Schlagwort: Shakti

Dualseele, Zwillingsflamme, Liebe: Die große Sehnsucht, nach Hause zu kommen

Seelengefährten, Duale, Zwillingsseelen, Twin Flames – die perfekte Liebesbeziehung, das Verschmelzen mit dem Anderen zu einem vollkommenen Ganzen –  es ist eine Sehnsucht, so alt wie die Menschheit selbst. Unzählige Foren, Channelings, wunderschöne Youtube-Videos, halten diese Sehnsucht – vor allem bei Frauen – lebendig und profitieren finanziell davon. Ein Mann, der eine Frau um den Finger wickeln möchte, hat es leicht, sobald es ihm gelingt, sie zu überzeugen, dass auch er auf der Suche nach seiner Zwillingsseele ist.

Was hat es auf sich mit diesem Zwillingsflammen-Konzept? Ist es eine reine Wunschvorstellung, oder vielleicht doch mehr?

Nein, ich will hier nicht eine weitere Abhandlung zur Frage formulieren, wie, bzw. wann und unter welchen Schwierigkeiten zwei Dualseelen sich in der heutigen Zeit des Aufstiegs finden können, bzw. werden.  Oder sagen wir: nicht nur… 😉

Schauen wir zunächst auf das Prinzip hinter dem Konzept der Zwillingsseele: Es geht um die Vereinigung der männlichen mit der weiblichen Kraft. Nur wenn beide Energien zusammen kommen, entsteht ein vollständiges Ganzes. Ein perfektes Ganzes. Etwas göttliches. Etwas Gott-Gleiches.

Damit sind wir beim übergeordneten Thema: Die Heimkehr zu Gott, die Verschmelzung mit dem reinen, perfekten, universellen Einen, aus dem wir gekommen sind – das ist die Grund-Sehnsucht jeder Religion, egal nun, ob monotheistisch, in der Verehrung eines tausendköpfigen Pantheons oder in Naturreligionen aller Art. Unvollständig fühlen wir uns – fehlbar, verletzlich, schutzbedürftig, klein, allein – und sterblich. Unter dem Schutz eines allmächtigen großen Geistes wären wir das nicht mehr; vielmehr wäre unsere Zukunft hell, voller Liebe und vor allem unendlich.

Für mich ergibt sich daraus umgehend die nächste Frage: Wenn Gott hell, voller Liebe, unendlich, unsterblich, allwissend und allmächtig ist: Warum hat er sich dann milliardenfach fehlbar und sterblich inkarniert?

War ihm langweilig? Ist er ein Narzisst? Sucht er ein DU?

Auch die Kirche weiß darauf nicht wirklich eine Antwort. Recht verschraubt formuliert das Neue Theologische Wörterbuch:  „Die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen wäre eine mögliche freie und radikal höchste Antwort Gottes auf diese Frage. In diesem Zusammenhang besagt Inkarnation, dass Gott selber Frage und Fraglichkeit zu eigen angenommen hat und daß er darin sich selber zur Antwort gibt. Dabei wird, wie das Dogma von Chalkedon sagt, der Wesensunterschied von Göttlichem u. Menschlichem nicht vermischt. ”Dasjenige“ an Gott, was der Kreatur Mensch mitteilbar ist, wird als sein Wort in der Inkarnation und als sein Geist (Heiliger Geist ) dem Menschen bleibend zu eigen mitgeteilt, ohne sich in es zu verwandeln. Vom Menschsein her gesehen könnte die Übereignung des Menschen Jesus an Gott, die den Menschen mit Gott eint, ohne dass er in Gott verwandelt würde, als Selbsttranszendenz gesehen werden.

Gott hat einen Teil von sich geteilt

Zu deutsch: Gott wollte sich selbst erfahren (vielleicht sogar weiter entwickeln?) und hat deshalb einen Teil von sich in viele kleine Teile aufgespalten, die stärker materialisiert sind, aber auch nur über eine kurze materielle Lebenszeit verfügen. Diese vielen kleinen Teile – im weitesten Sinne also nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, sondern auch der Planet Erde mit allen anderen Planeten im Universum, haben eines gemeinsam: Sie bilden zwar die ganze Größe und Vollkommenheit Gottes ab, ja, stellen Gott selbst in einem einzigen großen, lebenden Organismus dar, sind aber dennoch nicht Gott. Vielmehr bildet Gott sich selbst körperlich ab, um in einem DU Antworten zu finden. Eine Ausnahme ist Jesus: Er ist die direkte Materialisierung Gottes als Mensch. In seinem Tod transzendiert er und wird wieder zu Gott selbst.

Lässt man die jeweiligen glaubensspezifischen Details der Weltreligionen einmal weg, sind alle Suchenden auf einem vergleichbaren Weg. Es gibt einen „großen Geist“, der das Leben steuert, aus dem der Mensch gekommen ist und zu dem er wieder zurück kehren wird. In seiner derzeitigen materiellen Existenz kann er nur mit Mühe und großer Übung in Kontakt mit dem Über-Menschlichen treten; sei es etwa durch Yoga-Übungen und -Meditationen wie im Hinduismus, durch schamanische Reisen wie in den Naturreligionen, durch Whirling wie im Sufismus. Quer durch alle Religionen ziehen sich mystische Erfahrungen, die Lehren der Mystiker sind im Judentum, im Christentum und im Islam gleichermaßen ein fester Bestandteil. Auf einem ähnlichen Weg sind die heutigen Esoteriker. Auch hier glaubt man an die liebevoll steuernde, höhere Intelligenz, mit der sich Kontakt aufnehmen lässt, zum Beispiel durch Channeling. Das Vokabular ist anders, die Deutungen bunter, so manche der Mainstream-Praktiken oberflächlich, aber das Suchen ist das gleiche.

Insgesamt gesehen kommt zur offenen Frage, warum Gott sich solche Mühe macht zu inkarnieren, das Problem, dass alle Glaubens-Erlebnisse, Erleuchtungen und andere mystischen Erfahrungen rein geistig, nicht körperlich sind. So gesellt sich zu unserer Sehnsucht, von Unvollkommenheit und Tod erlöst zu werden, eine ganz konkret materiell-lebendige: Jeder Mensch sucht einen Gegenpol – und zwar zum Anfassen. Damit entspricht er einem Naturgesetz: Alles Lebende sucht die Vereinigung zwischen männlichen und weiblichen Energien – zunächst einmal, um die Art zu sichern. Darüber hinaus ergänzen sich die beiden Prinzipien natürlich weit tiefer.

06-02-2011 19-30-28

Besonders gut lässt sich die Tiefe der Dimension am taoistischen Prinzip des Yin und Yang erkennen. In der Natur zeichnet sich das weibliche Yin zum Beispiel durch den Mond, Dunkelheit, Stille und Erde und das männliche Yang durch Sonne, Licht, Bewegung und Himmel aus. Beide Elemente formen in ihrer Gegensätzlichkeit eine Einheit. Wenn in der Natur Yin und Yang zusammenkommen, wird Leben kreiert. Trennen sie sich, wird Leben zerstört. Der Mensch erlangt und bewahrt Gesundheit durch ein Leben im Gleichgewicht. Im Westen vielfach vereinfacht als harmonischer Zusammenklang männlicher und weiblicher Energie verstanden, stellt das Yin Yang ein vollständiges kosmisches Gesetz dar: Es geht um den Menschen als „Partner“ des Himmels, das berühmte „wie oben, so unten“.  Sehr genau, allerdings im Original auch sehr wortarm ausgearbeitet, ist dies im I Ging, dem Buch der Wandlungen, das trotz zahlreicher westlicher Interpretationsversuche für die hiesige Denkweise weitgehend ein „Buch mit sieben Siegeln“ geblieben ist.

Vergleichbar vielschichtig ist das Bild von Ardhanareshwara im Hinduismus, zu dem ich einen separaten Blog veröffentlicht habe. Aber hier, wo man jahrundertelang sexuell nicht prüde war, findet sich der direkte Bezug zur heutigen Suche nach der Dualseele. In Ardhanareshwahra vereinigt sich Shiva, der gestaltende männliche Gott mit seiner Shakti, der erhaltenden, weiblichen Göttin. Sie tun dies in der Mythologie auf sehr menschliche Weise körperlich. Sie zeugen Kinder, werden damit dem Naturgesetz gerecht, sie genießen ihre Lust durch ihre Körper – und sie erleben die vollkommene Verschmelzung zu einer neuen, kosmischen Einheit, die nicht nur die höchste Stufe möglicher Entwicklung, sondern auch das größte, denkbare Glück darstellt.

Ist es „normalen“ Menschen möglich, diesen Grad der Verschmelzung zu erreichen – und wollen sie das überhaupt?

Plumps – willkommen zurück in den Niederungen des Alltags. 😦

Der Alltag mit all seinen Problemen und Widersprüchen… Im Alltag braucht jedes Individuum ein gesundes „Ich“, das vor jedem „Wir“ erst einmal das Überleben sichert. Das einfachste Beispiel dazu: Ein Säugling will vor allem anderen erst einmal Milch, Wärme und Schutz. Ob es seiner Mutter gut geht, interessiert ihn in diesem Stadium nicht. Soziale Kompetenz, Hinwendung zum Du, im Extremfall Altruismus, werden erlernt. Das Zusammenleben in einer immer bevölkerungsstärkeren Gesellschaft verlangt Regeln. Dazu gehören Teilen und Fürsorge, aber auch Ellenbogen und Intrigen: Das Berufsleben ist ein Haifischbecken, sogar Nachbarschaft und Familie können dazu mutieren.

Der persönliche Freiraum ist also eng, die meiste Gestaltungsfreiheit liegt, für die Öffentlichkeit kaum sichtbar, im Privatleben, in den Beziehungen. Hier kommt nun alles zusammen: Der Mensch, getrimmt auf Kampf, auf das Betonen seiner Individualität, der Mensch aber auch in seinen Ängsten, in seinem Schutzbedürfnis, in seinem Wunsch, unverstellt als das angenommen, ja, geliebt zu werden, was den Kern seiner selbst ausmacht. Der Mensch aber auch, der von schmerzlichen Erfahrungen geprägt wurde, die er nicht wieder erleben möchte; kurz: Wir stecken in einem Spannungsfeld aus Anziehung und Abstoßung, aus dem Wunsch nach totaler Verschmelzung und der Angst vor dem Verlust der eigenen Identität. Das geht so weit, dass ein zu starker Wunsch nach Verschmelzung gesellschaftlich als krank angesehen wird; man findet ihn beispielsweise beim Borderliner, der ein schwaches, manchmal kaum vorhandenes „Ich“ durch eine Verschmelzung mit dem „Du“ kompensieren möchte und, da das so nicht möglich ist, an seiner Sehnsucht schier verzweifelt.

Dennoch braucht der Mensch ein „Du“, um sich vollständig zu fühlen. Auch die Sehnsucht nach Verschmelzung ist natürlich. Hier offenbart sich nun der gesamte Konflikt, der in Partnerschaften programmiert ist: Sobald die Sehnsucht nach Nähe gestillt wurde, muss unausweichlich eine zumindest teilweise Abstoßung erfolgen, damit die Partner sich ihrer Individualität wieder bewusst werden können.

Ok, das gilt für „normale Partnerschaften.“ Aber wenn man seine Dualseele findet, gilt das doch nicht. Oder?

Dualseele – was ist das genau?

Hier erst einmal die Mainstream-Definition von Seelengefährten und Dualseelen:

Als Gott beschloss, sich selbst zu erfahren, teilte er seine Weltenseele in viele kleine Seelen-Mosaiksteinchen. Jedes dieser Steinchen wiederum bestand aus einem männlichen und einem weiblichen Teil, die getrennt voneinander inkarnierten. Die Seelen inkarnierten nicht alle gleichzeitig, sondern in Gruppen nacheinander. Alle aus der jeweils gleichen Gruppe können sich theoretisch im Menschenleben wieder treffen: Das sind die Seelengefährten. Sie unterstützen sich gegenseitig, begegnen sich oft in verschiedenen Leben in jeweils unterschiedlichen Rollen immer wieder: Mal als Mutter und Tochter, mal als Bruder und Schwester, und so weiter.

Nur ein einziger Mensch jedoch kann die Dualseele sein, der zweite Teil, der das einzelne Mosaiksteinchen vollkommen macht. Man trifft ihn während zahlreicher Inkarnationen überhaupt nicht, weil beide Teile unabhängig voneinander eine Entwicklung absolvieren müssen, bis sie bereit zum Wiederaufstieg sind. Erst in der letzten Inkarnation, so immer noch der Mainstream, finden beide Teile in Menschengestalt wieder zusammen – im idealen Fall als Mann und Frau. Dies, so kann man in unzähligen Foren lesen, ist zurzeit besonders häufig der Fall, da die Menschheit sich in großem Tempo auf einen Break Even zubewegt: Einen Zeitpunkt,  der sozusagen die Guten von den Bösen trennt. Die Guten steigen wieder auf zu Gott, die Bösen gehen unter, um auf der Erde einen neuen Zyklus von Inkarnationen möglich zu machen.

Die Menschen also, die vor dem Wiederaufstieg stehen, so die Theorie, haben in zahllosen Leben eine große innere Reife erlangt und stehen jetzt vor ihrer letzten Herausforderung: Der Aufgabe des eigenen Ich zugunsten der Verschmelzung – erst mit dem Du, dann, als wieder vollständige Identität, mit Gott, bzw. der Weltenseele selbst.

Treffen die Twin Flames, die Zwillingsflammen, aufeinander, durchleben sie in großer Geschwindigkeit und sehr heftig noch einmal alle Anziehungs- und Abstoßungskonflikte ihrer vergangenen Inkarnationen, dies jedoch auf Basis ihrer bis dahin erreichten seelischen Reife. Das bedeutet: Sie erkennen, wo und wie sie sich spiegeln, sie haben eine sehr starke innere Verbindung, die bis hin zu telepathischem Kontakt geht und sie erinnern sich teilweise an vergangene Leben. Haben sie noch nicht alle Aufgaben ihrer materiellen Existenz gelöst, verlieren sie sich so lange immer wieder, bis sie ihre letzte Inkarnation erreichen. Dann sind sie bereit, wieder eins zu werden und gemeinsam im großen Geist aufzugehen.

Soweit der Mainstream.

Äthiopien

Hier fehlt allerdings ein entscheidender, leider nicht umsatzfördernder Aspekt: Wenn es richtig ist, dass alle Seelen, die zurzeit Gestalt angenommen haben, Teil einer einzigen, großen Seele sind, ist auch jeder von uns zu jeder Zeit ein Teil Gottes. Alle göttlichen Prinzipien sind in jedem Menschen vollständig angelegt: das passive wie das gestaltende, das männliche wie das weibliche, die Anziehung und die Abstoßung; ja, der gesamte Kosmos. Die Aufgabe ist nicht, eine Trennung zu überwinden, sondern zu erkennen, dass wir nie getrennt waren.

Erlösung finden kann folglich nur, wer zuerst einmal die eigene Existenz ohne wenn und aber akzeptiert. Das geht von der krummen Nase oder zuviel Hüftgold, der  angeborenen Rechenschwäche oder dem eigenen Wunsch, sich immer wieder wie ein Pfau vor anderen zu präsentieren, bis hin zum Annehmen der eigenen Angst vor (zeitweiliger) Verschmelzung, die den Tod des Ichs bedeutet. Es ist ein langer, schmerzhafter Weg des Abschieds von einem perfekt schönen Ideal – zunächst in sich selbst, in der Folge in den Anderen. Es ist ein Loslassen, das jeden Tag neu beginnt, ein Abwerfen von Ballast, ein Aushalten der Widerstände gegen diesen Prozess, ein Suchen der Quelle.

Erst wenn dies geschafft ist, der Mensch in Ruhe bei sich selbst verweilen kann und zu erkennen vermag, dass alles, was er braucht, in ihm selbst in genügender Menge vorhanden ist – erst dann ist er fähig, in gleicher Weise auch seinen Partner anzusehen. Dann ist er bereit für das wahre Wunder der Liebe: Er lässt sich selbst los, ohne den Anderen statt dessen absorbieren zu wollen. Zwei Gleichstarke können sich verbinden, ihr Ich weit genug aufgeben, um gemeinsam eine neue Identität zu bilden. Der Lohn ist weit mehr als körperliche Lust – es ist eine spirituelle Ekstase, wie sie jedem Schöpfungsprozess innewohnt, ein Erfahren des Göttlichen am eigenen Leib, im eigenen Geist, in der eigenen Seele.

Es hilft also nichts: Weder fällt  uns die Zwillingsseele kampflos in den Schoß, noch können wir unsere Sehnsucht stillen, indem wir versuchen, das geliebte Gegenüber entsprechend zu erziehen. Nur die Arbeit am eigenen Ich bringt uns wirklich weiter.

Setzen wir uns also hin, bleiben wir bei uns, schauen wir nach innen, bevor wir das Außen gestalten und lassen wir die Bilder los, von denen wir glauben, dass sie unsere Zwänge oder Ideale darstellen. Reinigen wir uns von Ballast, üben wir Toleranz und Geduld, erkennen wir, das wir bereits vollkommen sind – und geben wir unserem Dual die Chance, das gleiche zu tun, bis es bereit ist, sich mit uns zu verbinden. Dann bleibt nichts, aber auch gar nichts unmöglich.

.
Siehe auch:

Wolfsnatur und Pantherherz: Eine schamanische Reise zur Dualseele

Halb zu leben bin ich nicht gemacht

Tantra: Das Geheimnis der Vereinigung von Shiva und Shakti

Tantra ist mehr als guter Sex: Es stellt das universelle Prinzip der Schöpfung dar

Kundalini: Die universelle göttliche Kraft ist frei von allen Ich-Ansprüchen

Ardhanareshwara, das universelle Prinzip von Shiva und Shakti

Update: Ersatzreligion Liebe

Update: Niemand überlebt die Liebe unbeschadet

Foto-Album der Hindu-Götter: Shiva, Parvati, Ardhanareesvara

Klicken Sie auf die Fotos, um sie zu vergrößern.

Gott hat viele Gesichter: Der Hinduismus zeigt sein lebendiges Mosaik

Warum gibt es im Hinduismus so viele Götter? Ist es ein Polytheismus – oder vielleicht doch nicht? Lohnt es sich für westlich denkende Menschen, dem Hinduismus mehr Aufmerksamkeit zu widmen?

Ich möchte hier den vielen klugen Erläuterungen, die sich im Netz und in Büchern finden lassen, keine weitere hinzufügen – dafür meine persönliche Erkenntnis. Und die sagt ganz klar: Ja. Es kann nur Gewinn bringen, ein wenig in diese alte, aber sehr lebendige Religion einzutauchen.

Der Hinduismus basiert auf Brahman (nicht zu verwechseln mit Brahma). Brahman ist alles – das universelle Sein, das universelle Bewusst-Sein.

Aus Brahman entsteht die Trinität Brahma – der Schöpfer, Vishnu – der Erhalter und Shiva – der Zerstörer – ab und zu auch mal in umgekehrter Aufgabe unterwegs.

Alle drei haben, entsprechend beiden Lebens-Polen, Gefährtinnen.

Hindu-Pantheon - Götter

Ab hier beginnt es unübersichtlich zu werden – aber nur, wenn man sich in Details verliert.

Jeder Gott und jede Göttin zeigen sich viele hundert Male in unterschiedlichen Erscheinungsformen (Avatare) und mit unterschiedlichen Namen. Außerdem haben sie Kinder, die wiederum Kinder haben und ebenfalls teilweise Avatare. Dazu kommen Relikte früherer oder anderer Religionen, die ohne große Umstände integriert werden – sowie Reittiere, die teilweise früher Naturgötter waren, und zahlreiche Attribute sowie Mudras, die Geisteshaltung und Wirkungsweise des jeweiligen Gottes, bzw. der Göttin darstellen.

Die hier beigefügte Tabelle nennt nur die wesentlichen, im Westen bekannten Götter und Gefährtinnen. Interessant ist hier besonders Kalki, die zehnte Inkarnation Vishnus. Er wird zum Ende des Kali-Yuga erwartet, wo er den Untergang der bestehenden Welt herbeiführen wird, damit diese sich als Ganzes neu schaffen kann.

Zurzeit befinden wir uns im Kali-Yuga, der dunklen Zeit des Streits. Wann genau dieses endet, ist Gegenstand von Uneinigkeit zwischen verschiedenen Denkrichtungen. Es handelt sich beim „Weltuntergang“ jedoch, ähnlich wie im Maya-Kalender, nicht um das Ende jeder Zeitrechnung, sondern um einen Neubeginn auf höherer Ebene.

Die zweite Tabelle zeigt Erkennungsmerkmale der Götter auf: Ihre Reittiere, einige der Attribute und Besonderheiten. Sie ist jedoch bei weitem nicht vollständig, sondern soll nur ein Hilfsmittel sein, um die Darstellungen leichter zuordnen zu können. Untenstehende Bildergalerie zeigt typische Darstellungen der Götter aus den Tabellen (führen Sie die Maus über das Bild, um den Namen des jeweiligen Gottes zu lesen oder klicken Sie das erste Bild an, um zur Diashow zu kommen), erhebt jedoch ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich möchte vielmehr das wesentliche Prinzip aufzeigen, das den Hinduismus so attraktiv macht, wenn ein westlicher Mensch Gott zu verstehen sucht.

Hauptgötter, Reittiere, Besonderheiten

Gott ist alles – Universum, universelles Bewusstsein. Soweit finden wir es auch in westlichen Darstellungen.

Da Gott alles ist, enthält der „große Geist“ auch absolut alle denkbaren Aspekte des Seins: Alle Götter, alle Perspektiven der menschlichen, tierischen, pflanzlichen, der Erd-Natur. Er ist ein riesiges Mosaik der unendlichen Möglichkeiten.

Genau das stellt der Hinduismus in unnachahmlicher Weise dar: Den Mann als Erschaffer, Verteidiger, Liebenden, Vater, Sohn, Intriganten, Krieger, Musiker, Retter vor Dämonen – und so weiter.

Die Frau als Geliebte, Mutter, Freundin, Musikerin, Glückssymbol, Sirene, Intrigantin, Kämpferin, Rächerin, Zerstörerin – und so fort.

Das Tier als eigenständigen Gott, mit allen Attributen, die auch Menschen haben – aber ebenso als Diener, als Gefährten, als Anbetenden des jeweiligen Gottes, den es trägt.

So geht es weiter mit Pflanzen, Landschaften, Bergen – kurz allem, was die Erde ausmacht.

Dem Suchenden eröffnet sich ein wundervolles Mosaik des lebendigen Göttlichen. Indem er sich einlässt, kann er in sich selbst – dem vollständigen Abbild Brahmans – bestimmte Aspekte verstärken oder abschwächen, um das gewünschte göttliche Gleichgewicht zu erreichen.

Das geschieht durch geistige Übung wie Meditation, das Lesen der zahlreichen heiligen Bücher – das Rezitieren von Mantras. Es geschieht durch körperliche Übung, wie sie im Westen beispielsweise als Yoga bekannt ist, im Zweifelsfall geschieht es durch radikale Lebensveränderungen wie Aufgabe aller Güter, Leben in Askese, Leben in ungewöhnlichen Gemeinschaften und vieles mehr.

Wie auch immer man es betrachtet: Der Hinduismus hat anderen Religionen voraus, dass er Strömungen des Zeitgeistes mühelos als Teil Brahmans in seinen Pantheon integriert. Nichts wird bekämpft, alles darf sein. So ist die reine Lehre ein Meisterstück, was die Definition Gottes angeht.

Sollten Sie sich also mit dem Hinduismus beschäftigen wollen, lohnt es, in den scheinbaren Wirrwarr wenigstens der Haupt-Götter einzutauchen. Es gibt dazu unzählige „biblische“ Geschichten, in denen die Götter sich sehr menschlich aufführen. Sie sind eifersüchtig, neidisch, machtgierig, liebestoll … aber auch heldenhaft, Beschützer, Ratgeber,  Helfer in allen denkbaren Notlagen. Bunt wie der indische Kontinent sind die Formen der Anbetung.

Aber klar und keineswegs missverständlich sind die ethischen Aufgaben, die hinter den manchmal fast kindlich anmutenden Göttergestalten stehen.

Auf den geistigen Yogaweg zu gehen, ist auch für den westlichen Menschen von heute eine lohnenswerte Aufgabe. Sie führt zu tiefem Verständnis von allem, was ist und kann sogar befrieden mit Inhalten, die in Ihrer Geburts-Religion alles andere als zufriedenstellen.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Siehe auch:

Fotoalben der Hindu-Götter,

Naga, Sesha, Kundalini: Die Schlange als machtvolles Symbol

Wie „Svaha“ bei rituellen Anrufung Pflicht wurde  

Ardhanareshwara: Das tantrische Prinzip von Shiva und Shakti

Kundalini ist frei von Ich-Ansprüchen

Tantra ist mehr als guter Sex

Kundalini: Die universelle göttliche Kraft ist frei von allen Ich-Ansprüchen

Das Erwachen der Kundalini – was genau ist das?

Je nach Ausrichtung sehen westliche Spirituelle darin höchste Öffnung des Geistes, höchste körperliche Fähigkeit der Verbindung mit dem gegengeschlechtlichen Partner – oder beides – oder auch kuriose Mischungen mit allerlei anderen Zielen. Tatsache ist: Das Wecken und Aufsteigen der Kundalini ist ein spiritueller Weg, der aus dem Hinduismus kommt. Er befreit vom individuellen Ich und dem dualistischen Denken. Mit Hilfe großer Disziplin und langer Übung wird der Mensch zu dem multi-dimensionalen Wesen, als das er von der Natur her angelegt ist und damit frei, seine göttliche Natur zu leben.

Yogi Ananda Saraswathi ist ein indischer Gelehrter, der in facebook den hinduistischen Pantheon und Wege zur Erleuchtung erläutert. In diesem Blog übersetze ich einige seiner englischen Texte, die Fachwissen und Interpretation auf ungewöhnlich sachliche Weise verbinden. Hier sein Text zu Kundalini.

Kundalini ist die symbolische Entsprechung für Shakti – die ursprüngliche kosmische Energie – dazu gedacht, sich durch das gesamte Universum zu bewegen. Shakti stellt sich dar in Lalita (Bild), Kundalini und Parvati. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem allmächtigen Gott und seiner Shakti, so wie es keinen Unterschied zwischen der Sonne und ihrem Licht gibt.

Statue der Göttin Lalita

Deshalb ist Shakti die personifizierte weibliche Energie und kreative Kraft. Sie ist die große göttliche Mutter. Indem sie sich manifestiert, wird sie zum weiblichen Körper, zu Schöpferkraft und Gebärfähigkeit. Shaktis kosmische Existenz und ihre Befreiung werden sichtbar in ihrem Wesen als Kundalini Shakti.

Zu Beginn der Schöpfung nahm Göttin Kundalini ihren Körper an und wurde im Rad der Manifestation mit ihren Gefühlen verbunden. Sie erwärmte ihren heilenden Geist und die regenerative Energie aller weiblichen Menschen in ihrem Mutterleib. Die Weiblichkeit einer Frau kann nicht existieren, wenn sie von ihrer Shakti getrennt ist – Shakti ist eine Metapher für Fraulichkeit.

Diese Shakti wird in der Folge die Gefährtin männlicher Götter und später selbst zur Göttin. All ihre Shakti-Vertreterinnen repräsentieren sie. Die ultimative Shakti ist Adi-Parashakti. Sie verkörpert sich als Göttin Devi. Ihre Entsprechung im Tantra ist Tripurasundari, die sich wiederum als zehn verschiedene Shaktis verkörpert.

Devi Pankreti ist im Zusammenhang mit Shakti die Kraft, die Kundalini, Kriya, Itcha, Prana, Inana und Mantrika verbindet. Jede von diesen wohnt in einem Chakra. Prakriti bedeutet Natur. Die Bhagavat Gita  beschreibt sie als primär motivierende Kraft. Kriya wird allgemein als die Praxis im Yoga bezeichnet – die Handlung also.  Je nach Standpunkt handelt es sich dabei um eine körperliche Übung oder die Bezeichnung für das Erwachen der Kundalini. Es gibt auch spontane Körper-Bewegungen, die entstehen, weil die Kundalini-Energie erwacht.

Iccha-Shakti bedeutet Willenskraft, Prana heißt Lebenskraft. Kundalini-Yoga besteht aus aktiven und passivem Pranayama, eine Erweiterung der Lebenskraft. Die Mantrika-Shakti bezieht sich auf Mantras, bedeutet aber mehr als einfach Shakti: Ein Mensch, der die absolute Wahrheit spricht, ein Satyavaan, kann im Extremfall die Fähigkeit haben, seine Worte zu materialisieren.

Shiva ist omnipräsent, unpersönlich und inaktiv. Er ist reines Bewusstsein. Shakti ist dynamisch, in Bewegung. Shiva und Shakti sind verbunden als Prakasa und Vimarsa. Shakti oder Vimarsa ist die latente Energie im reinen Bewusstsein. Vimarsa lässt die Welt der Unterscheidung entstehen: Shiva ist Chit (Bewusstsein) Shakti ist Chidrupini (Kraft in Bewegung). Brahma, Vishnu und Shiva erfüllen ihre Aufgaben der Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung, indem sie Shakti gehorchen. Shakti besitzt Iccha – die Willenskraft, Inana – das Wissen und Kriya – die Kraft der Bewegung. Shakti-Tattwa und Shiva-Tatwa sind nicht trennbar. Shiva ist immer da, wo Shakti ist. Shiva und Shakti sind eins.

Sri Yantra

Shaktismus ist nicht nur eine Theorie oder Philosophie: Er beschreibt den Sadhana-Yogaweg, die strenge Disziplin, die Temperament, Fähigkeit und Entwicklungsgrad des Sadhaka begleitet. Sadhana bedeutet, die Shakti-Kraft zu wecken, aufzubauen und zu entfalten. Der Shaktismus hilft dem Lernenden, die Kundalini aufzurichten und mit Shiva zu vereinen, um die Glückseligkeit des Nirvikalpa Samadi zu erleben.

Ein Shakta übt Sadhana, um die Vereinigung von Shiva und Shakti über das Erwachen der Kräfte zwischen den Körpern zu erreichen. Er wird ein Siddha im Sadhana, wenn es ihm (ihr) gelingt, Kundalini in den sechs Chakras zu erwecken. Auf welche Weise man den Sadhana-Weg geht, hängt von den Neigungen und Fähigkeiten des Sadhaka ab.

Alles, was man im Universum finden kann, ist auch in jedem einzelnen Individuum zu finden, denn der Mensch ist eine Miniaturausgabe des Universums. Ein Weg, das Göttliche im menschlichen Körper zu erleben, ist Kundalini  Sadhana. Das Wort Kundalini kommt aus dem Sanskrit und bedeutet sowohl „aufgewickelt“ , als auch „an der Basis der Wirbelsäule zusammengerollt sein wie eine Schlange“. Kundalini beschreibt eine schlafende Schlange – oder besser: die Natur der Schlange. Das ist die höchste Energie von Mahashakti  Prakriti. Diese Shakti wohnt im Wurzelchakra und ist dreieinhalbmal um den Shivalinga gerollt.

Parvati lebt mit Shiva als seine Shakti. Sie ist Mahadevi, die göttliche Mutter des Universums. Kundalini ist aufgestiegen durch die sechs Lotus-Zentren in der Wirbelsäule, auf ihrem Weg zum Scheitelchakra, dem tausendblättrigen Lotus, wo sie sich mit Shiva vereint. Diese Vereinigung ist das Ziel des Sadhaka.

Durch sechs Chakras steigt Kundalini auf, um im siebten mystische Hochzeit zu feiern
Durch sechs Chakras steigt Kundalini auf, um im siebten mystische Hochzeit zu feiern

Methaphorisch wird Kundalini oft verglichen mit der Kraft, die durch die Wirbelsäule aufsteigt, um sich dann mit ihrem göttlichen Gefährten Shiva zu vereinigen. Die mystische Hochzeit im Kronenchakra symbolisiert die Vereinigung der männlichen und weiblichen Energie in unseren Körpern, die unsere multidimensionale Entwicklung ermöglicht.

Kundalini kann nicht mit persönlichen Vorteilen oder egoistischen Interessen verbunden werden. Die Kundalini-Energie ist nichts anderes als die natürliche Energie des Selbst – dort wo das Selbst Paramatma ist, das universelle Bewusstsein, das jedem Wesen innewohnt. Der individuelle Geist mit seinen Ich-bezogenen Gedanken verhindert, dass sich diese natürliche Energie unverfälscht zum Ausdruck bringen kann.

Das Erwachen der Kundalini ist also der Beginn einer, der Zustand vollständigen Erwachtseins der Höhepunkt einer spirituellen Entwicklung. Atma-vichara, auch intensive Selbst-Erforschung in Meditation genannt, wird als sehr einfacher und natürlicher Weg angesehen, dieses Ziel zu erreichen.

Wenn das Ich schweigt, kann sich das Selbst erkennen...
Wenn das Ich schweigt, kann sich das Selbst erkennen…

Siehe auch:

Ardhanareshwara: Das tantrische Prinzip von Shiva und Shakti 

und: Naga, Shesha, Kundalini: Das machtvolle Symbol der Schlange 

Erwecken der Kundalini birgt Risiken

.

ARDHANARESHWARA: Das tantrische Prinzip von Shiva und Shakti

Ich habe den gleichnamigen englischsprachigen Text von Yogi Ananda Saraswathi übersetzt, weil kein anderer mir bekannter Text das tantrische Prinzip sowohl weltlich-manifest, als auch transzentent-kosmisch besser erklärt.  Der weltliche Name von Yogi Ananda Saraswathi  ist  Dr Anandan Krishnan. 

Der Hinduismus erscheint einem Neuling zunächst meist als schwer durchdringbares Kunterbunt von Göttern und Göttinnen, die in immer neuen Erscheinungsformen wiedergeboren werden und teils sehr menschliche Charakterzüge haben. Reformatoren, wie etwa Gauthama Buddha, prägten Lehren, die dieses Durcheinander zu klären und übersichtlich zu machen bestrebt sind. Dennoch lohnt sich immer ein Blick in die Jahrtausende alte Hindu-Mythologie, wenn es darum geht, ein kosmisches Prinzip und seine Darstellung im Leben genauer zu betrachten. Ich jedenfalls ziehe daraus konkrete persönliche Hilfe und innere Freiheit.

Zum Text des Yogi:

Der Hindu-Gott Shiva hat 64 festgeschriebene Erscheinungsformen.  Ardhanareeswara ist die Mann-Frau-Form, in der Parvati die linke Hälfte von Shiva darstellt. Beide tragen ihre persönlichen Zeichen. Das Konzept Ardhanareeswara ist, dass Shiva seine weiblichen Eigenschaften in sich selbst trägt. Er ist halb Mann, halb Frau.

Metaphysisch gesehen stellt das göttliche Paar die beiden essentiellen Aspekte des Einen dar: Das maskuline Prinzip des Erhaltens und Festhaltens am allumfassenden Gott und das weibliche Prinzip, das für die handelnde Kraft in der manifestierten Welt spricht; wobei das Leben selbst als kosmische Ebene betrachtet wird.

Die Geschichte Shivas erzählt, dass Gott Brahma seine Schöpfung nicht vollenden konnte, weil seine Geschöpfe nicht in der Lage waren, sich zu vervielfältigen. Also ging er in Klausur, und strenge Einkehr führte zum Erfolg: Brahma  begegnete Shiva und bat ihn um Hilfe. Shiva erschuf aus seinem eigenen Körper eine Göttin, die er Prama-Shakti nannte und manifestierte sich als halb Mann, halb Frau. Brahma wandte sich an den weiblichen Teil und klagte: „Ich konnte in meiner mentalen Schöpfung keine starken Wesen zum Leben bringen. Obwohl ich die Devas erschuf, konnten sie sich nicht vervielfältigen. Deshalb wünsche ich, starke Kreaturen über Geschlechtsverkehr zu bilden. Bevor es dich gab, oh Devi, konnte ich die endlose weibliche Spezies nicht erschaffen. Deshalb, oh Devi, erweise dich als gnädig und werde geboren als Tochter meines Sohnes Dakhsa.“

Shiva teilt sich auf in zwei Prinzipien

Da teilte sich der zweigeschlechtliche Shiva auf in zwei Götter: Shiva und seine Gattin Parvati. Parvati machte, wie von Brahma gewünscht, die Schöpfung mit Hilfe ihrer weiblichen Natur möglich, die den männlichen Aspekt zu fruchtbarer Aktivität erweckte.

Diese Verschmelzung von Shiva und Shakti, die für das männliche und das weibliche Prinzip stehen, transzendiert die Grenzen zwischen beiden und die Begrenzungen von Mann und Frau. Sie bringt den Gott auf eine Ebene jenseits des manifestierten Brahman – eine Erkenntnis, die zu großer Befreiung führt.

Shaktis Hälfte ist golden, Shivas schneeweiß. Sie ist das Substrat, er die Substanz. Shiva ist statisch, Shakti dynamisch und kreativ. Shiva ist Sein, Shakti ist Werden. Er ist einer, sie ist viele. Er ist unendlich – sie macht hat das Unendliche endlich. Er hat keine Form – sie gestaltet das Formlose zu Myriaden von Formen; aber beide sind Eins: Shiva und Shakti leben im Stadium des Nirmaly Turiya, in edler Reinheit.

Ohne seine andere Hälfte, seine weibliche Natur, ist der Herr der Götter Shiva unvollständig und unfähig, mit der Schöpfung fortzufahren. In einem noch größeren Ausmaß als die Shiva-Shakti-Idee lässt das androgyne Bild von Shiva und Parvati wahrnehmen, dass die beiden göttlichen Identitäten füreinander jeweils unabdingbar sind, und dass nur sie nur in Gemeinschaft den jeweils anderen befriedigen und sich selbst erfüllen können.  In dieser Form transzendiert der Herr der Götter eine  Besonderheit der Geschlechter: Gott ist beides;  Mann und Frau, Vater und Mutter, Stillstand und Aktivität, Mut und Furcht, Zerstörung und Schöpfung … und so weiter.

In der Anbetung von Ardhanareswara bevorzugen manche den weiblichen, andere den männlichen Aspekt. Shiva wird als Statthalter der Macht/Kraft angesehen, obwohl er unbeweglich ist. Shiva ohne Shakti ist ein Shava (toter Körper). All diese kreative Kraft, das Erhalten wie das Lösen bleiben bei Shakti. Aber auch die große Mutter kann ohne Shiva nicht existieren. In dem Moment, in dem sie sich vereinigen, wird Ardhanareswara erst zu einer erschaffenden und gestaltenden Kraft.

Somit repräsentiert Shakti den immanenten Aspekt des Göttlichen – und das ist die aktive Teilnahme am Schöpfungsakt. Die tantrische Sicht des Weiblichen in der Schöpfung trägt der Orientierung des Menschen in Richtung der aktiven Prinzipien des Universums Rechnung, die stärker ist als die zur reinen Transzendenz. Wenn nun Shiva den speziellen Weg zu reiner Transzendenz definiert, ist das immer verbunden mit einer grenzenlosen Manifestation von Shakti, zum Beispiel als Durgha oder Kali (Anm.: kämpferisch, bzw zerstörerisch).

Der Hinduismus ist ein Netzwerk philosophischer Denkweisen, die isoliert erscheinen mögen, aber nicht wirklich in sich geschlossen sind.  Zumeist verbinden sich die Philosophien zu einer Art spirituellem System. Als solches verbreitet sich der Shakti-Kult oder der Kult der Göttin Devi stärker. Shakti lässt sich ins menschliche Verständnis leichter eingliedern, wenn man sie als Aspekte des menschlichen Lebens innerhalb der Schöpfung betrachtet.

Uraltes Prinzip der Einheit

Der Shakti-Kult kombinierte Feststellungen der Samykhya-Philosophie und später der Maya-Doktrin, die der große Weise  Adi Shankaracharya formuliert hat. Die Samykhya-Philosophie erneuert eine verbreitete kosmische Dualität, dargestellt in Purusha, der männlichen und Prakriti, der weiblichen Energie, die zusammen die kosmische Energie bildeten.

In seiner Erscheinungsform als Ardhanareswara zerstört und erneuert Shiva das Alte. Für ihn bedeutet es Erneuerung durch Zerstörung. Er reinigt und baut wieder auf in so starker destruktiv-konstruktiver Rolle, dass man ihn Vater des Brahma nennt, den Gott der Schöpfung. Er ist der Vater des Erneuerungsprozesses. Er ist der Meister des Laufs der Zeit. Auf Bitten Shaktis absorbiert er sie zur Hälfte und manifestiert sich als halb Mann, halb Frau in Körper und Geist. Zusammen symbolisieren sie die Einheit allen Seins. Dieser Aspekt ist die fundamentale Wurzel des Advaitha.

Die tantrische Kosmologie erklärt die universellen Aspekte der Shiva-Shakti-Kraft. Die tantrische Philosophie sagt, dass das ganze Universum, so wie es ist, wie es erschaffen wurde von diesen beiden Kräften, die permanent in einer perfekten, unzerstörbaren Gemeinschaft sind,  durchdrungen und erhalten wird. Dort wo eine sprachliche Ungleichheit erscheint, hat die tantrische Tradition sich diesen Prinzipien in einer respektvollen Form angeglichen. Dem entsprechend repräsentiert Shiva, der maskuline göttliche Teil, die konstituierenden Teile des Universums, während Shakti, das weiblich-Göttliche, das dynamische Potential darstellt, das diese Elemente zum Leben erweckt und zum Handeln bringt.

Nur scheinbar eine Dualität

Die tantrische Kosmologie sieht das als einheitliches Prinzip, nicht als zwei getrennte. Anders gesagt bevorzugt der Tantrismus die Einheit der beiden Prinzipien, die sich nur scheinbar gegenüber stehen, aber tatsächlich in jedem kreativen Akt vereinigt sind. Die tantrische Idee oder die sexuelle Idee der Fruchtbarkeit im Göttlichen –  auf einer rein spirituellen Ebene ins Leben zu kommen –  differiert deutlich von der Samkhya-Tradition.

Ungeachtet dessen hat sich der Tantrismus der Samkhya-Philosophie bedient, um die Qualitäten der männlichen und weiblichen Prinzipien zu definieren. Die Einheit von Shiva und Shakti lässt den gesamten Makrokosmos in seinen statischen ebenso wie seinen dynamischen Aspekten entstehen.

Die tantrische sexuelle Vereinigung nennt man ‘viparitha-maithuna’, in der Shakti einen kosmischen Tanz auf den liegenden Körper Shivas präsentiert. Er bleibt unbeweglich, während sie die aktive Rolle übernimmt. Ungeachtet dessen ist die höchste Seinsform das nicht manifestierte Absolute in beiden Aspekten: dem statischen wie dem bewegten.

Die Metapher eines Saatkorns kann die tantrische Kosmogonie gut erklären: Ein Korn besteht aus zwei eng verbundenen Hälften, die von einer gemeinsamen Haut umschlossen sind. Die beiden Hälften stehen für Shiva und Shakti, die Haut für Maya, die große kosmische Illusion. Wenn nun das Korn keimt, vergeht die Haut um sie, obwohl sie die beiden Hälften zu einem Ganzen verbindet. Das ist das regenerative Prinzip von Ardhanareeswara und einer von vielen Aspekten der Shiva-Shakti-Manifestation.

Siehe auch: Kundalini ist frei von Ansprüchen des Ich