ARDHANARESHWARA: Das tantrische Prinzip von Shiva und Shakti

Ich habe den gleichnamigen englischsprachigen Text von Yogi Ananda Saraswathi übersetzt, weil kein anderer mir bekannter Text das tantrische Prinzip sowohl weltlich-manifest, als auch transzentent-kosmisch besser erklärt.  Der weltliche Name von Yogi Ananda Saraswathi  ist  Dr Anandan Krishnan. 

Der Hinduismus erscheint einem Neuling zunächst meist als schwer durchdringbares Kunterbunt von Göttern und Göttinnen, die in immer neuen Erscheinungsformen wiedergeboren werden und teils sehr menschliche Charakterzüge haben. Reformatoren, wie etwa Gauthama Buddha, prägten Lehren, die dieses Durcheinander zu klären und übersichtlich zu machen bestrebt sind. Dennoch lohnt sich immer ein Blick in die Jahrtausende alte Hindu-Mythologie, wenn es darum geht, ein kosmisches Prinzip und seine Darstellung im Leben genauer zu betrachten. Ich jedenfalls ziehe daraus konkrete persönliche Hilfe und innere Freiheit.

Zum Text des Yogi:

Der Hindu-Gott Shiva hat 64 festgeschriebene Erscheinungsformen.  Ardhanareeswara ist die Mann-Frau-Form, in der Parvati die linke Hälfte von Shiva darstellt. Beide tragen ihre persönlichen Zeichen. Das Konzept Ardhanareeswara ist, dass Shiva seine weiblichen Eigenschaften in sich selbst trägt. Er ist halb Mann, halb Frau.

Metaphysisch gesehen stellt das göttliche Paar die beiden essentiellen Aspekte des Einen dar: Das maskuline Prinzip des Erhaltens und Festhaltens am allumfassenden Gott und das weibliche Prinzip, das für die handelnde Kraft in der manifestierten Welt spricht; wobei das Leben selbst als kosmische Ebene betrachtet wird.

Die Geschichte Shivas erzählt, dass Gott Brahma seine Schöpfung nicht vollenden konnte, weil seine Geschöpfe nicht in der Lage waren, sich zu vervielfältigen. Also ging er in Klausur, und strenge Einkehr führte zum Erfolg: Brahma  begegnete Shiva und bat ihn um Hilfe. Shiva erschuf aus seinem eigenen Körper eine Göttin, die er Prama-Shakti nannte und manifestierte sich als halb Mann, halb Frau. Brahma wandte sich an den weiblichen Teil und klagte: „Ich konnte in meiner mentalen Schöpfung keine starken Wesen zum Leben bringen. Obwohl ich die Devas erschuf, konnten sie sich nicht vervielfältigen. Deshalb wünsche ich, starke Kreaturen über Geschlechtsverkehr zu bilden. Bevor es dich gab, oh Devi, konnte ich die endlose weibliche Spezies nicht erschaffen. Deshalb, oh Devi, erweise dich als gnädig und werde geboren als Tochter meines Sohnes Dakhsa.“

Shiva teilt sich auf in zwei Prinzipien

Da teilte sich der zweigeschlechtliche Shiva auf in zwei Götter: Shiva und seine Gattin Parvati. Parvati machte, wie von Brahma gewünscht, die Schöpfung mit Hilfe ihrer weiblichen Natur möglich, die den männlichen Aspekt zu fruchtbarer Aktivität erweckte.

Diese Verschmelzung von Shiva und Shakti, die für das männliche und das weibliche Prinzip stehen, transzendiert die Grenzen zwischen beiden und die Begrenzungen von Mann und Frau. Sie bringt den Gott auf eine Ebene jenseits des manifestierten Brahman – eine Erkenntnis, die zu großer Befreiung führt.

Shaktis Hälfte ist golden, Shivas schneeweiß. Sie ist das Substrat, er die Substanz. Shiva ist statisch, Shakti dynamisch und kreativ. Shiva ist Sein, Shakti ist Werden. Er ist einer, sie ist viele. Er ist unendlich – sie macht hat das Unendliche endlich. Er hat keine Form – sie gestaltet das Formlose zu Myriaden von Formen; aber beide sind Eins: Shiva und Shakti leben im Stadium des Nirmaly Turiya, in edler Reinheit.

Ohne seine andere Hälfte, seine weibliche Natur, ist der Herr der Götter Shiva unvollständig und unfähig, mit der Schöpfung fortzufahren. In einem noch größeren Ausmaß als die Shiva-Shakti-Idee lässt das androgyne Bild von Shiva und Parvati wahrnehmen, dass die beiden göttlichen Identitäten füreinander jeweils unabdingbar sind, und dass nur sie nur in Gemeinschaft den jeweils anderen befriedigen und sich selbst erfüllen können.  In dieser Form transzendiert der Herr der Götter eine  Besonderheit der Geschlechter: Gott ist beides;  Mann und Frau, Vater und Mutter, Stillstand und Aktivität, Mut und Furcht, Zerstörung und Schöpfung … und so weiter.

In der Anbetung von Ardhanareswara bevorzugen manche den weiblichen, andere den männlichen Aspekt. Shiva wird als Statthalter der Macht/Kraft angesehen, obwohl er unbeweglich ist. Shiva ohne Shakti ist ein Shava (toter Körper). All diese kreative Kraft, das Erhalten wie das Lösen bleiben bei Shakti. Aber auch die große Mutter kann ohne Shiva nicht existieren. In dem Moment, in dem sie sich vereinigen, wird Ardhanareswara erst zu einer erschaffenden und gestaltenden Kraft.

Somit repräsentiert Shakti den immanenten Aspekt des Göttlichen – und das ist die aktive Teilnahme am Schöpfungsakt. Die tantrische Sicht des Weiblichen in der Schöpfung trägt der Orientierung des Menschen in Richtung der aktiven Prinzipien des Universums Rechnung, die stärker ist als die zur reinen Transzendenz. Wenn nun Shiva den speziellen Weg zu reiner Transzendenz definiert, ist das immer verbunden mit einer grenzenlosen Manifestation von Shakti, zum Beispiel als Durgha oder Kali (Anm.: kämpferisch, bzw zerstörerisch).

Der Hinduismus ist ein Netzwerk philosophischer Denkweisen, die isoliert erscheinen mögen, aber nicht wirklich in sich geschlossen sind.  Zumeist verbinden sich die Philosophien zu einer Art spirituellem System. Als solches verbreitet sich der Shakti-Kult oder der Kult der Göttin Devi stärker. Shakti lässt sich ins menschliche Verständnis leichter eingliedern, wenn man sie als Aspekte des menschlichen Lebens innerhalb der Schöpfung betrachtet.

Uraltes Prinzip der Einheit

Der Shakti-Kult kombinierte Feststellungen der Samykhya-Philosophie und später der Maya-Doktrin, die der große Weise  Adi Shankaracharya formuliert hat. Die Samykhya-Philosophie erneuert eine verbreitete kosmische Dualität, dargestellt in Purusha, der männlichen und Prakriti, der weiblichen Energie, die zusammen die kosmische Energie bildeten.

In seiner Erscheinungsform als Ardhanareswara zerstört und erneuert Shiva das Alte. Für ihn bedeutet es Erneuerung durch Zerstörung. Er reinigt und baut wieder auf in so starker destruktiv-konstruktiver Rolle, dass man ihn Vater des Brahma nennt, den Gott der Schöpfung. Er ist der Vater des Erneuerungsprozesses. Er ist der Meister des Laufs der Zeit. Auf Bitten Shaktis absorbiert er sie zur Hälfte und manifestiert sich als halb Mann, halb Frau in Körper und Geist. Zusammen symbolisieren sie die Einheit allen Seins. Dieser Aspekt ist die fundamentale Wurzel des Advaitha.

Die tantrische Kosmologie erklärt die universellen Aspekte der Shiva-Shakti-Kraft. Die tantrische Philosophie sagt, dass das ganze Universum, so wie es ist, wie es erschaffen wurde von diesen beiden Kräften, die permanent in einer perfekten, unzerstörbaren Gemeinschaft sind,  durchdrungen und erhalten wird. Dort wo eine sprachliche Ungleichheit erscheint, hat die tantrische Tradition sich diesen Prinzipien in einer respektvollen Form angeglichen. Dem entsprechend repräsentiert Shiva, der maskuline göttliche Teil, die konstituierenden Teile des Universums, während Shakti, das weiblich-Göttliche, das dynamische Potential darstellt, das diese Elemente zum Leben erweckt und zum Handeln bringt.

Nur scheinbar eine Dualität

Die tantrische Kosmologie sieht das als einheitliches Prinzip, nicht als zwei getrennte. Anders gesagt bevorzugt der Tantrismus die Einheit der beiden Prinzipien, die sich nur scheinbar gegenüber stehen, aber tatsächlich in jedem kreativen Akt vereinigt sind. Die tantrische Idee oder die sexuelle Idee der Fruchtbarkeit im Göttlichen –  auf einer rein spirituellen Ebene ins Leben zu kommen –  differiert deutlich von der Samkhya-Tradition.

Ungeachtet dessen hat sich der Tantrismus der Samkhya-Philosophie bedient, um die Qualitäten der männlichen und weiblichen Prinzipien zu definieren. Die Einheit von Shiva und Shakti lässt den gesamten Makrokosmos in seinen statischen ebenso wie seinen dynamischen Aspekten entstehen.

Die tantrische sexuelle Vereinigung nennt man ‘viparitha-maithuna’, in der Shakti einen kosmischen Tanz auf den liegenden Körper Shivas präsentiert. Er bleibt unbeweglich, während sie die aktive Rolle übernimmt. Ungeachtet dessen ist die höchste Seinsform das nicht manifestierte Absolute in beiden Aspekten: dem statischen wie dem bewegten.

Die Metapher eines Saatkorns kann die tantrische Kosmogonie gut erklären: Ein Korn besteht aus zwei eng verbundenen Hälften, die von einer gemeinsamen Haut umschlossen sind. Die beiden Hälften stehen für Shiva und Shakti, die Haut für Maya, die große kosmische Illusion. Wenn nun das Korn keimt, vergeht die Haut um sie, obwohl sie die beiden Hälften zu einem Ganzen verbindet. Das ist das regenerative Prinzip von Ardhanareeswara und einer von vielen Aspekten der Shiva-Shakti-Manifestation.

Siehe auch: Kundalini ist frei von Ansprüchen des Ich

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