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Eine Nacht im Maya-Temazcal: Im Schutz des Jaguars loslassen, was krank macht

Der Traum:

Sie hat die Baumzone schon wieder erreicht und durchquert einen Fichtenwald. Als sie eine steil abfallende mit Gras bewachsene Lichtung erreicht, spürt sie die Gefahr und dreht sich um: Ein ganzes Rudel Jaguare ist ihr auf den Fersen.

Seltsam: Jaguare sind doch Einzelgänger, schießt ihr durch den Kopf, als sie zu laufen beginnt und im selben Moment erkennt: Sie hat keine Chance. Ihr Herz rast,  jeder Atemzug bereitet stechende Schmerzen. Sie rutscht, und während sie fällt, wird ihr klar: Jetzt ist es aus. Sie rollt sich zusammen, erwartet den tödlichen Biss im Genick und hofft, dass es schnell gehen wird.

Während die übrigen Katzen sie überholen, ohne überhaupt Notiz von ihr zu nehmen, löst sich ein großer Kater aus der Gruppe und nähert sich ihr. Doch statt sie anzugreifen streckt er sich neben ihr aus, und sie bemerkt erstaunt, dass er die gleiche Körperlänge hat wie sie selbst. Fast zärtlich neigt das muskulöse Tier sein Kinn zu ihrem Kopf. Sie spürt weiches Fell und Schnauzhaare. Eine Welle der Liebe durchströmt sie – und sie erwacht.

Vier Monate später im Südosten der Halbinsel Yucatan:

Es hat den ganzen Tag wie aus Kübeln geregnet, der sandig-sumpfige Boden konnte das viele Wasser gar nicht mehr aufnehmen. Das Meer unter den schwarzen Wolken ist warm wie immer, aber dunkelgrau; die Brandung an der Riffkante ist höher als sonst, und dahinter tragen alle Wellen kleine Schaumkronen, während die Sonne hinter den sich im Wind biegenden Palmen blässlich verschwindet.

Ganz unspektakulär biegt ein sandiger Pfad von der vierspurigen Schnellstraße nach Süden ab. Langsam arbeitet sich der Yeep durch tiefe, voll Wasser stehende Schlaglöcher immer weiter in den Wald hinein. Sumpfige Mangrovenwildnis wechselt sich ab mit nur um Zentimeter höher liegenden Plateaus, auf denen niedrige Laubbäume. Büsche und Fächerpalmen wachsen. Nach wenigen Kilometern trifft die kleine Gruppe auf die ersten flachen Häuser. Noch eine Weile später steht die Handvoll Suchender im Zentrum des Dorfes. Geschützt vor dem bunten Treiben der touristisch ausgebauten Küste und nahe der alten Ruinenstadt Tulum wohnt hier eine Maya-Gemeinschaft.

Norma heißt die freundliche Frau mittleren Alters, die der Gemeinde vorsteht. Sie und eine weitere Frau begrüßen alle mit einem Glas gekühlten süßen Hibiskus-Tees. Schwere,  feuchte Luft steht über dem Gelände, das fast in völliger Dunkelheit liegt. Nur einige Fackeln weisen den Weg. Die Besucher lernen die Grundnahrungsmittel der Maya kennen: Das wichtigste, wie überhaupt in ganz Mexiko, ist nach wie vor der Mais. Später wird es Hühnchen, Bohnenbrei, Chili-Soße und Mais-Tortillas geben. Und natürlich Hibiskus-Tee.

Auch der Ritualplatz ist nur von Fackeln beleuchtet. Fotografieren während der Zeremonie ist verboten – Ablenkung nicht erwünscht.  Um ein Heilungsritual im Temazcal, der traditionellen Schwitzhütte durchzuführen, hat sich die Gruppe zusammengefunden. Alle wollen negative Energien loslassen, Seelen und Körper ins Gleichgewicht bringen. Fred, der Maya-Schamane, will dabei helfen.

Obwohl nur wenige Meter von den Hütten entfernt, umfangen sie vielfältige Stimmen des Urwalds:  Fast brüllend das Surren der Insekten, leise klappernd die Palmwedel, raschelnde Büsche. Dazwischen piepende, kreischende, pfeifende Tierstimmen, manche für Europäer nicht zuzuordnen. Auf einer niedrigen Mauer liegt eine Sammlung riesiger weißer Häuser der großen Fechterschnecke, einer in der ganzen Karibik heimischen Meeresschnecke. Sie sind mit einem Loch präpariert, damit man mit ihnen Töne erzeugen kann. Etwas Üben ist angesagt, die Musik wird im Verlauf des Abends gebraucht.

Handy, Fotoapparat, Rucksack & Co bleiben zurück, während sich acht Klarheit suchende Menschen vor  dem Altar sammeln. Gebaut aus Kalkstein, der auch den Untergrund  Yukatans bildet, ist der Altar geschmückt mit weiteren Conca-Häusern. Rasseln, ein Büschel Blattwerk, eine große Räucherschale und allerlei weitere Utensilien liegen bereit. Im Rücken knistert das  Feuer, in dem seit Stunden Steine zum Glühen gebracht werden. Fred, der in Weiß gekleidete Schamane, bedeutet seinem Assistenten, jedem eine halbe Kokosschale Balché zu reichen. Das heilige Getränk der Maya wird aus der Rinde des gleichnamigen Baumes gewonnen und mit Honig gesüßt

Fast nackt stehen sie nun in der vielstimmigen Nacht, lauschen dem Tönen des Schamanen auf dem Muschel-Instrument und lassen sich hineinführen in eine Reise des Loslassens und nach vorn Blickens.

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„Alles ist mit allem verbunden,“ sagt Fred, „deshalb hat jedes Handeln überall eine Wirkung – auch wenn man sie nicht gleich bemerkt.“ Dass die Menschen Gäste sind auf Mutter Erde, erinnert er. Wenn sie diese pfleglich behandeln, pflegen sie sich damit selbst. Der reinigende Rauch von Copal dringt in die Nasen, verteilt durch Fred mit einem Blätterbündel des heiligen Baumes. Langsamen Schrittes geht es zu einem weiten Kreis mit vier Öffnungen zu den vier Himmelsrichtungen.

Nur die Glut des Feuers erhellt die Szenerie: Alle gemeinsam tönen auf den Schneckenhäusern, umrunden den Platz, rufen die Geister der vier Himmelsrichtungen an, ihnen wohl gesonnen zu sein. Erst dann dürfen sie das Innere des Kreises betreten:

Nacheinander – die Frauen zuerst – stehen sie vor dem hageren Medizinmann, der jeden Einzelnen ruhig betrachtet,  dann mit seinem Blätterbündel negative Energien aus dem Körper streicht und klopft. Sanfte Klopfer auf Kopf und Herz, Ausstreichen der Belastungen über die Extremitäten. Das Herz der Träumerin scheint besonders belastet. Es wird wiederholt beklopft, das Bündel danach ausgeschlagen. Sie selbst fühlt sich danach tief berührt und erleichtert. Die Blätter werden im Feuer verbrannt.

Sehr still, jetzt auch ohne Schuhe, nehmen alle schließlich  im Innern des Kreises am Feuer Platz. „Frieden wird möglich, wenn wir keine Energie mehr auf das verwenden, das uns krank macht,“ sagt Fred. „Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen es nicht vergessen. Aber wir können es ziehen lassen. Denkt an euer Leben, an das eurer Familie, eures Freundeskreises, eures Landes, der ganzen Erde: Lasst los, was schädlich ist, dankt für das Gute, das euch widerfahren ist und sendet gute Wünsche für die Zukunft in den Raum.“

Alle bekommen ein Stück Copal, das Harz Mittel- und Südamerikas, mit dem negative Energien in Rauch aufgelöst werden. Sie sollen es besprechen mit dem, was sie  loslassen wollen und dann verbrennen.

In ihrem Herzen beginnt ein Reißen, das sich in den ganzen Körper fortsetzt – so schneidend schmerzhaft, dass ihr aus dem Nichts die Tränen kommen. Sie denkt an Einsätze ihres Lebens, die die Welt für sie waren, an das herrliche Gefühl, kraftvoll und unverletzlich gewesen zu sein; an Menschen, die ihr Leben waren, die sie nie mehr sehen wird.  So gern sie loslassen will, so wenig gelingt es. In der Welle der Trauer möchte sie  schier sterben: Sie kann nicht leben, was sie liebt.

Schon lange haben die Anderen ihr Stück Harz ins Feuer geworfen, als sie immer noch davor steht. Bis der dunkle Schatten des Jaguars unter den Bäumen hervor und neben sie tritt. Im Fokus seines scharfen Blickes erkennt sie: Loszulassen bedeutet nicht, die Liebe aufzugeben. Etwas ziehen zu lassen, lässt frei, was nicht bleiben will  und gibt der Liebe so einen neuen Raum, sich zu erfüllen.

Loszulassen bedeutet, darauf zu vertrauen, dass Herzenssachen sich erfüllen – und ihnen die Freiheit zu lassen, den passenden Weg selbst zu wählen.

Jetzt endlich geht es: Sie lässt die Dinge frei und behält freudig das Feuer der Liebe im Herzen. Erleichtert wirft sie das Stück Copal ins Feuer, verlässt den Kreis durch den Westausgang, um die Schwitzhütte von Osten her zu betreten. Nach ursprünglich indianischen Maßstäben handelt es sich um ein Edelmodell: Normalerweise wird der Bauch der Mutter Erde dargestellt durch ein niedriges Gerüst aus biegsamen Zweigen, abgedeckt mit Tüchern oder Lehm. Diese Schwitzhütte ist aus Kalkstein gemauert, hat die traditionelle runde Form und bietet innen den Komfort einer niedrigen Sitzbank aus Stein.

Eine Kerze brennt, bis alle ihren Platz gefunden haben. Hier, im dunklen, runden Inneren sind sie Gleiche unter Gleichen. Neben Fred, der am Eingang sitzt, stehen ein Eimer Wasser, ein neues Blätterbündel und allerlei Instrumente. Sein Assistent schiebt mit einer großen Schaufel nach und nach die glühenden Steine in die Mitte der Hütte. Die Mulde, in der sie Platz finden, stellt den Bauchnabel von Mutter Erde dar. Die Tür wird mit einer Matte verschlossen.

Sehr schnell wird es brütend heiß. Immer mehr Wasser, Balché und Kräuter landen auf den heißen Steinen. „Jetzt, wo wir den Flammen übergeben haben, was uns schädigt, wollen wir uns tief im Wasserdampf reinigen und mit Dankbarkeit aufladen,“ beginnt der Schamane mit der ersten Runde. Wir rufen unsere Ahnen an und auch die Geister, um ihnen Dank auszusprechen, wir wünschen  uns selbst Gutes , ebenso  unseren Familien und denen, die wir lieben – auch  unseren Freunden, unserem Land,  allen Völkern der Erde und Mutter Erde selbst.“

Heiß und heißer wird es in der Hütte. Stockdunkel ist es, und glühender Dampf erfüllt den Raum. Bei jedem Loslassen rasselt der Regenstab des Schamanen, nach jeder Dankesformel erfüllen laute Rufe an die Ahnen und die Geister den Raum. Rasseln und Klappern nehmen zu, Schweiß und Wasser rinnen vom Körper, Dampf dringt durch alle Poren und in die Lunge, der sanfte Duft des heiligen Trankes, der beißende des Copals – ganz langsam verlieren die Kinder der Mutter Erde ihre Körper, stehen neben ihnen, über ihnen, erkennen tiefe Zusammenhänge.

Erschöpft von der Erkenntnis am Feuer folgt sie dem Ritual, gleitet in eine sanfte Trance, fühlt, wie die zusammengerollte Katze in ihr gähnt und sich streckt, wobei ihre scharfen Krallen aus dem Pfoten treten, sich langsam erhebt…

Glühend und unerwartet trifft sie im Dunkel ein Schwall heißen Wassers.  Merkwürdig, wieder in den Körper einzutreten, als der Schamane die Zeremonie beendet. Blind vom Dampf kriechen alle ins Freie, kommen, noch etwas benommen,  wieder vor dem Altar zusammen.

Symbolisch gestorben und wiedergeboren sind sie jetzt. Deshalb werden sie auch symbolisch „getauft“ mit warmem Wasser, von der Hand des Schamanen auf den Kopf gegeben.

Das Wasser fließt ihre Stirn hinab durch’s Gesicht – und für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Aus dem Schatten des Temazcal und dem surrenden Wald taucht erneut der Jaguar auf. Sie fühlt seinen Rücken unter ihrer Handfläche. Nur schemenhaft sind die typischen dunklen Flecken unter dem schwarzen, seidigen Fell zu erkennen. Während der muskulöse Körper langsam in ihren einzieht ist ihr, als könne sie durch seine Augen sehen, fühlt sich konzentriert und voller Kraft.

In der Gelassenheit des machtvollen Herren der Wildnis präzisiert ihr Geist: Loslassen bedeutet nicht, etwas zu verlassen. Sichtweise und Verhalten sind es, die losgelassen werden wollen: Man kann das Glück nicht jagen – man sollte ihm entgegengehen.

Was zusammengehört, wird zusammenkommen. Was geht, hat seinen Auftrag erfüllt und macht Neuem Platz. Fähigkeiten sind dazu da, eingesetzt zu werden. Wie genau das geschieht, lässt sich allerdings mitunter in kein Drehbuch fassen.

Mit den Augen der großen Katze schaut sie um sich und sieht nach oben: Wie durch ein Wunder ist der Himmel wolkenfrei. Ein strahlender Vollmond liegt zwischen Milliarden von Sternen am Himmel. Ruhe und Sicherheit steigen in ihr auf.  Sie wird die Stille suchen, um ihre Kraft wieder zu fühlen.

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Eine Holztreppe führt hinab in kristallklares, leuchtendes Süßwasser des Ceynotes, das die erhitzten Körper der Wiedergeborenen seidensanft liebevoll umfängt, bis sie wieder im Gleichgewicht sind. Bis auf den Grund kann man sehen. Im Wasser setzen sich die Wurzeln der Bäume fort, die ihre Kronen gen Himmel richten. Dazwischen bewegen sich Fische, sieht man, wie sich Abzweige des Wasserloches hinter Tropfsteinen im Erdinnern verlieren.

Gibt es einen besseren Platz für Menschen als die Erde? Nein, da ist sie ganz sicher. Mutter Erde und alles, was auf ihr wohnt, zu lieben, zu ehren und zu schützen ist sichtbarer Ausdruck der Verbundenheit allen Lebens im großen Geist.

Die Lebenszeit in einem Körper ist dazu da, körperliche Erfahrungen zu machen. Nur so erleben Seelen Wachstum, Liebe, Leidenschaft, Verschmelzung ebenso wie leidvolle Getrenntheit und schmerzhaftes Vergehen – sind mal Sieger, mal Opfer, erfahren das Damoklesschwert der Zeit. Wenn die Körper vergangen sind und die Seelen heim gehen, endet die Dualität zwischen den Polen.  Milliarden Lebens-Erfahrungen all seiner Körper sind es, die die Weisheit des großen Ganzen in der Schöpfung begründen.

Audio-Beitrag: Pan-Theismus – Der große Geist wohnt überall