen Siedlungsgebietes des Volkes der Tibeter außerhalb Chinas liegen in Pakistan, Indien, Nepal, Bhutan und Myanmar.

Insgesamt etwa 5,2 Millionen Tibeter leben in Tibet, dazu haben sich inzwischen etwa 5,3 Millionen Chinesen angesiedelt. Auch so kann man das gewachsene Leben in einem Land schleichend verändern. Etwa eine halbe Million Menschen leben in der Hauptstadt Lhasa, davon rund 80 Prozent Tibeter. Der wasserreichste Fluss Asiens, der Brahmaputra, entspringt in Tibet und heißt dort Yarlung Tsangpo. Er ist Teil von Chinas erbittertem Krieg um Wasser. Der Bergbau soll zu einer weiteren Säule der tibetischen Wirtschaft werden. Im Land sind Lagerstätten von Bodenschätzen wie Chrom, Kupfer, Magnesit, Bor, Blei, Gold, Erdöl, Eisen, Lithium, Kaliumchlorid, Aluminium, Zink und mehr.  Außerdem meldete die chinesische Regierung die Entdeckung von großen mineralischen Lagerstätten unter dem tibetischen Hochland. Die Lagerstätten sind nicht sehr weit von der Lhasa-Bahn entfernt und könnten die in China vorkommenden Bodenschätze an Zink, Kupfer und Blei verdoppeln.

Die Internationale Kampagne für Tibet (ICT) ist eine der Organisationen, die regelmäßig über die Zustände im Land berichtet, das Handeln der Besatzer weltweit anklagt und sich für Verbesserungen einsetzt. Ausländische Journalisten dürfen kaum noch ins Land. Im Jahresrückblick 2022 der ICT heißt es unter anderem: Im osttibetischen Drango ließen die Chinesen zwei riesige Buddha-Statuen und 45 tibetische Gebetsmühlen vernichten. Die Bevölkerung wurde gezwungen, der Zerstörung eines 30 Meter hohen Buddhas beizuwohnen. Seit dem Ende der Winterferien werden alle tibetischen Kinder in allen Fächern in chinesischer Sprache unterrichtet. Auch die Lehrbücher sind jetzt in chinesisch geschrieben.

Dem Mönch und Schriftsteller Go Sherab Gyatso, der seit 2021 eine zehnjährige Haftstrafe absitzt, geht es gesundheitlich sehr schlecht. Er hat eine chronische Lungenkrankheit, die nicht angemessen versorgt wird. Die ICT prangert immer wieder die willkürlichen Verhaftungen von Tibetern an, die dann an unbekannten Orten festgehalten werden. Das Verschwindenlassen von Menschen sei Teil eines Repressionsmusters zur Unterdrückung abweichender Meinungen, erklärte Geschäftsführer Kai Müller in einer Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat. Immer wieder protestieren Männer gegen diese Repressionen mit Selbstverbrennung. Laut Zählung der ICT sind inzwischen 159 Personen qualvoll daran gestorben. Im März wurde allen Verschleierungsversuchen der Behörden zum Trotz bekannt, dass der beliebte tibetische Sänger Tsewang Norbu den schweren Verletzungen erlegen ist, die er sich im Februar bei seiner Selbstanzündung zugefügt hat. Ebenfalls im März setzte sich der 81jährige Tibeter Taphun vor der Polizeistation am Kloster Kirti in Brand und starb später an seinen Verletzungen.

Im Mai fordern die G7-Außenminister ungehinderten Zugang zu Tibet. Im Juni legt das ICT einen Bericht vor, der insgesamt 50 Fälle tibetischer Umweltaktivisten beschreibt, die von China verfolgt wurden. Dr. Gyal Lo, ein tibetischer Erziehungswissenschaftler, der 2021 aus China ausreisen konnte, berichtet unter anderem im deutschen Bundestag, dass bereits vierjährige Kinder in Internate gebracht werden, in denen ausschließlich mandarin gesprochen wird. Kommen sie im Alter von sieben in die Grundschule, beherrschen bereits die meisten Kinder kaum noch ihre tibetische Muttersprache. Bis zum Alter von 18 Jahren müssen sie in den Schulen leben.

Ebenfalls im Juni werden die Schwestern Youdon und Zumkar inhaftiert. Auf ihrem privaten Hausaltar befand sich, was von den Besatzern streng verboten ist, ein Bild des Dalai Lama. Im Juli feiert der Dalai Lama seinen 87. Geburtstag in seiner Residenz im indischen Daramsala. Der internationale ITC-Vorsitzende Richard Gere gratuliert. Im August macht der UN-Sonderberichterstatter auf sogenannte „Arbeitsprogramme“ in Tibet aufmerksam und spricht ausdrücklich von vergleichbaren Formen der Zwangsarbeit in Xinjiang und Tibet. Im September belegt ein Bericht von Human Rights Watch die massenhafte und systematische Sammlung genetischer Daten in der tibetischen Bevölkerung.

Im Oktober verleiht die ICT erstmals den Menschenrechtspreis „Schneelöwe“ an den Anthropologen und China-Forscher Dr. Adrian Zenz und das Tibet Film Festival. Im Dezember protestiert die Tibeterin Gontey Tashi vor dem Gebäude des mittleren Volksgerichtes in Lhasa gegen die Inhaftierung ihres Bruders Dorjee Tashi. Sie kann ihr Plakat rund 15 Minuten hoch halten, bevor sie abgeführt wird. Dorjee Tashi ist Geschäftsmann und Philantrop, der seit 2008 aus politischen Gründen eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt.

China reagiert harsch, wenn andere Nationen die Besatzung von Tibet und die Schikanen der Einwohner kritisieren. Es fordert von allen Staaten, mit denen es Wirtschaftsbeziehungen pflegt, die Anerkennung der „Ein China-Politik“. Dazu gehört auch, Taiwan als Teil Chinas zu akzeptieren. Seit der Regierung Schröder ist auch die Bundesregierung darauf eingeschwenkt und hat sich zu dieser Politik bekannt. Der Dalai Lama wird nur noch in seiner Funktion als spiritueller Führer empfangen – ein Akt, der dennoch jedes Mal für Verstimmung der chinesischen Führung sorgt. Seit der Machtergreifung Chi Jin Pings hat sich das aggressive Verhalten Chinas deutlich gesteigert: Jede Form der Kritik an seinem Umgang mit anderen Ethnien oder Bereichen, auf die die Volksrepublik Anspruch erhebt, wird zurück gewiesen und als Heuchelei westlicher Mächte mit dem Ziel der Spaltung Chinas diffamiert.

Update: UN Experts Express Concern Over Extensive Labour Exploitation in Tibet by China

Tibet: Ein Volk im Würgegriff protestiert mit immer mehr Selbstverbrennungen

Es war nur ein kurzer Beitrag im ZDF heute journal – aber er war ungewöhnlich offen: Es ging um die Selbstverbrennungen in Tibet, mit dem die verzweifelten Menschen auf ihre hilflose Situation aufmerksam machen wollen. Seit sich das Nachbarland China 1951 das Land auf dem Dach der Welt einverleibt hat – chinesisch heißt das „befreit“ – wird die tibetische Kultur systematisch verdrängt. Chinesen siedeln in der „Provinz“, Soldaten kontrollieren die einheimische Bevölkerung und behandeln sie mehr als grob.

Was sucht das Riesen-Reich China in Tibet? Die Antwort ist einfach Wasser. Weite Teile Chinas sind bereits jetzt viel zu trocken – es gibt Wissenschaftler, die behaupten, dass die Hauptstadt Pekings bereits jetzt nicht mehr vor dem Wüstensand zu retten ist.

In Tibet gibt es mehr als 20 Flüsse mit einem Einzugsgebiet von über 10 000  und über 100 Flüsse mit einem Einzugsgebiet von über 2000 Quadratkilometern. Sie führen in der Regel sehr viel Wasser von guter Qualität. Die größten Flüsse sind der Jinshajiang, der Nujiang, der Lancangjiang und der Yarlung Zangbo. Mehrere Flüsse Tibets fließen in Nachbarländer, wo sie dann Ganges, Indus, Brahmaputra, Mekong, Salween und Irawadi heißen. Der Yarlung Zangbo ist der größte Fluß Tibets. Innerhalb Chinas hat der Yarlung Zangbo eine Länge von 2057 Kilometern. In Indien heißt er Brahmaputra. China staut die Flüsse in riesigen Stauseen, um der Volksrepublik dauerhaft Trinkwasser-Reserven zu sichern.

Dazu kommt, dass das Hochplateau Tibets  die meisten Seen und die größten Seefläche der Welt aufweist Es gibt mehr Salzwasserseen als Süßwasserseen. 17 Seen, die alle eine Fläche von mehr als 50 Quadratkilometer haben, liegen über 5000 Meter hoch. Im Bild unten sieht man den Yamzhog Yumco, aufgenommen von der Freundschaftsstraße zwischen Lhasa und Gyangzê von Peter Vigier.

Seit Juni 2012 hat China Individualtourismus in Tibet verboten. Reisegruppen (ab fünf Personen) müssen einen chinesischen Führer dabei haben. Ausländische Medienvertreter dürfen nicht nach Tibet reisen. Und die chinesischen Behörden in den tibetischen Regionen sollen die zunehmenden Selbstverbrennungen (innerhalb der letzten beiden Jahren rund 100) unterbinden – was zu noch mehr Druck auf die Bevölkerung führt (siehe FAZ).

2614060815

Protest gegen die gewaltsame Unterdrückung durch China in Form von Selbstverbrennung – das ist in der westlichen Gedankenwelt nur schwer nachvollziehbar. Und wieso bedienen sich vor allem Mönche und Nonnen dieser radikalen Methode, wo doch der Buddhismus auf Gewaltlosigkeit gründet?

Man muss sich dazu klar machen, in welcher Lage das tibetische Volk ist. Kein Land der Welt wird sich mit der größten Volkswirtschaft der Erde China anlegen, um Tibet zu helfen. Bereits auf Treffen westlicher Politiker mit dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter, dem Dalai Lama, reagiert die Volksrepublik äußerst verschnupft, sagt Termine ab, verzögert Abkommen. So beschränken sich die Staaten darauf, Chinas Handeln in Tibet zu kritisieren und ab und an dem Dalai Lama die Hand zu geben.

Die Klöster des Landes sind traditionell auch die Zentren der Bildung. Während die einfache Bevölkerung zumeist eine Glaubensmischung aus Bön – dem alten tibetischen Schamanismus und der tibetischen Form des Buddhismus, des Lamaismus praktiziert, studiert man in den Klöstern eine ausgefeilte Denkweise, praktiziert unzählige, komplizierte Rituale und verfeinert den Geist in jeder nur denkbaren Weise. Hier erkannte man schnell das Ziel der chinesischen Politik: Die buddhistische Tradition sollte zu einer Art Folklore degradiert, Touristen farbenfroh und friedfertig präsentiert und ansonsten bedeutungslos werden. Hier setzte deshalb China von Beginn an auch den Schwerpunkt der Unterdrückung: Die Mönche und Nonnen sollten zum Schweigen gebracht werden (siehe dazu tibetfocus.com).

Der Buddhismus sieht den Tod nicht als Ende des Lebens. Er ist, vereinfacht gesagt, ein Ausstieg aus einem sterbenden Körper, dem Wiedergeburten so lange folgen werden, bis  das höchste Stadium der Erleuchtung erreicht ist. Negative Handlungen, zu denen der Selbstmord gehört, verlängern den Weg (vergl. faz.net) . Wenn man nun aber betrachtet, wie jung die meisten Menschen waren, die sich in den letzten Jahren selbst entzündet haben – und dass manchen nur noch dieser drastische Weg sinnvoll erscheint, um überhaupt Aufmerksamkeit in der übrigen Welt zu erregen, erscheint ihr Vorgehen in einem anderen Licht.

Die „Welt“ wird wohl auch weiterhin nicht aktiv werden, um Tibet zu befreien. So bleibt uns einfachen Menschen eins zu tun: Wir müssen aufmerksam machen auf die Dinge, die dort geschehen, damit das Licht der Öffentlichkeit auf sie fällt. Nur so kann verhindert werden, dass irgendwann die ursprüngliche tibetische Kultur wirklich nur noch im Museum zu besichtigen sein wird.

Siehe auch:

www.tibetfocus.com  und

http://tibet.net/

Update: Chinas latest restrictions for Tibetans: No passports

Update: 105. Selbstverbrennung

Update: Selbstverbrennungen: Chinas Tibet-Funktionäre ätzen gegen „Dalai Lama-Clique

Update: China erlaubt Bilder des Dalai Lama

Update: Internet für Tibeter ausschließlich mit gläserner Identität

Update: Liberalisiert China seine Tibet-Politik? Brisantes Buch im Köcher

Update: No one likes the Dalai Lama any more

Update: A new wave of torture hits Tibet

Update: Dalai Lama kündigt die Wiedergeburt auf

Update: The golden urn – Even China accepts that only the Dalai Lama can legitimise its rule in Tibet

Update: Tibeter verbrennt sich aus Protest in China