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George Soros: Deutschland sollte als wohlwollender Hegemon die EU führen

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Deutschland kann die Europäische Union und den Euro retten oder beides zerstören, es muss führen oder aussteigen. Was nicht geht, ist weiter abzuwarten. Das ist die These eines Essays des Starinvestors George Soros, den SPIEGEL ONLINE exklusiv veröffentlicht.

Das Schicksal des Euro entscheidet sich in Deutschland. Das schreibt der legendäre Investor George Soros in einem Essay, den SPIEGEL ONLINE exklusiv veröffentlicht. Deutschland muss aus Sicht des 82-Jährigen überzeugt oder dazu gedrängt werden zu handeln. Entweder das Land führt als „wohlwollender Hegemon“ – oder es muss den Euro verlassen.

Der in Ungarn geborene Soros ist in der Euro-Krise zu einem der größten Kritiker der Politik der Bundesregierung geworden. Angesichts der dramatischen Entwicklungen der vergangenen Wochen hat der Multimilliardär seine Argumente nochmals geschärft.

Seit Beginn der globalen Finanzkrise nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers habe Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Zerfall der EU maßgeblich zu verantworten, schreibt Soros. Merkels Forderung, dass jedes Land für seine eigenen Finanzinstitutionen garantieren solle, „war der erste Schritt in einem Zerfallsprozess, der nun die Europäische Union zu zerstören droht“.

Zu jedem Zeitpunkt in den vergangenen drei Jahren hätte die Krise verhältnismäßig einfach und billig gelöst werden können, schreibt Soros. Aber auch weil Deutschland nicht in der Lage gewesen sei, „über den Tellerrand zu blicken“, hätten sich die Probleme immer weiter verschärft. Europa habe immer nur „das notwendige Mindestmaß getan, um den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern“. Das räche sich jetzt. Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) vom vergangenen Donnerstag, unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, werde die dauerhafte Spaltung der Euro-Zone in Schuldner- und Gläubigerstaaten nicht verhindern.

Die Tragödie der Europäischen Union

Von George Soros

Ich bin ein glühender Anhänger der Europäischen Union als Inbegriff einer offenen Gesellschaft – eines freiwilligen Zusammenschlusses gleichrangiger Staaten, die einen Teil ihrer Souveränität für das Gemeinwohl aufgaben. Durch die Euro-Krise entwickelt sich die Europäische Union jedoch in eine grundlegend andere Richtung. Die Mitgliedsländer werden in zwei Klassen aufgeteilt – in Gläubiger und Schuldner – wobei die Gläubiger, allen voran Deutschland, die Richtung vorgeben. Unter den gegebenen politischen Umständen zahlen die Schuldnerländer beträchtliche Risikoprämien, um ihre Staatsschulden zu finanzieren, und das spiegelt sich in ihren Finanzierungskosten ganz allgemein wider. Das hat die Schuldnerländer in die Depression gestürzt und ihnen einen beträchtlichen Wettbewerbsnachteil eingebracht, der dauerhaft zu werden droht.

Dabei handelt es sich nicht um das Ergebnis eines vorsätzlichen Plans, sondern um die Folgen einer Reihe politischer Fehler, die bei der Einführung des Euro ihren Ausgang nahmen. Damals war allgemein bekannt, dass der Euro eine unvollständige Währung war – man verfügte zwar über eine Zentralbank, aber nicht über ein zentrales Finanzministerium. Die Mitgliedstaaten übersahen allerdings, dass sie dem Risiko eines Bankrotts ausgesetzt sein könnten, wenn sie ihr Recht, Geld zu drucken, aufgeben. Die Finanzmärkte erkannten das erst zu Beginn der griechischen Krise. Die Finanzbehörden verstanden das Problem überhaupt nicht, von einem Bemühen, eine Lösung auszuarbeiten, ganz zu schweigen. Daher versuchten sie, Zeit zu kaufen. Aber die Situation wurde nicht besser, sie verschlechterte sich sogar noch. Der Grund dafür lag gänzlich in diesem Mangel an Verständnis und der fehlenden Einigkeit.

Wären ein vereinbarter Plan und ausreichende finanzielle Mittel zu seiner Umsetzung vorhanden gewesen, hätte diese Entwicklung beinahe jederzeit gestoppt und umgekehrt werden können. Als größtes Gläubigerland lag die Verantwortung bei Deutschland, aber man wollte nur ungern zusätzliche Verbindlichkeiten auf sich nehmen. Infolgedessen verpasste man jede Chance zur Lösung der Krise. Die Krise breitete sich von Griechenland auf andere Defizitländer aus, und schließlich stellte sich sogar die Frage nach dem Überleben des Euro. Da ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone allen Mitgliedstaaten und vor allem Deutschland immensen Schaden zufügen würde, wird Deutschland weiterhin das notwendige Minimum tun, um die Euro-Zone zusammenzuhalten.

Wahrscheinlich ist, dass die Euro-Zone aufgrund der Politik unter deutscher Führung für unbestimmte Zeit zusammengehalten wird, ewig allerdings nicht. Die dauerhafte Spaltung der Europäischen Union in Gläubiger- und Schuldnerstaaten, wobei die Gläubiger die Bedingungen diktieren, ist politisch inakzeptabel. Falls und wenn der Euro letztendlich auseinanderbricht, wird dies den gemeinsamen Markt und die Europäische Union zerstören. Europa würde schlechter dastehen als vor Beginn der Einheitsbestrebungen, weil ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone ein Vermächtnis des gegenseitigen Misstrauens und der Feindseligkeit hinterlassen würde. Je später dies eintritt, umso schlimmer die Auswirkungen. Dabei handelt es sich um derartig trostlose Aussichten, dass es Zeit wird, über Alternativen nachzudenken, die bis vor kurzem noch unvorstellbar waren.

Meiner Ansicht nach ist die beste Vorgehensweise, Deutschland zu überzeugen, entweder zum wohlwollenden Hegemon zu werden oder den Euro zu verlassen. Anders gesagt: Deutschland muss führen oder austreten.

Es kommt darauf an, wer die Verantwortung übernimmt

Da alle angehäuften Schulden in Euro denominiert sind, kommt es in entscheidendem Maße darauf an, wer die Verantwortung für den Euro übernimmt. Verlässt Deutschland die Euro-Zone, würde der Euro abwerten. Die nominale Schuldenlast bliebe gleich, aber real würde sie sich verringern. Die Schuldnerländer würden aufgrund billigerer Exporte und teurerer Importe ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen. Der Wert ihrer Immobilien würde nominal ebenfalls steigen, also in abgewerteten Euro mehr wert sein. Im Gegensatz dazu würden die Gläubigerländer Verluste auf ihre Investitionen in der Euro-Zone und auch auf die angehäuften Forderungen innerhalb des Euro-Clearing-Systems erleiden. Das Ausmaß dieser Verluste hinge vom Ausmaß der Abwertung ab. Deshalb hätten die Gläubigerstaaten ein Interesse daran, diese Abwertung in Grenzen zu halten.

Das letztendlich erzielte Ergebnis wäre die Erfüllung von John Maynard Keynes‘ Traum eines internationalen Währungssystems, in dem sowohl Gläubiger als auch Schuldner die Verantwortung zur Aufrechterhaltung der Stabilität gemeinsam wahrnehmen. Und Europa würde der drohenden Depression entkommen. Das gleiche Resultat könnte mit weniger Kosten für Deutschland erzielt werden, würde sich Deutschland entscheiden, als wohlwollender Hegemon zu agieren. Das hieße:

  • Schuldner- und Gläubigerländer mehr oder weniger gleichzustellen und
  • ein nominales Wachstum von bis zu fünf Prozent anzustreben. Mit anderen Worten: Europa muss es ermöglicht werden, seine Überschuldung durch Wachstum abzubauen. Das würde ein höheres Maß an Inflation mit sich bringen, als die Bundesbank wahrscheinlich toleriert.

Ungeachtete dessen, ob sich Deutschland für die Führung oder den Austritt entschließt, wären beide Alternativen besser, als den aktuellen Kurs weiter zu verfolgen. Die Schwierigkeit besteht darin, Deutschland klarzumachen, dass seine aktuelle Politik in eine längere Depression, zu politischen und sozialen Konflikten und letztlich zum Zusammenbruch nicht nur des Euro, sondern der Europäischen Union führt.

Wie ist nun Deutschland davon zu überzeugen, entweder Verantwortung und Verbindlichkeiten als wohlwollender Hegemon zu übernehmen oder den Euro in die Hände der Schuldnerländer zu legen, die auf sich gestellt viel besser dran wären? Ich werde versuchen, diese Frage zu beantworten.

Der bisherige Weg

Als die Europäische Union noch ein Wunschtraum war, handelte es sich um ein von Psychologen so bezeichnetes „phantastisches Objekt“, ein erstrebenswertes Ziel, das die Vorstellungskraft vieler Menschen beflügelte, auch meine. Ich betrachtete dieses Ziel als den Inbegriff einer offenen Gesellschaft. Mit dabei waren fünf große und eine Reihe kleinerer Länder. Sie alle verschrieben sich den Prinzipien Demokratie, persönliche Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Kein Land und keine Nationalität war dominant. Obwohl man die Brüsseler Bürokratie oft eines „Demokratiedefizits“ bezichtigte, mussten die gewählten Parlamente zu größeren Schritten ihre Zustimmung geben.

Angeführt wurde der Integrationsprozess von einer kleinen Gruppe weitblickender Staatsmänner, die praktizierten, was Karl Popper als Stückwerk-Sozialtechnik bezeichnete. Sie erkannten, dass Perfektion unerreichbar ist. Daher setzten sie sich realistische Ziele und strikte Fristen, um anschließend den politischen Willen für einen kleinen Schritt nach vorne zu mobilisieren. Dabei waren sie sich voll und ganz bewusst, dass die Unzulänglichkeit eines Schritts nach seiner Vollendung offenkundig werden und weitere Schritte nötig machen würde. Ähnlich einer Finanzblase nährte sich dieser Prozess aus seinem eigenen Erfolg. So wurde aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl schrittweise die Europäische Union.

Frankreich und Deutschland standen dabei an der Spitze dieser Bemühungen. Als der Zerfall des Sowjetreichs begann, erkannten die deutschen Spitzenpolitiker, dass eine Wiedervereinigung nur im Kontext eines stärker vereinigten Europas möglich war, und dafür war man auch bereit, beträchtliche Opfer zu bringen. Als es zu Verhandlungen kam, war man gewillt, etwas mehr beizutragen und etwas weniger zu nehmen als die anderen und damit eine Einigung zu ermöglichen. Zu dieser Zeit erklärten deutsche Staatsmänner, dass Deutschland keine unabhängige, sondern eine europäische Außenpolitik verfolge. Das führte zu einer dramatischen Beschleunigung des Prozesses, der in der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992 und der Einführung des Euro im Jahr 2002 gipfelte.

Der Vertrag von Maastricht war mit grundlegenden Mängeln behaftet. Die Architekten des Euro erkannten, dass es sich um ein unvollständiges Konstrukt handelte: Man hatte zwar eine gemeinsame Zentralbank aber kein gemeinsames Finanzministerium, das Anleihen in Form von Schuldverschreibungen aller Mitgliedstaaten ausgeben konnte. Deutschland und die anderen Gläubigerländer widersetzen sich den Euro-Bonds nach wie vor. Dennoch waren die Architekten der Ansicht, dass der politische Wille bei Bedarf aufgebracht werden könnte, um die notwendigen Schritte in Richtung einer politischen Union einzuleiten. Schließlich verdankte die Europäische Union ihre Existenz dieser Vorgehensweise. Unglücklicherweise wies der Euro noch viele andere Mängel auf, derer sich weder seine Architekten noch die Mitgliedstaaten in vollem Umfang bewusst waren. Ans Tageslicht kamen sie durch die Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008, die einen Auflösungsprozess in Gang setzte.

In der Woche nach der Pleite von Lehman Brothers brachen die globalen Finanzmärkte zusammen und mussten künstlich am Leben erhalten werden. Dazu gehörte auch, den auf den Märkten nicht mehr akzeptierten Kredit der Finanzinstitutionen durch staatlich garantierten Kredit (in Form von Zentralbankgarantien und Haushaltsdefiziten) zu ersetzen. Die zentrale Rolle, die diese staatlich garantierten Kredite nun spielen sollten, brachte einen bis dahin verborgen gebliebenen Mangel des Euro zutage, der auch heute noch nicht in vollem Umfang erkannt wird. Indem sie ihr ursprüngliches Recht, Geld zu drucken, an die Europäische Zentralbank abtraten, setzten die Mitgliedstaaten ihre staatlichen Kredite einem Ausfallrisiko aus.

Für hoch entwickelte Länder, die Kontrolle über ihre eigene Währung ausüben, besteht keine Veranlassung, bankrottzugehen, sie können immer Geld drucken. Ihre Währung verliert möglicherweise an Wert, aber die Pleitegefahr ist praktisch nicht existent. Im Gegensatz dazu müssen weniger entwickelte Länder, die in Fremdwährung Kredite aufnehmen, Aufschläge zahlen, in denen sich dieses Ausfallrisiko widerspiegelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Finanzmärkte diese Länder sogar in Richtung Bankrott treiben können, und zwar durch Baisse-Manöver wie den Leerverkauf der Anleihen dieser Länder, wodurch deren Kreditkosten steigen und die Angst vor einem bevorstehenden Zahlungsausfall zunimmt. Bei der Einführung des Euro wurden Staatsanleihen als risikolos betrachtet. Die Regulierungsbehörden ermöglichten den Banken den unbegrenzten Ankauf von Anleihen, ohne dass diese in entsprechendem Maße über Eigenkapital verfügten, und die Europäische Zentralbank akzeptierte alle Staatsanleihen an ihrem Diskontfenster zu gleichen Bedingungen. Dadurch wurde es für Geschäftsbanken attraktiv, Anleihen der schwächeren, etwas höhere Zinsen zahlenden Mitgliedsländer anzuhäufen, um ein paar zusätzliche Basispunkte zu verdienen.

Nach der Lehman-Pleite begann der Zerfallsprozess

Im Gefolge der Krise um Lehman Brothers erklärte Angela Merkel, dass nicht die Europäische Union insgesamt, sondern jedes Land für sich garantieren sollte, keine systemisch wichtige Finanzinstitution pleitegehen zu lassen. Das war der erste Schritt in einem Zerfallsprozess, der nun die Europäische Union zu zerstören droht.

Die Finanzmärkte brauchten über ein Jahr, um die Auswirkungen der Erklärung von Kanzlerin Merkel zu erkennen. Daran zeigt sich, dass die Märkte mit einem Wissen operieren, das alles andere als perfekt ist. Erst Ende 2009, als die neugewählte griechische Regierung bekanntgab, dass die Vorgänger-Regierung geschwindelt hatte und das Defizit mehr als zwölf Prozent des BIP ausmachte, erkannten die Finanzmärkte, dass vormals als risikolos eingestufte Staatsanleihen sehr wohl beträchtliche Risiken in sich bargen und ein Zahlungsausfall möglich war. Als sich die Finanzmärkte dessen schlussendlich bewusst wurden, stiegen die Risikoaufschläge dramatisch an, was sich für die Staaten insofern bemerkbar machte, als sie höhere Erträge anbieten mussten, um ihre Anleihen verkaufen zu können. Geschäftsbanken, in deren Bilanzen es von diesen Anleihen wimmelte, wurden dadurch potentiell insolvent. Damit schuf man ein Staatsschuldenproblem und ein Bankenproblem, die in einer reflexiven Rückkopplungsschleife miteinander verbunden sind. Das sind die zwei Hauptfaktoren der Krise, vor der Europa heute steht.

Es besteht eine enge Parallele zwischen der Euro-Krise und der internationalen Bankenkrise des Jahres 1982. Damals retteten der IWF und die internationalen Bankbehörden das internationale Bankensystem, indem sie den schwer verschuldeten Ländern gerade so viel Kredit einräumten, dass sie nicht pleitegingen. Dies allerdings zu dem Preis, dass diese Länder in eine anhaltende Depression schlitterten. Lateinamerika litt unter einem verlorenen Jahrzehnt.

Heute spielt Deutschland die gleiche Rolle wie der IWF damals. Die Rahmenbedingungen sind etwas anders, aber der Effekt ist der gleiche. In Wirklichkeit schieben die Gläubiger nämlich die gesamte Last der Anpassung auf die Schuldnerländer und umgehen damit ihre eigene Verantwortung für die Ungleichgewichte. Interessanterweise haben sich die Ausdrücke „Zentrum“ und „Peripherie“ fast unbemerkt in den Sprachgebrauch eingeschlichen, obwohl es offenkundig unangebracht ist, Italien und Spanien als Peripherie-Länder zu beschreiben. Tatsächlich allerdings wurden Mitgliedsländer mit der Einführung des Euro zu weniger entwickelten Ländern degradiert, ohne dass die europäischen Behörden oder die Mitgliedsländer dies erkannt hätten. Rückblickend ist das die Hauptursache der Euro-Krise.

Ebenso wie in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird alle Schuld und Last der „Peripherie“ aufgebürdet und die Verantwortung des „Zentrums“ nie wirklich anerkannt. In diesem Zusammenhang ist das deutsche Wort „Schuld“ aufschlussreich: Es bezeichnet nämlich sowohl die Geldschuld als auch die moralische Schuld. Die öffentliche Meinung in Deutschland schiebt den schwer verschuldeten Ländern die Schuld an ihrem Unglück zu. Doch Deutschland kann seinem Teil der Verantwortung nicht entkommen. Ich werde versuchen aufzuzeigen, dass die „Schuld“ oder Verantwortung des „Zentrums“ heute noch größer ist als während der Bankenkrise 1982.

Bei der Schaffung des Euro war das „Zentrum“ von denselben ökonomischen Irrlehren geleitet, die auch für die Finanzkrise der Jahre 2007-2008 verantwortlich waren. Im Vertrag von Maastricht wurde es als selbstverständlich angesehen, dass nur der öffentliche Sektor chronische Defizite produzieren kann. Man ging davon aus, dass Finanzmärkte ihre eigenen Exzesse stets korrigieren würden. Obwohl diese marktfundamentalistischen Annahmen durch die Finanzkrise 2007/2008 widerlegt wurden, halten die europäischen Behörden weiterhin daran fest. So behandelten sie die Euro-Krise beispielsweise wie ein rein fiskalisches, also haushaltspolitisches Problem. Allerdings geht nur Griechenland als rein fiskalische Krise durch. Der Rest Europas leidet unter Bankenproblemen und unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit, wodurch Probleme mit der Zahlungsbilanz entstanden. Die Behörden haben die Komplexität der Krise nicht verstanden, geschweige denn eine Lösung gesehen. Daher versuchten sie, Zeit zu kaufen.

Normalerweise funktioniert das auch. Panik auf den Finanzmärkten flaut ab, und die Behörden realisieren einen Gewinn aus ihrer Intervention. Diesmal allerdings nicht, denn die Finanzprobleme waren mit einem Prozess der politischen Auflösung verbunden. Bei der Schaffung der Europäischen Union ergriffen die Spitzenpolitiker immer wieder die Initiative für weitere Schritte nach vorn, aber nach dem Ausbruch der Finanzkrise klammerten sie sich an den Status quo. Sie erkannten, dass die Öffentlichkeit hinsichtlich einer weiteren Integration skeptisch geworden war. Gezwungenermaßen war jedes Land mit dem Schutz seiner eigenen engen nationalen Interessen beschäftigt. Jede Regeländerung würde Machtbefugnisse von den europäischen Behörden in Brüssel wieder zu nationalen Behörden verschieben.

Folglich wurden die Bestimmungen der Verträge von Maastricht und Lissabon als in Stein gemeißelt betrachtet. So auch Artikel 123, der es der Europäischen Zentralbank verbietet, Kredite an Staaten zu vergeben. Damit wurden viele derjenigen, die den Status quo für untragbar oder unerträglich hielten, in antieuropäische Haltungen gedrängt. Durch diese politische Dynamik wird die Auflösung der Europäischen Union ebenso selbstverstärkend, wie es einst auch der Schaffungsprozess war.

Angela Merkel interpretierte die deutsche öffentliche Meinung richtig, als sie darauf bestand, dass sich jedes Land um sein eigenes Bankensystem kümmern sollte. Tatsächlich hat auch Deutschland seit der Wiedervereinigung einen Wandel hinter sich. Ebenso wie man damals bereit war, für die Wiedervereinigung beträchtliche Opfer auf sich zu nehmen, war man nun, da man die Kosten der Wiedervereinigung zu bezahlen hatte, damit beschäftigt, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Man hatte sich weit davon entfernt, etwas mehr als die anderen beizutragen, denn Deutschland wollte nicht Zahlmeister für den Rest Europas werden. Statt zu erklären, dass Deutschland keine andere als die europäische Politik verfolge, begannen die deutschen Medien die Europäische Union als „Transferunion“ zu verunglimpfen, die Deutschland finanziell austrocknen würde.

Die Bundesbank hängt einer überholten Doktrin an

Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesbank weiterhin einer überholten geldpolitischen Doktrin anhängt, die tief in der deutschen Geschichte verwurzelt ist. Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland mit der traumatischen Erfahrung der Inflation konfrontiert. Deshalb erkennt man auch nur die Inflation als Bedrohung der Stabilität, nicht aber die Deflation, die tatsächliche Bedrohung von heute.

Als Deutschlands Schulden nach der Wiedervereinigung ausuferten, setzte man weitreichende Arbeitsmarkt- und Strukturreformen um und verabschiedete eine Grundgesetzänderung, die vorsieht, dass der Bundeshaushalt bis 2016 ausgeglichen zu sein hat. Das funktionierte wie eine Zauberformel. Unterstützt von Immobilien- und Konsumbooms im Rest Europas erlebte Deutschland eine exportgetriebene Erholung.

Heute empfiehlt Deutschland Sparmaßnahmen und Strukturreformen als Allheilmittel für die Euro-Krise. Warum sollte in Europa heute nicht funktionieren, was damals in Deutschland zum Erfolg führte? Aus einem sehr guten Grund: Die wirtschaftlichen Bedingungen präsentieren sich heute ganz anders. Das globale Finanzsystem reduziert seine übermäßige Fremdfinanzierung, und die Exporte erleben weltweit einen Rückgang. Sparmaßnahmen in Europa verschärfen einen weltweiten Trend und treiben Europa in die deflationäre Schuldenfalle. Wenn zu viele schwer verschuldete Staaten ihre Haushaltsdefizite gleichzeitig senken, schrumpft auch ihre Wirtschaft, so dass die Schuldenlast als Prozentsatz des BIP in Wirklichkeit ansteigt. Währungsbehörden auf der ganzen Welt erkennen diese Gefahr. Deshalb haben der Präsident der amerikanischen Federal Reserve, Ben Bernanke, der Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, und sogar der Gouverneur der Bank of Japan, Masaaki Shirakawa, zu unkonventionellen monetären Maßnahmen gegriffen, um eine deflationäre Schuldenfalle zu vermeiden.

Für die deutsche Öffentlichkeit ist es überaus schwer zu verstehen, dass Deutschland Europa die falsche Politik aufzwingt. Die deutsche Wirtschaft befindet sich nicht in der Krise. Tatsächlich hat Deutschland bisher von der Euro-Krise profitiert, die dazu beitrug, den Wechselkurs niedrig zu halten und Exporte zu erleichtern. In letzter Zeit erfreute sich Deutschland extrem niedriger Zinssätze. Aufgrund einer Kapitalflucht aus den Schuldnerländern wird Deutschland mit Kapital überschwemmt, während die „Peripherie“ gleichzeitig deftige Risikoprämien zahlen muss, um Zugang zu finanziellen Mitteln zu erhalten.

„Eine Tragödie wahrhaft historischen Ausmaßes“

Das ist nicht das Resultat eines heimtückischen Plans, sondern eine unbeabsichtigte Folge einer Entwicklung, in der ein Plan fehlte. Doch die deutschen Politiker sahen die Vorteile dieser Entwicklung für Deutschland, was wiederum ihre politischen Entscheidungen zu beeinflussen begann. Deutschland wurde in eine Position gebracht, in der seine Haltung die europäische Politik bestimmt. Daher liegt die primäre Verantwortung für eine Sparpolitik, die Europa in die Depression treibt, bei Deutschland. Je mehr Zeit vergeht, desto größer wird die Zahl der Gründe, Deutschland für die Politik verantwortlich zu machen, die es Europa auferlegt, obwohl sich die deutsche Öffentlichkeit zu Unrecht beschuldigt fühlt. Das ist eine Tragödie wahrhaft historischen Ausmaßes. Wie in antiken griechischen Tragödien führen Missverständnisse und der schiere Mangel an Erkenntnis zu unbeabsichtigten, aber verhängnisvollen Folgewirkungen.

Wäre Deutschland zu Beginn der griechischen Krise bereit gewesen, den zu einem späteren Zeitpunkt angebotenen Kredit zu gewähren, hätte man Griechenland retten können. Aber Europa hat immer nur das notwendige Mindestmaß getan, um den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern, und das war zu wenig, um das Ruder herumzureißen. Diese Entwicklung hielt auch an, als sich die Krise auf andere Länder ausbreitete. Zu jedem Zeitpunkt hätte die Entwicklung gestoppt und umgekehrt werden können, wäre Deutschland in der Lage gewesen, über den Tellerrand zu blicken, und bereit gewesen, mehr als das Mindestmaß zu tun.

Zu Beginn der Krise war der Zusammenbruch des Euro undenkbar. Die in Euro denominierten Vermögenswerte und Verbindlichkeiten waren derart miteinander verwoben, dass ein Zusammenbruch zu einer unkontrollierbaren Kernschmelze geführt hätte. Aber mit dem Fortschreiten der Krise ordnet sich das Finanzsystem zunehmend entlang nationaler Grenzen. Die Regulierungsbehörden fördern tendenziell die inländische Kreditvergabe, Banken trennen sich von ausländischen Vermögenswerten, und die Risikomanager versuchen, Vermögenswerte und Verbindlichkeiten aus dem Bereich innerhalb ihrer nationaler Grenzen und nicht aus der gesamten Euro-Zone aufeinander abzustimmen. Hält diese Entwicklung an, wäre ein Zusammenbruch des Euro ohne Kernschmelze möglich, aber die Zentralbanken der Gläubigerländer blieben auf riesigen, schwer einbringlichen Forderungen gegenüber den Zentralbanken der Schuldnerländer sitzen.

Wenn sich eine Zentralbank rüstet, müssen die anderen nachziehen

Der Grund dafür liegt in einem dubiosen Problem des Euro-Clearingsystems namens Target 2. Im Gegensatz zu dem Clearingsystem der Federal Reserve, in dem jährlich abgerechnet wird, werden bei Target 2 die Ungleichgewichte zwischen den Banken der Euro-Zone angehäuft. Das war kein Problem, solange das Interbankensystem funktionierte, denn die Banken regelten die Ungleichgewichte auf dem Interbankenmarkt untereinander. Doch der Interbankenmarkt funktioniert seit 2007 nicht mehr ordnungsgemäß, und seit Sommer 2011 kommt es zu einer zunehmenden Kapitalflucht aus den schwächeren Ländern. Wenn ein griechischer oder spanischer Kunde von seinem Konto bei einer griechischen oder spanischen Bank einen Geldtransfer zu einer holländischen Bank veranlasst, verfügt die holländische Zentralbank über ein Target-2-Guthaben, dem eine Forderung an die griechische oder spanische Zentralbank gegenübersteht. Diese Forderungen wachsen exponentiell an. Ende Juli diesen Jahres hatte die Bundesbank Forderungen im Ausmaß von 727 Milliarden Euro gegenüber den Zentralbanken der Peripherie-Länder in ihren Büchern.

Die Bundesbank erkannte diese potentielle Gefahr, und die deutsche Öffentlichkeit wurde durch das leidenschaftliche, wenn auch fehlgeleitete Engagement des Ökonomen Hans-Werner Sinn alarmiert. Die Bundesbank ist zunehmend entschlossen, die im Falle eines Zusammenbruchs entstehenden Verluste zu begrenzen. Das wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn eine Zentralbank beginnt, sich gegen einen Zusammenbruch zu rüsten, müssen alle anderen das auch tun.

Die Krise verschärft sich also weiter. Die Spannungen auf den Finanzmärkten haben einen neuen Höhepunkt erreicht, wie an den historisch niedrigen Renditen der deutschen Staatsanleihen zu erkennen ist. Noch bezeichnender ist, dass sich die Rendite für zehnjährige britische Anleihen auf dem niedrigsten Stand in ihrer 300-jährigen Geschichte befinden, während die Renditen auf spanische Staatsanleihen ein neues Rekordhoch erreicht haben.

Die Realwirtschaft in der Euro-Zone befindet sich im Sinkflug, während es Deutschland relativ gut geht. Das bedeutet, die Kluft wird größer. Die politische und soziale Dynamik arbeitet ebenfalls in Richtung Zerfall. Wie an den jüngsten Wahlergebnissen zu erkennen, wendet sich die öffentliche Meinung zunehmend gegen die Sparprogramme, und dieser Trend wird wahrscheinlich noch stärker werden, bis sich die Politik ändert. Es muss also etwas geschehen.

Wo stehen wir heute?

Der Gipfel im Juni schien die letzte Gelegenheit für eine politische Kehrtwende innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens zu bieten. In der Vorbereitungsphase erkannten die europäischen Institutionen unter der Führung von Herman Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rates, dass der aktuelle Kurs in das Desaster führt, und sie waren entschlossen, die Alternativen auszuloten. Überdies gelangte man zu der Erkenntnis, dass die Bankenprobleme und die Staatsschuldenprobleme wie siamesische Zwillinge miteinander verbunden und daher auch nicht getrennt zu lösen sind. So wurde versucht, eine umfassende Überprüfung der Politik durchzuführen, aber natürlich hatte man sich über den gesamten Zeitraum immer wieder mit Deutschland zu beraten. Von deutscher Seite wurde man hinsichtlich eines Plans für eine Bankenunion bestärkt, weil Deutschlands Sorge den Risiken einer Kapitalflucht aus den „Peripherie-Ländern“ galt. Daher war auch dieser Teil des Programms viel besser entwickelt als die Lösung des Staatsschuldenproblems – trotz der reflexiven Rückkopplungsschleife zwischen den beiden.

Die Refinanzierungskosten der Staatsschulden waren für Italien von entscheidender Bedeutung. Zu Beginn des Gipfels im Juni erklärte Ministerpräsident Monti, dass Italien seine Zustimmung zu allen anderen Punkten verweigern würde, wenn nichts gegen diese hohen Refinanzierungskosten unternommen werde. Um ein Fiasko zu verhindern, versprach Kanzlerin Merkel, dass Deutschland jeden Vorschlag in Betracht ziehen werde, solange sich dieser innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmenwerks bewegt. Der Gipfel war gerettet. Man beschloss, die Pläne für eine Bankenunion fertigzustellen, wobei die europäischen Rettungsfonds, ESM und EFSF, die Banken direkt refinanzieren dürfen. Nach einer nächtlichen Marathonsitzung wurde der Gipfel vertagt. Mario Monti erklärte den Sieg.

In den nachfolgenden Verhandlungen allerdings stellte sich heraus, dass kein Vorschlag zur Reduzierung der Risikoprämien in den bestehenden rechtlichen Rahmen passte. Der Plan, wonach der ESM herangezogen werden würde, um die spanischen Banken zu rekapitalisieren, wurde ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt, als Kanzlerin Merkel dem Bundestag versichern musste, dass Spanien für jegliche Verluste haftbar bleiben würde. Die Finanzmärkte reagierten mit Rekord-Risikoaufschlägen für spanische Anleihen, und die italienischen Prämien stiegen gleich mit. Die Krise war mit voller Wucht zurück. Da Deutschland unbeweglich geworden war, weil der Bundesverfassungsgerichthof die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des ESM erst am 12. September verkünden wird, blieb es der Europäischen Zentralbank überlassen, in die Bresche zu springen.

Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, kündigte an, dass die EZB im Rahmen ihres Mandats alles Erforderliche tun werde, um den Euro zu erhalten. Seither betont Bundesbank-Präsident Jens Weidmann nachdrücklich die rechtlichen Grenzen der EZB, wohingegen der Vertreter der deutschen Regierung im EZB-Direktorium, Jörg Asmussen, unbegrenzte Interventionen mit der Begründung befürwortete, dass das Überleben des Euro auf dem Spiel stehe. Das war ein Wendepunkt. Kanzlerin Merkel unterstützte Mario Draghi, wodurch der Bundesbank-Präsident im EZB-Direktorium isoliert dastand. Präsident Draghi nützte diese Chance so gut wie möglich. Die Finanzmärkte fassten Mut und erholten sich unter Vorwegnahme der Entscheidung der EZB am 6. September.

Leider könnte aber nicht einmal eine unbegrenzte Intervention ausreichen, um zu verhindern, dass die Spaltung der Euro-Zone in Gläubiger- und Schuldnerstaaten dauerhaft wird. Die Risikoaufschläge werden damit nicht beseitigt, sondern lediglich eingegrenzt, und die den Schuldnerländern durch die EFSF auferlegte Konditionalität wird diese Länder wahrscheinlich in eine deflationäre Falle treiben. Infolgedessen werden sie nicht in der Lage sein, ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, bis man es aufgibt, die Schulden durch Sparprogramme abbauen zu wollen.

Der Weg des geringsten Widerstandes führt nicht zum unmittelbaren Zusammenbruch des Euro, sondern zu einer Verlängerung der Krise auf unbestimmte Zeit. Ein ungeordneter Zusammenbruch wäre eine Katastrophe für die Euro-Zone und indirekt für die ganze Welt. Da es Deutschland besser geht als anderen Mitgliedern der Euro-Zone, kann es auch tiefer fallen als die anderen – weshalb man auch weiterhin das nötige Mindestmaß tun wird, um diesen Zusammenbruch zu verhindern.

Deutschland wird als Hegemon hervorgehen

Die aus diesem Prozess hervorgehende Europäische Union wird sich diametral von der Europäischen Union als Inbegriff einer offenen Gesellschaft unterscheiden. Sie wird kein freiwilliger Zusammenschluss gleichrangiger Staaten mehr sein, sondern ein hierarchisches System auf Grundlage von Schuldverschreibungen. Sie wird aus zwei Klassen von Staaten bestehen – aus Gläubigern und Schuldnern, und die Gläubiger werden die Richtung vorgeben.

Als stärkstes Gläubigerland wird Deutschland als Hegemon hervorgehen. Die Klasseneinteilung wird dauerhaften Charakter annehmen, weil die Schuldnerländer beträchtliche Risikoaufschläge zahlen werden müssen, um an Kapital zu kommen, und es wird für sie unmöglich werden, zu den Gläubigerländern aufzuschließen. Statt zu einer Verringerung der Unterschiede hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistung wird es zu einer Ausweitung kommen. Sowohl menschliche als auch finanzielle Ressourcen wird es in das Zentrum ziehen, und die Peripherie wird dauerhaft in der Depression verharren. Aufgrund der Zuwanderung gut ausgebildeter Menschen von der iberischen Halbinsel und Italien, statt der weniger qualifizierten Gastarbeiter aus der Türkei oder der Ukraine, wird Deutschland in seiner demografischen Entwicklung sogar bis zu einem gewissen Grad profitieren. Doch die Peripherie wird vor Ressentiments brodeln.

Imperiale Macht kann große Vorteile mit sich bringen, aber man muss sie sich verdienen, indem man sich um diejenigen kümmert, die unter ihrer Ägide leben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelten sich die Vereinigten Staaten zur Führungsmacht der freien Welt. Durch das Bretton-Woods-System wurden sie zum Primus inter Pares, aber die Vereinigten Staaten waren ein wohlwollender Hegemon, der sich durch sein Engagement für den Marshall-Plan die dauerhafte Dankbarkeit Europas sicherte. Diese historische Chance versäumt Deutschland, indem es die schwer verschuldeten Länder in ihrer „Schuld“ hält.

Es sei daran erinnert, dass die von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geforderten Reparationszahlungen einer der Faktoren waren, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus führten. Deutschland konnte seine eigenen Schulden im Rahmen dreier verschiedener Pläne senken: durch den Dawes-Plan des Jahres 1924, den Young-Plan von 1929 – der zu spät kam, um den Aufstieg Hitlers zu verhindern – und das Londoner Schuldenabkommen von 1953.

Heute hegt Deutschland keine imperialen Ambitionen. Paradoxerweise ist der Wunsch, Europa nicht zu beherrschen, ein Teil der Ursache, warum es Deutschland nicht gelang, der Situation gerecht zu werden und als wohlwollender Hegemon zu agieren. Die von der EZB am 6. September unternommenen Schritte werden das Mindestmaß dessen sein, was nötig ist, um den Euro zu erhalten, aber sie werden uns auch einem Europa der zwei Geschwindigkeiten näher bringen. Die Schuldnerländer werden sich einer europäischen Aufsicht unterwerfen müssen, die Gläubigerländer jedoch nicht; und die Unterschiede hinsichtlich der Wirtschaftsleistung werden noch verstärkt. Tatsächlich ist die Aussicht auf eine ausgedehnte Depression sowie eine dauerhafte Spaltung in Schuldner- und Gläubigerländer derart trostlos, dass man sie nicht einfach hinnehmen kann. Was aber sind die Alternativen?

Der Ausweg

Deutschland muss entscheiden, ob es ein wohlwollender Hegemon werden will oder den Euro verlassen möchte. Was würde das bedeuten? Einfach gesagt: Es bedürfte neuer Ziele, die von den aktuellen Strategien abweichen.

  • Die Herstellung mehr oder weniger gleicher Bedingungen zwischen Schuldner- und Gläubigerländern. Das würde bedeuten, dass diese Länder ihre Staatsschulden zu beinahe gleichen Bedingungen refinanzieren könnten.
  • Die Zielsetzung eines nominalen Wachstums von bis zu fünf Prozent, so dass Europa seine exzessive Schuldenlast durch Wachstum abbauen kann. Das wird eine höhere Inflation erfordern, als die Bundesbank wahrscheinlich zu tolerieren bereit ist. Darüber hinaus könnte es auch eine Vertragsänderung und eine Änderung der deutschen Verfassung nötig machen.

Diese beiden Ziele sind erreichbar, allerdings nur, wenn man beträchtliche Fortschritte in Richtung einer politischen Union erzielt. Die im nächsten Jahr zu treffenden politischen Entscheidungen werden die Zukunft der Europäischen Union bestimmen. Die von der EZB am 6. September unternommenen Schritte könnten ein Vorspiel zur Schaffung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten sein. Alternativ könnten sie auch zur Bildung einer engeren politischen Union führen, in der Deutschland jene Verpflichtungen akzeptiert, die seine Führungsposition mit sich bringen.

Eine Euro-Zone der zwei Geschwindigkeiten würde die Europäische Union letztendlich zerstören, weil die Entrechteten früher oder später austreten würden. Ist eine politische Union nicht erreichbar, wäre die nächstbessere Alternative eine geordnete Trennung der Gläubiger- und Schuldnerländer. Wenn die Euro-Mitglieder nicht miteinander leben können, ohne ihre Union in eine dauerhafte Depression zu treiben, wäre eine Trennung in beiderseitigem Einverständnis die bessere Lösung.

Bei einer freundschaftlichen Trennung kommt es sehr darauf an, wer wen verlässt, denn die angehäuften Schulden sind in einer gemeinsamen Währung denominiert. Verlässt ein Schuldnerland die Euro-Zone, steigt der Wert seiner Schulden entsprechend der Abwertung seiner Währung. Das betreffende Land mag vielleicht wettbewerbsfähig werden, aber es könnte seine Schulden nicht mehr bedienen, und das würde unkalkulierbare Verwerfungen an den Finanzmärkten auslösen. Der gemeinsame Markt und die Europäische Union sind vielleicht in der Lage, einen Zahlungsausfall eines kleinen Landes wie Griechenland zu verkraften, vor allem wenn er weithin erwartet wird, aber die Trennung von einem größeren Land wie Spanien oder Italien könnte man nicht überleben. Doch selbst ein Bankrott Griechenlands könnte sich als fatal erweisen. Dies würde einer Kapitalflucht Vorschub leisten und die Finanzmärkte zu Baisse-Manövern gegen andere Länder ermutigen. Der Euro könnte daher ebenso auseinanderbrechen wie der Wechselkursmechanismus im Jahr 1992.

Würde, im Gegensatz dazu, Deutschland austreten und die Währungsunion in die Hände der Schuldnerländer legen, fiele der Euro, und die angehäuften Schulden würden mit der Währung abwerten. Praktisch alle momentan unlösbaren Probleme würden sich lösen. Die Schuldnerländer würden ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen, ihre realen Schulden würden sich verringern und, da die EZB diese Schulden unter ihrer Kontrolle hätte, würde sich die Bedrohung des Zahlungsausfalls in Luft auflösen. Ohne Deutschland hätte die Euro-Zone kein Problem bei der Vollführung einer Kehrtwende, für die man andernfalls die Zustimmung von Kanzlerin Merkel benötigte.

Insbesondere könnte die geschrumpfte Euro-Zone ihre eigene Finanzbehörde und einen eigenen Entschuldungsfonds etablieren, wie ich es im Folgenden darlegen werde. Die geschrumpfte Euro-Zone könnte sogar noch viel weiter gehen und die gesamten Schulden der Mitgliedsländer in Euro-Bonds konvertieren – und nicht nur den Teil, der über 60 Prozent des BIP liegt. Nach der Stabilisierung des Wechselkurses des geschrumpften Euro würden die Risikoaufschläge der Euro-Bonds auf ein Niveau sinken, wie das bei Anleihen in anderen Währungen mit flexiblen Wechselkursen der Fall ist, wie etwa dem britischen Pfund oder dem japanischen Yen. Das hört sich vielleicht unglaublich an, aber nur deshalb, weil man so weithin an die Missverständnisse glaubt, die diese Krise ausgelöst haben. Es kommt möglicherweise überraschend, aber die Euro-Zone würde auch ohne Deutschland hinsichtlich der Standard-Indikatoren für die Zahlungsfähigkeit von Staaten besser abschneiden als Großbritannien, Japan oder die USA.

Ein Austritt Deutschlands wäre ein turbulentes, aber durchaus zu bewältigendes Ereignis, im Gegensatz zu dem chaotischen und langwierigen Dominoeffekt, im Zuge dessen ein Schuldnerland nach dem anderen durch Spekulation und Kapitalflucht aus dem Euro gezwungen würde. Es gäbe keine gültigen Klagen durch geschädigte Anleiheinhaber. Sogar die Immobilienprobleme ließen sich leichter in den Griff bekommen. Angesichts beträchtlicher Wechselkursunterschiede würden die Deutschen in Scharen spanische und irische Immobilien kaufen. Nach anfänglichen Turbulenzen würde sich die Euro-Zone aus der Depression in die Wachstumszone bewegen.

Der gemeinsame Markt würde überleben, aber die relative Position Deutschlands und anderer Gläubigerstaaten, die den Euro möglicherweise verlassen, würde sich von der Gewinner- auf die Verliererseite verschieben. Diese Länder bekämen es auf ihren Heimmärkten mit harter Konkurrenz aus der Euro-Zone zu tun und obwohl sie vielleicht ihre Exportmärkte nicht verlieren würden, wären diese weniger lukrativ. Außerdem würden diese Länder finanzielle Verluste aus ihren in Euro denominierten Vermögenswerten ebenso wie aus ihren Forderungen im Rahmen des Target-2-Clearingsystems erleiden. Das Ausmaß der Verluste hinge vom Ausmaß der Abwertung des Euro ab. Deshalb hätten sie ein entscheidendes Interesse, diese Abwertung in Grenzen zu halten. Natürlich gäbe es zahlreiche Probleme beim Übergang, aber das Endergebnis wäre die Erfüllung von Keynes‘ Traum eines Währungssystems, in dem Gläubiger und Schuldner ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung der Stabilität haben.

Nach einem anfänglichen Schock würde Europa aus der deflationären Schuldenfalle entkommen, in der es sich momentan befindet. Die Weltwirtschaft im Allgemeinen und Europa im Besonderen würden sich erholen, und Deutschland könnte, nachdem es seine Verluste verdaut hat, seine Position als führender Produzent und Exporteur von Produkten mit hoher Wertschöpfung wieder einnehmen. Deutschland würde von der allgemeinen Verbesserung profitieren. Dennoch wären die unmittelbaren finanziellen Verluste und die Veränderung seiner relativen Position innerhalb des gemeinsamen Marktes so groß, dass die Erwartung, Deutschland könnte den Euro freiwillig verlassen, unrealistisch ist. Der Anstoß müsste von außen kommen.

Im Gegensatz dazu erginge es Deutschland um vieles besser, wenn es sich entschließen würde, als wohlwollender Hegemon zu agieren, und Europa blieben die Turbulenzen erspart, die ein deutscher Austritt aus dem Euro mit sich brächte. Doch der Weg zu den zwei Zielen – der Herstellung mehr oder weniger gleicher Bedingungen sowie einer wirksamen Wachstumspolitik – wäre viel steiniger. Ich darf das erläutern.

Im Weg steht Deutschlands Angst, zum Zahlmeister zu werden

Der erste Schritt wäre die Schaffung einer Europäischen Finanzbehörde, die berechtigt ist, Entscheidungen im Namen der gemeinsam und solidarisch agierenden Mitgliedsländer zu treffen. Das ist die fehlende Zutat, die notwendig ist, um den Euro zu einer vollwertigen Währung mit einem echten Kreditgeber letzter Instanz zu machen. Diese Finanzbehörde könnte in Partnerschaft mit der Zentralbank tun, was die EZB alleine nicht kann. Das Mandat der EZB besteht darin, die Stabilität der Währung aufrechtzuerhalten. Es ist ihr explizit verboten, Haushaltsdefizite zu finanzieren. Aber nichts verbietet es den Mitgliedstaaten, eine Finanzbehörde zu schaffen.

Im Weg steht Deutschlands Angst, zum Zahlmeister Europas zu werden. Angesichts des Ausmaßes der europäischen Probleme ist das verständlich, rechtfertigt aber nicht die dauerhafte Spaltung der Euro-Zone in Schuldner- und Gläubigerländer. Die Interessen der Gläubiger sollen und können geschützt werden, indem man ihnen bei Entscheidungen, durch die sie überproportional betroffen wären, ein Vetorecht einräumt. Das ist im Abstimmungssystem des ESM bereits berücksichtigt, wo es für jede wichtige Entscheidung einer Mehrheit von 85 Prozent bedarf. Dieser Modus sollte auch in die Regelungen für die Finanzbehörde aufgenommen werden. Leisten die Mitglieder allerdings einen ihrem Anteil entsprechenden Beitrag – beispielsweise durch einen gewissen Prozentsatz ihrer Mehrwertsteuer – sollte eine einfache Mehrheit ausreichen.

Die europäische Finanzbehörde würde automatisch die Verantwortung für EFSF und ESM übernehmen. Der große Vorteil einer europäischen Finanzbehörde besteht darin, dass sie wie die EZB Entscheidungen tagesaktuell fällen kann. Ein weiterer Vorteil wäre, dass man damit die ordnungsgemäße Unterscheidung zwischen fiskalischer und geldpolitischer Verantwortung wiederherstellt. Beispielsweise sollte die Finanzbehörde das Solvenzrisiko für alle von der EZB gekauften Staatsanleihen übernehmen. In diesem Fall gäbe es keinen Grund für Einwände gegen unbegrenzte Offenmarktgeschäfte der EZB. (Die EZB hat sich am 6. September selbst dafür entschieden, aber nur unter beharrlichen Einwänden der Bundesbank.)

Ein wesentlicher Faktor ist auch, dass es für die Finanzbehörde viel leichter wäre als für die EZB, die Teilnahme des öffentlichen Sektors bei der Neuordnung der griechischen Schulden anzubieten. Die Finanzbehörde könnte ihrer Bereitschaft Ausdruck verleihen, alle vom öffentlichen Sektor gehaltenen griechischen Anleihen in Nullkuponanleihen mit zehnjähriger Laufzeit zu konvertieren, vorausgesetzt Griechenland würde einen primären Überschuss von beispielsweise zwei Prozent erreichen. Damit könnte man ein Licht am Ende des Tunnels schaffen, das Griechenland auch in diesem späten Stadium noch helfen würde.

Der zweite Schritt bestünde darin, die Finanzbehörde einzusetzen, um eine stärkere Gleichstellung zwischen Schuldner- und Gläubigerländern zu schaffen, als die EZB dies am 6. September anbieten kann. Ich habe vorgeschlagen, dass die Finanzbehörde einen Entschuldungsfonds einrichten sollte – eine abgeänderte Form des von Merkels Sachverständigenrat vorgeschlagenen und von den Sozialdemokraten und den Grünen in Deutschland unterstützten Europäischen Schuldentilgungspaktes. Der Entschuldungsfonds würde Schuldtitel, die über 60 Prozent des BIP hinausgehen, unter der Bedingung aufkaufen, dass die betroffenen Länder von der Finanzbehörde gebilligte Strukturreformen durchführen. Der Fonds würde die Schulden nicht streichen, sondern die Schuldtitel halten. Weicht ein Schuldnerland von den vereinbarten Bedingungen ab, würde ihm der Fonds eine angemessene Strafe auferlegen. Wie aufgrund des Fiskalpakts gefordert, müsste das Schuldnerland nach einem Moratorium von fünf Jahren seine Überschuldung um fünf Prozent jährlich senken. Aus diesem Grund muss Europa ein nominales Wachstum von bis zu fünf Prozent anstreben.

Der Entschuldungsfonds würde seine Anleihekäufe entweder durch die EZB oder durch die Ausgabe von Europäischen Schatzanweisungen – Schuldverschreibungen, für die die Mitgliedstaaten gesamtschuldnerisch haften – finanzieren und die Zinsvorteile an die betreffenden Länder weitergeben. In jedem Fall würden die Kosten für die Schuldnerländer auf ein Prozent oder weniger sinken. Den Schatzanweisungen würde von den Behörden ein Nullrisiko-Rating verliehen, und sie würden bei Repo-Geschäften mit der EZB als Sicherheiten höchster Gütestufe behandelt. Das Bankensystem bedarf dringend risikofreier liquider Vermögenswerte. Als ich dieses Programm vorschlug, parkten die Banken mehr als 700 Milliarden Euro an überschüssiger Liquidität bei der EZB und verdienten damit lediglich Zinsen von einem Viertelprozent. Dies gewährleistet einen großen, aufnahmebereiten Markt für diese Schatzanweisungen bei weniger als einem Prozent. Im Gegensatz dazu wird man mit dem von der EZB am 6. September präsentierten Plan die Finanzierungskosten wahrscheinlich nicht sehr weit unter drei Prozent senken.

Unglücklicherweise wurde dieser Vorschlag von den Deutschen kurzerhand abgelehnt, und zwar mit der Begründung, dieser entspreche nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtshofs. Meiner Meinung nach war dieser Einwand unbegründet, denn der Gerichtshof urteilte gegen Verpflichtungen, die zeitlich und in ihrem Ausmaß unbegrenzt sind, während die Schatzanweisungen zur Entschuldung in beiden Richtungen limitiert wären. Hätte Deutschland vor, als wohlwollender Hegemon zu agieren, könnte es den Vorschlag leicht akzeptieren. Vertragsänderungen wären dazu nicht notwendig. Schließlich könnten die Schatzanweisungen eine Brücke zur Einführung der Euro-Bonds bilden. Damit hätte man auf Dauer gleiche Bedingungen geschaffen.

Womit wir bei dem zweiten Ziel einer wirksamen Wachstumspolitik wären, die auf ein nominales Wachstum bis zu fünf Prozent abzielt. Dieser Wert ist notwendig, damit die schwer verschuldeten Länder die Voraussetzungen des Fiskalpakts erfüllen können, ohne in eine deflationäre Schuldenfalle zu geraten. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, solange Deutschland an der asymmetrischen Interpretation monetärer Stabilität der Bundesbank festhält. Wenn es im Euro bleiben will, ohne die Europäische Union zu zerstören muss Deutschland für einen begrenzten Zeitraum eine Inflation von über zwei Prozent akzeptieren.

Der Weg dorthin

Wie kann Deutschland nun dazu gebracht werden, sich zu entscheiden, entweder im Euro zu bleiben, ohne die Europäische Union zu zerstören, oder den Schuldnerländern zu ermöglichen, ihre Probleme allein zu lösen, indem man aus dem Euro austritt? Druck von außen könnte dies bewerkstelligen. Mit François Hollande als neuen Präsidenten ist Frankreich offenkundiger Kandidat als Verfechter einer alternativen Politik für Europa. Durch die Bildung einer gemeinsamen Front mit Italien und Spanien könnte Frankreich ein wirtschaftlich glaubwürdiges und politisch ansprechendes Programm vorlegen, um damit den gemeinsamen Markt zu retten und die Europäische Union als idealistische Vision wieder erstehen zu lassen, die die Vorstellungskraft der Menschen beflügelt. Die gemeinsame Front könnte Deutschland vor die Wahl stellen: führen oder austreten. Das Ziel wäre nicht, Deutschland auszuschließen, sondern seine politische Haltung radikal zu ändern.

Unglücklicherweise ist Frankreich angesichts der entschlossenen Gegnerschaft aus Deutschland in einer nicht sehr starken Position, um mit Italien und Spanien eine einheitliche Front zu bilden. Kanzlerin Merkel ist nicht nur eine starke Führungspersönlichkeit, sondern auch eine geschickte Politikerin, die weiß, wie man Gegner auseinanderdividiert. Frankreich ist besonders verwundbar, weil es im Hinblick auf Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen weniger getan hat als Italien oder Spanien. Der relativ geringe Risikoaufschlag, den französische Staatsanleihen gegenwärtig aufweisen, ist fast ausschließlich dem Umstand der engen Verbindung Frankreichs mit Deutschland zu verdanken. Asiatische Zentralbanken kaufen französische Anleihen, vor allem seit die deutschen Anleihen negative Erträge bringen. Sollte sich Frankreich zu eng mit Italien und Spanien verbünden, würde man das Land mit dem gleichen Maßstab beurteilen, und die Risikoaufschläge auf seine Anleihen würden auf ähnliche Niveaus ansteigen.

Die Vorteile, mit Deutschland in einem Boot zu sitzen, wenn sich in Europa eine ausgedehnte Depression breitmacht, dürften zugegebenermaßen trügerisch sein. Da die Bruchlinie zwischen Deutschland und Frankreich deutlicher hervortritt, dürften die Finanzmärkte Frankreich ungeachtet, ob es Deutschland treu bleibt oder nicht, einer Kategorie mit Italien und Spanien zuordnen. Die tatsächliche Wahl Frankreichs besteht also einerseits in einem Bruch mit Deutschland, um Europa zu retten und das Wachstum wiederherzustellen, oder, andererseits, vorzugeben, für eine begrenzte Zeit im Hartwährungsboot zu sitzen, nur um später über Bord geworfen zu werden. Sich auf die Seite der Schuldnerländer zu schlagen und sich der Sparpolitik entgegenzustellen, würde es Frankreich ermöglichen, seine Führungsrolle wieder einzunehmen, die es unter der Präsidentschaft Mitterands innehatte. Das wäre eine würdigere Position als die eines Beifahrers neben Deutschland. Dennoch würde es von Frankreich großen Mut erfordern, sich kurzfristig von Deutschland abzukoppeln.

Italien und Spanien haben andere Schwächen. Italien erwies sich als unfähig, alleine eine gute Regierungsführung aufrechtzuerhalten. Seine aktuellen Schuldenprobleme sammelten sich schon vor dem Euro-Beitritt an. Tatsächlich wies Italien als Euro-Mitglied hinsichtlich der primären Haushaltsüberschüsse bessere Werte auf als Deutschland – selbst über weite Strecken unter der Regierung Berlusconi. Allerdings scheint Italien eine Institution von außen zu brauchen, um sich von schlechter Regierungsführung zu befreien. Darum waren die Italiener so begeistert von der Europäischen Union. Spanien ist politisch gesehen viel gesünder, aber die aktuelle Regierung ist Deutschland gegenüber viel unterwürfiger, als es ihr guttut. Außerdem wäre die Verringerung der Risikoprämien aufgrund der Anleihenkäufe der EZB ausreichend, um den Anreiz für eine Rebellion gegen die deutsche Dominanz zu beseitigen.

Die Kampagne zur Veränderung der deutschen Haltung wird sich daher in der Form sehr von den zwischenstaatlichen Verhandlungen unterscheiden müssen, die momentan die Politik entscheiden. Die europäische Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und die breitere Öffentlichkeit müssen mobilisieren und sich engagieren. Gegenwärtig ist die Öffentlichkeit in vielen Ländern der Euro-Zone beunruhigt, verwirrt und wütend. Das findet seinen Ausdruck in Fremdenfeindlichkeit, antieuropäischen Haltungen und extremistischen politischen Bewegungen. Die latent vorhandenen pro-europäischen Gefühle, die sich momentan nicht äußern können, müssen wieder entfacht werden, um die Europäische Union zu retten. In Deutschland träfe eine derartige Bewegung auf wohlwollende Reaktionen, denn die große Mehrheit im Land ist immer noch proeuropäisch eingestellt, steht aber unter dem Bann falscher fiskalischer und geldpolitischer Lehren.

Aktuell geht es der deutschen Wirtschaft relativ gut, und auch die politische Situation ist relativ stabil. Die Krise ist lediglich als entferntes Geräusch aus dem Ausland zu vernehmen. Nur ein Schock würde Deutschland aus seinen vorgefassten Meinungen reißen und es zwingen, sich mit den Folgen seiner aktuellen Politik auseinanderzusetzen. Das könnte eine Bewegung, die eine brauchbare Alternative zur deutschen Vorherrschaft bietet, erreichen. Kurzum, die aktuelle Situation präsentiert sich wie ein Alptraum, dem man nur entrinnen kann, indem man Deutschland wachrüttelt und ihm die Irrtümer seiner gegenwärtigen Politik bewusst macht. Wir können hoffen, dass sich Deutschland, vor die Wahl gestellt, dafür entscheidet, wohlwollend zu führen, anstatt andernfalls Verluste zu erleiden.

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Faktencheck: Löst Geld drucken Europas Probleme?

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Dazu ein Artikel zum Nachdenken: Mitt Romney – überzeugter Vertreter des Kapitals – will Amerika retten

 

Update: Stefan Homburg empfiehlt Deutschland, aus dem Euro auszutreten 

 

 

Ein Sehnen – unstillbar brennend, tief wie das Meer – der lange Weg zur weisen Frau

Bis fast zur Brust stand sie im smaragdgrünen Meer, dessen sanfte Wellen mit den Spitzen ihrer langen hellen Haare spielten. Sie blickte unverwandt gen Westen, als könne sie hinter dem tiefblauen Horizont Yucatan sehen. Die tief stehende Sonne zauberte goldene Reflexe auf ihre schlohweißen Locken – fast als seien sie wieder hellblond. Ihr zarter Körper, fast kindlich mit seinen 45 Kilo Gewicht, war tief gebräunt und trotz ihrer Größe von grade mal 1,58 keineswegs zerbrechlich. Harmonisch wiegte er sich in den Wellen.

Ich konnte nicht anders, ich bewegte mich auf sie zu.

„Oh“ lächelte sie, als sie mich bemerkte. „Ich bin Leila. Danke, dass du gekommen bist. „Ich hatte darum gebeten, mir einen Menschen zu schicken, dem ich meine Geschichte erzählen kann.“

Erstaunt betrachtete ich ihr Gesicht: Noch nie hatte ich bei einer Frau solch buschige hellblonde Augenbrauen gesehen – unter ihnen tiefblaue Augen, aus denen gleichmäßig ein zarter Strom von Tränen floss. Auch das Lächeln unterbrach diesen Fluss nicht – als bestehe sie aus zwei verschiedenen Menschen. Ihre Augen schienen sich nach innen zu richten, als sie mich von Kopf bis Fuß musterte: Leila ist voll Aura-sichtig. Offenbar ergab die Prüfung, dass sie mir ihre Geschichte zumuten konnte. Während wir zusammen im Wasser standen und die wenigen Paare am karibischen Strand beobachteten, begann sie zu sprechen.

Hoch sensibel und auf der Suche

Im Juni 1959 wird Leila geboren, in einem kleinen Ort an der Ostsee, unweit von Rostock. Sie ist eine Nachzüglerin: Der Bruder und ihre beiden Schwestern sind sehr viel älter als sie. Vater Bernd ist promovierter Biologe und Leiter einer Versuchsanstalt – er hat ihr die blauen Augen und die buschigen Brauen vererbt. Mutter Ilse ist gelernte Textilverkäuferin. Schon als kleines Mädchen leidet Leila an ihrer hohen Sensitivität: Sie spürt das schmerzvolle Ringen ihrer Eltern um gegenseitige Nähe, das doch nie zum Erfolg führt.

Ihre Mutter, von Natur aus vorsichtig, fast furchtsam, liebt Überraschungen nicht, achtet darauf, dass sich das Leben der Familie in geregelten Abläufen bewegt. Ihre eigenwillige Tochter betrachtet sie in einer Mischung aus Unverständnis und Misstrauen. Bei ihrem Mann sucht sie Schutz und Geborgenheit, fühlt sich oft zurückgewiesen, wenn Bernd unterwegs ist oder über Studien brütet, statt ihre Ängste zu teilen. Erst Jahre nach Kriegsende ist er aus russischer Gefangenschaft zurück gekehrt. Diese Zeit der Unsicherheit, allein mit dem Kleinkindern, war die schlimmste in ihrem Leben.

Mit ihrem Vater hat Leila eine tiefe innere Verbindung, die an Telepathie grenzt. Sie liebt seinen grenzenlos weiten Geist, vollzieht seine Wandlung zum Vegetarier mit, bewundert seine Bereitschaft, immer neu zu lernen. Und sie weint oft, fühlt sich von ihm im Stich gelassen, denn der Vater blockiert die Verbindung zu ihr, so gut er kann. Schmusen ist nicht erlaubt – Gespräche enden, sobald sie zu tief gehen.

Früh auf eigenen Füßen

Als der Vater in den Ruhestand geht, zieht die Familie nach Westen in die kleine Kurstadt, wo seine Schwester ihm ein Haus hinterlassen hat. Leila macht Abitur und geht nach München, wo sie eine Ausbildung zur medizinischen Masseurin beginnt. Die Arbeit im Krankenhaus strengt sie an – intensiv nimmt sie sie die Schmerzen der Kranken, die Ausdünstungen der Medikamente und Desinfektionsmittel, den Zeitdruck der Ärzte wahr. Hier wird die Idee geboren, die ihr Berufsleben beherrschen wird: Es muss doch möglich sein, Menschen zu heilen, ohne chemisch auf ihren Organismus einzuwirken. Heilen, indem körperliches und seelisches Gleichgewicht wieder hergestellt wird.

Sie macht eine Zusatz-Ausbildung in ayurvedischer Massage und lernt in der Gruppe faszinierende junge Menschen kennen. Sie reist mit ihnen nach Indien, um den Vorträgen eines Gurus zu lauschen. Bald stellt Leila ihr Leben auf einen neuen Rhythmus um: Sie arbeitet jeweils ein halbes Jahr in Krankenhaus und spart ihr Geld, um dann für ein halbes Jahr in Indien bei den Jüngern des Gurus zu leben. Tief nimmt sie die hinduistische Lehre vom Rad des Samsara in sich auf. Sie begreift das Gesetz von Ursache und Wirkung, auch Karma genannt, und erkennt, dass das Göttliche in allen Dingen lebt. Oft denkt sie an den Vater daheim und führt innere Gespräche mit ihm.

Als der Blitz sie trifft

Die junge Frau ist ausgesprochen attraktiv, immer bemühen sich meist mehrere Männer gleichzeitig um sie. Sie sieht es gelassen, greift hier und da zu, hält aber innerlich Distanz. Bis sie in München der Blitz trifft: Er heißt Günther, ist klein, sehr schlank und 35 Jahre älter als sie. Rein weiß seine Haare, sengend braun-grün sind seine Augen und sanft ist seine Stimme, wenn er ironisch die Geschehnisse seines Alltags kommentiert. Irgendwie rein ist er, unverbraucht begeisterungs- und liebesfähig – und verheiratet. Leila wird die dritte Frau in seinem Leben und die letzte sein.

Sie lieben sich wie Ertrinkende, liegen stundenlang ineinander, kommen ekstatisch an ihre physischen Grenzen und Leila will seine Augen, die im Orgasmus wie grüne Flammen brennen, nie wieder loslassen. Aber zur Scheidung ist Günther nicht bereit: „Meine Frau ist wie ein Vögelchen“, weint er. „Sie würde sterben, wenn ich gehe. Ich selbst würde sterben, wenn du irgendwann gehst. Und gehen wirst du, denn der Altersunterschied zwischen uns ist einfach zu groß.“

Der Schmerz trifft sie unerwartet und mit voller Wucht. Eine Trennlinie – nicht überwindbar, bestimmt ihr Leben. Sie weint – stundenlang, tagelang. Unvermittelt auf offener Straße, stundenlang in Kirchen. Das Weinen mindert den Schmerz nicht; es weckt im Gegenteil den verzweifelten Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Manchmal, wenn sie nach langen Stunden im Hotel mit dem Geliebten in einem Straßencafé sitzt, bemerkt sie etwas ätherisches, fast durchsichtiges in seiner Erscheinung – gepaart mit schmerzvoller Hingabe an dieses wahnsinnige Miteinander, das sie nun fast fünf Jahre verbindet.

Der Wunsch zu sterben

„Du bist für mich der Traum von Jugend – mein letzter Traum“, sagt er einmal – und sie wünscht sich aus tiefstem Herzen, mit ihm zusammen aus dieser Welt zu gehen. Schließlich inszeniert sie die Trennung – er soll nicht sehen, dass sie an dieser Liebe zu sterben droht.

Sie entschließt sich, Psychologie zu studieren, macht ihr Diplom und findet einen Arbeitsplatz in einer Gemeinschaftspraxis. Beziehungsberatung wird zu ihrem Spezialgebiet. Daneben reist sie viel. Von Männern hält sie sich fern – zu tief fühlt sie sich verletzt. Fünf Jahre später, auf dem Rückweg von Kaschmir, sitzt er neben ihr im Flugzeug: Hans-Georg ist Chirurg und in der Entwicklungshilfe tätig. Er ist stämmig, haarig und hat stechende blaue Augen unter buschigen, rötlichen Brauen. Sehr schnell ist er bei seinem Lieblingsthema: „Willst du führen oder geführt werden? Eine dritte Wahl gibt es nicht.“

Manipulativer Geist

Durch die jugendlich-klare Stimme des 50jährigen hindurch spürt sie eine starke manipulative Kraft. Er sitzt neben ihr wie ein Fels – drall, kraftvoll, mit mächtigem, klarem Geist. Fast übermächtig wird ihr Wunsch, beschützt und geführt zu werden. Sie hört ihm zu, verteidigt vehement das Entwicklungspotential gleichberechtigter Partnerschaften und ist doch schon bereit, ihre eigene Gleichberechtigung aufzugeben.

Es wird ein spannendes Jahr mit Hans-Georg – und ein tränenreiches. Nur langsam erkennt sie, wie manipulativ sein Wesen wirklich ist. Nach einer Zeit des Werbens, in der sie in der Praxis ebenso wie zuhause in langstieligen roten Rosen geradezu ertrank, waren sie, wann immer sie Zeit hatten, in schnellen, teuren Wagen durch Europa gefahren, hatten mit Hilfe einer Spendenaktion ein Krankenhaus in Indien gebaut, hatten sich gegenseitig ihr Leben erzählt. Sie hat erkannt, woran Hans-Georg krankt: Als ältester von drei Brüdern hatte der Sohn eines schmächtigen, freundlichen Pfarrers miterleben müssen, wie der Vater von einer übermächtigen, schwergewichtigen Ehefrau drangsaliert und erpresst wurde. Erst nach Eintritt in den Ruhestand wagte der Vater die Scheidung – da hatte Hans-Georg schon längst für sich geklärt: Frauen kann man nur in Schach halten, wenn man stärker ist als sie.

Er tut das konsequent über ständige Parallelbeziehungen. Leila muss lernen, dass es eine deutsche Frau in seinem Leben gibt, mit der er zwar nicht verheiratet ist, aber einen elternlosen Jungen adoptiert und ein Haus in den Bergen gekauft hat. Sie stellt fest, dass er Affairen mit den Ehefrauen befreundeter Ärzte beginnt, sie nach Lust und Laune fortsetzt oder ersetzt – bis Leila irgendwann den Zugang zu ihm völlig verliert. So wie er gekommen ist, verschwindet er: Eines Tages findet sie seine Wohnung leer vor. Danach hört sie nie wieder von ihm.

Unerklärlich missbraucht

Obwohl sie Hans-Georg nicht wirklich geliebt hat, trifft sein Verhalten sie tief. Sie fühlt sich unerklärlich missbraucht, fällt in eine quälende innere Taubheit und Verlangsamung, aus der sie sich kaum zu befreien weiß. Schließlich unternimmt sie eine Reise durch Yucatan, um neue Kraft zu sammeln. Dort tritt sie auf die Schamanin, die für die nächsten 13 Jahre ihre Lehrerin sein wird.

Endlich findet sie Hilfe beim Umgang mit ihrer hohen Sensitivität, lernt, sie zu nutzen und bei Bedarf auch zu bremsen, um innere Verletzung zu verringern. In Riesen-Schritten scheint sie zu genesen: Verlorene Seelenanteile können re-integriert werden, sie findet Kontakt zu ihren Geist-Führern und von einem Tag auf den anderen explodiert eine volle Aura-Sichtigkeit in ihr. „Es war unbeschreiblich. Ich sah die farbigen Lichter um die Pflanzen, Tiere und Menschen tanzen, sie teilten sich mir intensiv und deutlich mit – ich war völlig überwältigt und musste erst lernen, mit dieser neuen Dimension überhaupt umzugehen“, lächelt sie.

Ein kleines Stück Frieden

Sie macht Frieden mit sich selbst, besucht auch wieder ihre Eltern, zu denen sie in all der Zeit kaum Kontakt hatte. Die tiefe Sehnsucht nach der vollkommenen inneren und äußeren Seelenverbindung scheint nachzulassen, sie fühlt sich ruhig und ausgeglichen.

Gert ist Kameramann bei einem privaten Fernsehsender, als sie ihn kennenlernt. Er ist ruhig, freundlich, sehr groß – und er wünscht sich Kinder. Leila fühlt sich bereit dafür, möchte eine freundlich-friedliche Ehe führen, ihr Wissen an ihre Kinder weiter geben und den Schmerz ein für allemal hinter sich lassen. Mittlerweile läuft ihre Praxis extrem gut. Es gibt lange Wartelisten, sie behandelt ausschließlich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: Aura lesen, schamanische Heilweisen, ayurvedische Massagen. Sie hat enormen Erfolg.

So ist es kein Drama, als Gert seine Arbeit verliert. Er kümmert sich um die beiden Töchter, wenn Leila in der Praxis ist und macht parallel eine Ausbildung zum Heilpraktiker. Leila weiht ihn dazu in alles ein, was sie selbst verinnerlicht hat. Das Leben scheint es gut mit ihnen allen zu meinen. Dass der Wolf, ihr Krafttier, sich bisweilen leise grollend von ihr abwendet, ignoriert sie lange.

Rückkehr zu den Eltern

Die Eltern werden älter, Leila und ihre Geschwister diskutieren die Pflege der Mutter, die vielleicht bald auf die Familie zukommen wird. Leila denkt lange nach. Dann zieht ihre kleine Familie von München zurück in die Provinz. Mit blutendem Herzen – „aber da war eine unüberhörbare innere Stimme, die ein Ausweichen nicht erlaubte.“

Der Schulwechsel der Mädchen vollzieht sich problemlos – der Praxiswechsel nicht. Jede Woche fährt Leila zwei Tage nach München; sie muss die Familie ernähren. Gert kümmert sich um die Eltern, kümmert sich um die Töchter, kümmert sich um den Haushalt. Er beginnt, Brot zu backen, Kräuter zu sammeln, ist der perfekte Hausmann. Als Heilpraktiker bleibt er unsicher, macht keine ernsthaften Versuche, sich eine solide Existenz zu schaffen. Von seinem erlernten Beruf hat er nie wieder gesprochen.

Zwischen den Eheleuten wird es still. Oft schaut Leila ihren Mann an und fragt sich, ob ihre Entscheidung für ihn richtig war. Beste Freunde sind sie, ja. Aber sie haben außer den Kindern nichts gemeinsam. Der Wolf in ihrem Bauch grummelt nun unüberhörbar.

Zurück in der Sehnsucht

Sie beschließt, eine Ausbildung als Tantra-Lehrerin zu machen. In München natürlich. Und da wird es wieder ganz klar: Sie will Liebe leben. Geistig. Seelisch. Auch körperlich. Aber nicht mehr mit Gert.

Es schmerzt.

Nicht weil sie der Wahrheit nun endlich ins Gesicht sieht.

Nein, es schmerzt, weil sie nicht sieht, mit wem sie so eine Liebe teilen könnte.

Leila nimmt Zuflucht zum Internet. Sie, die eigentlich jede Form von Technik ablehnt, flieht nun abends das eheliche Lager und sucht sich freundlich-entspannende Gespräche in Facebook. In der Nacht nach der Beerdigung ihrer Schwiegermutter stolpert sie über den Eintrag eines bisher Unbekannten, der offenbar hellwach ist und gerade intensiv über Leben und Tod nachzudenken scheint. Es entspinnt sich ein lustvolles Streitgespräch, in dessen Anschluss sie erstmals seit Wochen wieder ruhig schläft. Am Morgen findet sie im Mail-Briefkasten seine Nachricht: „Folge mir in meine Welt“.

„Vergiss nie, mich zu sehen“

Es ist wie ein Dammbruch. All die Sehnsucht, die sie nicht mehr zu spüren, ja nicht mehr zu haben schien, bricht hervor wie ein Sturzbach. Sie hört die warnende Stimme in ihrem Inneren wohl – aber sie hat sich schon entschlossen: Ja, Leila will folgen. Er besteht darauf zu führen – sie freut sich darüber. „Ich werde mich unterordnen, sagt sie. Aber nur, wenn du nie vergisst, mich zu sehen…“

Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Stuttgart – viel unterwegs, ein Verkaufsgenie und ein Meister der Manipulation. Gewöhnt zu befehlen und Recht zu haben, findet er ihren Widerspruch attraktiv – solange sie seine No Goes nicht berührt. Mit großem Vergnügen chatten sie von nun an täglich – manchmal bis tief in die Nacht hinein. Sie genießt seinen kreativen Geist, seine Fähigkeit vernetzt zu denken, bewundert seine Kraft, wenn er neue Projekte praktisch über Nacht aus dem Boden stampft – freut sich wie ein Kind, wenn er ihr eigenes Engagement wahrnimmt und, was selten vorkommt, sogar ein knappes Wort des Lobes spricht.

Sie schickt ihm viele Bilder: von ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihren Töchtern. Er schickt ein einziges: Es zeigt ihn deutlich jünger als heute. Er wirkt eitel – ein Schönling – ganz anders als der Tenor seiner Gespräche. Deshalb bezweifelt sie die Echtheit des Fotos und bittet um weitere, beißt jedoch auf Granit. „Wenn wir uns mal auf einen Kaffee treffen, darfst du mich fotografieren,“ pflegt er dann zu lächeln. „Glaub mir, es ist besser so“.

Mann ohne Gesicht

Erst ist es nicht so wichtig. Neben ihren vielen Gesprächen haben sie mit gemeinsamen Aktivitäten begonnen: Sie schreiben einen Blog über den männlichen und den weiblichen Weg des spirituellen Erwachens, tauschen sich mit ihren Lesern über alternative Heilmethoden aus, streiten vergnüglich über Placebo-Effekte.

Aber es rumort in ihr, dass Peter sein Gesicht nicht zeigt. Er ist nur knapp drei Autostunden von ihr entfernt – wieso haben sie sich immer noch nicht auf einen Kaffee getroffen? Was will dieser Mann verstecken? Oder: Wovor hat er Angst?

Als sie zu insistieren beginnt, verändert sich sein Ton, wird rauh, manchmal gemein. Einmal unterstellt er ihr gar, sie wolle von seinem Wohlstand profitieren und hat damit eine wichtige Grenze überschritten. Sie reagiert ernüchtert, fühlt sich als Opfer seiner Manipulation und persönlich gekränkt durch seine Hinhaltetaktik. Als das zweite Jahr ihrer Bekanntschaft fast voll ist, beginnt sie, seine Identität ernsthaft zu überprüfen und stößt auf einen Bruch. Aus der Zeit vor dieser Bruchstelle ist selbst bei größtem Rechercheaufwand kein Krümmel Information aufzutun. Sie setzt sich in den Wagen, fährt nach Stuttgart und findet an der angegebenen Adresse nicht einmal seinen Namen auf einem Türschild.

Und wieder nur Schmerz

Als sie ihn mit dem Ergebnis ihrer Suche konfrontiert, reagiert er wie ein Raubtier, das mit dem Rücken zur Wand steht und greift ohne Vorwarnung an. Abrupt enden zwei Jahre scheinbarer großer Vertrautheit im Niemandsland gegenseitiger Ignorierung. Leila denkt an Günther und diese unüberwindbare Grenze. Der Schmerz ist wieder da und will sie schier auffressen. Die Beziehung zu Peter wäre lebbar – und eine Chance gewesen, die Erfüllung zu finden, die sie so sehnlich sucht. Sie zieht sich zurück. Will keinen Kontakt mehr mit Männern. In ihrem Tagebuch führt sie den Dialog mit Peter weiter: manchmal wütend, manchmal verzweifelt, immer wieder stundenlang weinend. Vergeblich wartet sie darauf, dass er sich nochmal meldet.

Wenig später ist Mutter Ilse vollständig bettlägrig. Gert kümmert sich rührend – zwischen den beiden scheint es ein enges, unausgesprochenes Band zu geben. Leila hat wieder Verbindung zu ihrem Vater gefunden. Inzwischen 95jährig, noch immer geistig wie körperlich außerordentlich beweglich, nähert er sich ihr endlich als fürsorglicher Gesprächspartner, den sie so lange vergeblich in ihm gesucht hat. Die beiden teilen ihre Leidenschaften und Ideale, Leila erkennt, wie ähnlich sie sich sind. Das jahrzehntelange Unverständnis für die Haltung der Mutter ist nach den Erfahrungen ihres eigenen Frauenlebens einem freundlichen, fast schwesterlichen Gefühl gewichen.

Leuchtend braune Augen

Zu dieser Zeit findet ein neuer Patient in die inzwischen gut gehende Praxis: Dieter ist in großer Seelennot. Seine zweite Frau ist erst vor recht kurzer Zeit an Krebs gestorben, er steht vor der Wiederverheiratung und hat mit Schrecken erkannt, dass die bereits terminierte Eheschließung nicht mehr als eine Flucht vor dem unverarbeiteten Tod seiner großen Liebe ist.

Das erste, was sie an ihm wahrnimmt, sind leuchtend braune, große Augen. Ihr Strahlen lässt sie erglühen; die schwarzen Locken, die in seine Stirn fallen, erwecken zärtliche Wünsche, sie zur Seite zu streicheln…

Er kommt oft. Die Gespräche tun ihm gut. Sie wendet das ganze Spektrum ihrer Fähigkeiten an; holt verlorene Seelenanteile zurück, ermutigt ihn, auf sein Herz zu hören, meditiert mit ihm, massiert ihn. Sie ist froh, dass er nicht sieht, wie sie erschauert, als sie zum ersten Mal die nackte Haut seines Rückens berührt. Sie labt sich an den kräftigen, männlich-dominanten Farben seiner Aura und wagt es kaum zu glauben, dass von Mal zu Mal wundervolle, pastell leuchtende Blitze, später Flächen erscheinen, wenn ihre Augen sich treffen. Er hat sich verliebt. Genau wie sie.

Noch einmal 16 Jahre alt

Was nun?

Sie fühlt sich, als sei sie noch einmal 16. Ihre hellblonden Haare leuchten wie seit Jahren nicht mehr, ihre Haut ist rosig, ihre Augen von tiefblauer Strahlkraft. Zuhause hält sie es kaum noch aus. Sie beschließt, den Zug nach Usedom zu nehmen und sich am Meer zu sammeln.

Im Zug sitzt Dieter.

Er ist unterwegs nach Hamburg. Sein Platz ist im Nachbarabteil.

Schicksal?

Ein halbes Jahr später ist es entschieden. Gert, von den Wogen der Ereignisse völlig überrollt, ist in eine eigene Wohnung gezogen und Dieter hat seinen Platz eingenommen.

Das heißt: Wenn er da ist.

Nach wie vor unterhält er eine Wohnung mit Büro in Hamburg, wo er einen zahlungskräftigen Kundenstamm aufgebaut hat.

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte.. „

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte – ich würde mir eine wahnsinnige Liebe wünschen, die mich packt wie der Wind eine einzige Feder und auf und davon wirbelt.

Eine unfassbare Liebe, die mich gleichzeitig zum Weinen, Lachen, Schreien bringt und mir keine Wahl lässt, als hemmungslos frei und glücklich und außer Rand und Band zu sein. Eine, die mich ungeniert aus dem Kopf katapultiert – hoch hinaus in ein Empfinden, das sich selbst nicht fassen kann.

So eine Liebe, die verrückt und süchtig macht und die ganze Welt lachend in die Tasche steckt wie eine Murmel. So eine, die Gefühle weckt, die nicht einmal ahnen, dass es sie gibt.“

Leila liest nicht oft Gedichte. Aber dieses von Hans Kruppa hat es ihr angetan. Genau das wünscht sie sich, genau so empfindet sie nun für Dieter.

Welche Schmerzen das bedeuten kann, lernt sie schnell. Leila verfällt Dieter in einem Maß, dass sie sich fühlt, als ziehe der Sturm des Jahrhunderts über sie hinweg – und ihr eigenes Leben an der Klippe zum Abgrund hat kaum mehr als einen Grashalm, um sich fest zu klammern.

Angst frisst Liebe

Dieter erträgt zuviel Nähe nicht.

Immer wieder flieht er, um dann zurück zu kehren und sie im Sturm von Leidenschaft zu nehmen, all ihre Liebe und Kraft zu nehmen, bis beide völlig erschöpft sind. Sie gibt sich hin – immer ein Stück mehr – aber die Angst wird jedes Mal größer, statt kleiner. Weil sie Angst hat, wird sie nicht satt – weil sie nicht satt wird, wächst ihre Angst.

Wieso läuft Dieter immer weg? Liebt er sie nicht genauso wie sie ihn? Nie im Leben hat sie eine derart starke innere wie körperliche Verbindung erlebt. Sie scheinen spirituell auf der selben Ebene zu wachsen, können sich in einer Dimension verständigen, in der sie bisher niemals – auch nicht mit Vater Bernd, Austausch pflegen konnte. Und wenn sie körperlich verschmelzen, erscheint es ihr so vollkommen, dass ihrer beider Auflösung in Gott nur eine Haaresbreite entfernt ist.

Wenn nur nicht jeder dieser Höhepunkte unweigerlich von der Flucht Dieters gefolgt wäre. Auch ihre Hochzeit ändert daran nichts. Es macht sie entsetzlich unsicher, verursacht Weinkrämpfe. Einmal fällt sie in Ohnmacht, wacht stundenlang nicht auf und findet sich im Krankenhaus wieder. Ein anderes Mal stürzt sie, bricht sich den Arm und wird monatelang nicht mehr richtig gesund.

Erkennen der Sucht

Sie vernachlässigt die wenigen Freunde, ist gebunden in der Pflege ihrer Mutter, in hauswirtschaftlichen Pflichten, weint, ringt um ihr Gleichgewicht. Sie trommelt ihre Not ins Werkzeug der Schamanen, befragt ihre Geistführer; erkennt, dass sie süchtig ist.

Dieter sieht ihre Not und versucht ihr zu helfen. Er verlagert sein Büro von Hamburg in die kleine Kurstadt am Strom, übernachtet fortan im Hotel, wenn er in Norddeutschland ist. Er beginnt, das alte Haus zu renovieren, gestaltet es vom Keller bis zum Dach nach Feng Shui-Gesichtspunkten um. Sie kaufen kräftige Farben und Stoffe, minimieren die Einrichtung, gestalten ihre Arbeitsräume neu. Leila weint, als er im Garten die Pflanzen ausreißt, um neue zu pflanzen. Aber sie ist glücklich, dass er nun viel in ihrer Nähe ist – bewacht seine Schritte ängstlich und eifersüchtig. Und sieht die pastellfarbenen Flächen in seiner Aura schwinden, bis sie schließlich nur noch phasenweise kurz aufblitzen.

Die Angst, ihn zu verlieren – nein, gar nicht wirklich Zugang zu ihm zu haben – bestimmt mittlerweile ihr ganzes Leben.

Tod des Vaters

99jährig stürzt Bernd mit dem Rad und zieht sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Der Knochen heilt wieder, aber der Vater nimmt seitdem unmerklich jeden Tag ein Stück mehr Abschied vom Leben. Dieter bewundert den alten Mann, hat eine starke Bindung zu ihm. Ungewohnt sanft und feinfühlig begleitet er den Sterbeprozess, der sich über mehr als ein Jahr hin zieht.

In den Wochen, in denen der Vater endgültig dem Verlassen seines Körpers entgegen dämmert, wird Leilas langes, welliges Haar vollständig weiß.

Es ist, als ob eine stützende Kraft, derer sie sich lebenslang sicher sein konnte, sie nun endgültig verlässt.

Sie sieht sich selbst ganz ungeschminkt: Die Selbstsicherheit der weisen Frau, die sie in der Praxis bei den Patienten noch aufrecht hält, ist in ihrem Alltag verschwunden. Mit Erstaunen beobachtet sie sich, wie sie ängstlich, manchmal weinend, manchmal zänkisch, gespickt mit Vorwürfen und ziemlich würdelos versucht, Dieter an sich zu binden. Und Dieter flieht. Immer weiter weg, über immer längere Zeiträume.

Vor sechs Monaten nun hat er sich eine Wohnung genommen – in Rostock. Ausgerechnet an der Ostsee, die all die Jahre ihre einzige Zuflucht war.

Und wieder nur Tränen

Nun steht sie hier, im karibischen Meer. Der salzige Strom der Tränen verbindet sich mit dem Wasser, in dessen sanfte Wellen gerade ein riesiger, roter Feuerball eintaucht. „Ich bin jetzt viel allein. Meine älteste Tochter hat letztes Jahr Abitur gemacht und wohnt nicht mehr zuhause, die jüngere ist jetzt in der 12. Wenn Dieter und ich uns sehen, treffen wir mit großer Leidenschaft aufeinander,“ sagt sie versonnen. „Aber das, was es so wunderbar machte, diese vielen kleinen Zärtlichkeiten, diese ganz besondere Aufmerksamkeit für den Anderen, ist völlig verschwunden. Seine Aura leuchtet nicht mehr. Als ich ihn vor zwei Wochen in Rostock besucht habe und wir durch die Stadt gingen, habe ich Paare gesehen, die so liebevoll miteinander umgingen wie wir früher auch. Da habe ich mitten auf der Straße geweint; geweint, als ob ich sterben muss.“

Nein, sie wird ihn nicht bitten, zurück zu kommen – zumal das völlig sinnlos wäre. Und sie weiß, dass die räumliche Entfernung auch die innere Entfernung wachsen lassen wird. Die buschigen blonden Brauen ziehen sich schmerzhaft zusammen.

Der Weg der weisen Frau

„Es ist der Weg der weisen Frau. Ich habe ihn zu lange vernachlässigt. Meine Aufgabe ist jetzt, noch einmal von vorn anzufangen. Ich muss loslassen, was mich zerstört und endlich wieder finden, was mich selbst ausmacht. Mich selbst und den göttlichen Anteil in mir.“

Noch einmal einen anderen Mann suchen? Nein, das wird sie nicht. Mit ihren jetzt 53 Jahren hat sie im Leben nichts verpasst. Eine größere Liebe als die zu Dieter wird es für sie nicht mehr geben, da ist sie sich ganz sicher. „Er ist der Mann meines Lebens – ob er nun zu mir zurück findet oder nicht.“

Der Feuerball ist im Meer versunken, ein grandioses Abendrot überzieht den Himmel über uns. Noch immer liegt die Hitze des Tages samtig im Hauch des Abendwindes, der uns streichelt, als wir zu unseren Handtüchern streben.

„Danke dass du mir zugehört hast.“ Die blauen Augen sehen mich erstmals seit Stunden an, ohne dass deshalb der Tränenfluss versiegt. „Du hast mir geholfen, mich dem Schmerz zu stellen und meinem Lebensthema ins Gesicht zu sehen. Ich weiß nicht, ob diese brennende Sehn-Sucht heilbar ist oder ob Dieter und ich wieder zusammen finden können. Aber ich weiß, dass er meine große Liebe ist – und bleiben wird.“

Als wir uns trennen, ist mein Herz bleischwer.

Ich bleibe am Strand zurück, bis das Dunkel endgültig den Tag besiegt hat und wünsche mir, eins mit dem Meer zu sein. Aber auch da gibt es eine Trennlinie, die einfach unüberwindbar scheint.

 

Siehe auch: „Der Mann meines Lebens ist Narzisst – was bitte bin dann ICH?

Und: Erlösung durch Liebe ist von außen unmöglich.

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