Dies ist der Bericht einer chronischen Schmerzpatientin, die von Depressionen geplagt ist. Ich lernte sie vor einiger Zeit in einem Wartezimmer kennen. Weil der Arzt zu einem Notfall gerufen wurde, mussten wir lange warten und lernten uns unerwartet gut kennen. Sie ist eine Frau in den besten Jahren, glücklich verheiratet, zufrieden im Beruf. Aber sie ist gezeichnet von einem ständigen Schmerz. Auf meine Bitte hin schrieb sie auf, wie sich der Schmerz für sie anfühlt:
„Ist er männlich oder weiblich? Manchmal frage ich mich das, um anschließend den Kopf zu schütteln. Wie egal ist das denn?
Er ist mächtig. Das steht fest. Und unstillbar ist er.
Manchmal ist er so quälend, dass nur noch ein Ausweg offen scheint: Sterben.
Wenn ich tot bin, hört er sicher auf, mich zu terrorisieren.
Oder muss ich ihn auch dahin mitnehmen, den Schmerz?
Im Moment gerade zeigt er sein gehässiges Gesicht: Es fehlt an Wertschätzung meiner Arbeit, ich muss mich mit Gehässigkeit, Unehrlichkeit und nicht eingehaltenen Absprachen herumschlagen. Der Schmerz verursacht wütenden Schwindel in meinem Kopf. Ich muss mich beherrschen, nicht zu zeigen, wie effizient ich mich wehren könnte, wenn ich wollte. Ich erinnere mich der Gründe, aus denen ich nicht zurückschlage. Dann sehe ich die Schwäche hinter dem Verhalten der Anderen und beruhige mich: Der Schmerz ist weg.
Schlimmer schon ist der körperliche Schmerz. Wie spitze Nägel, wie das Bearbeiten rohen Fleisches auf einer Kartoffelreibe – so können Knochenschmerzen sein. Mein von Arthrose zerfressenes Knie wurde zur Quelle stechender, ziehender Schmerzes für das ganze Bein, die Hüfte und die Lendenwirbelsäule. Erst als ich kaum noch gehen konnte, entschloss ich mich zur Knieprothese, ging dazu zehn Tage lang zitternd, verkrampft und weinend durch eine Schmerzhölle, um schließlich aufzuerstehen und wieder zu gehen. Der Schmerz ist nicht weg, aber gut erträglich, und ich kann wieder gehen.
Ganz weit oben auf der Erträglichkeitsskala: Der Schmerz, der sich hinter dem Namen Fibromyalgie versteckt. Tückisch ist er – kommt ohne Vorwarnung, setzt immer neue Schwerpunkte im Körper, ist nie wirklich zu fassen. Manchmal kann ich den Arm nicht mehr heben, manchmal den Rücken nicht mehr gerade machen. Manchmal liegen meine Augen in brennenden Höhlen, deren Rand voller ausgefranster spitzer Zacken zu sein scheint. Sie werden trocken, ich kann nicht mehr scharf sehen. Dann wieder ist es die obere Brusthälfte. Das Herz rast, nicht genau definierbare Weichteile glühen, alles wird eng – so sehr, dass jeder Atemzug Angst macht.
Treppen gehen unmöglich: Keine Luft, das Herz ein glühender, hämmernder Klotz in der Brust, Nacken und Rücken krampfen. Überall spitze Nadeln im Fleisch, in einem Moment rollen mir Schweißtropfen durch’s Gesicht, im nächsten zittere ich vor Kälte. Rückzug auf’s Sofa, nicht darauf achten, dass die Haut keine Berührung mehr erträgt. Warten. Manchmal dauert es Tage, manchmal Wochen, manchmal Monate. Dann sucht sich der Schmerz einen anderen Schwerpunkt. Manchmal versteckt er sich auch. Für einen halben, vielleicht sogar einen ganzen Tag scheint er verschwunden. Nur ein dunkles Lauern im Körper zeigt dann an: Er wird wiederkommen.
All dieses aber ist nichts gegen den grauenhaften Schmerz der Seele.
Er sticht, er brennt, er zieht, er saugt – er saugt das Leben aus dem Leib. Der Leib ist es, der ihm Ausdruck verleiht. Wie ein sich drehendes Messer im Herz, ein Kloß im Hals, an dem sich Ströme von Tränen stauen, ein trockenes Brennen in den Augen, verzweifelter Schwindel im Kopf, der hintere Teil des Schädels wird zum Wackerstein, der Nacken zieht und brennt, der ganze Körper wird zum Wackelpudding – der Schmerz des Verlassenseins. Hinausschreien möchte ich ihn, aber ich bleibe stumm. Der Schmerz bleibt im Magen stecken, wird zu einem qualvoll rotierenden, spitzen Eisenrad. Es krampft der Bauch, die Beine versagen den Dienst. Hinlegen. Wärme suchen. Solarium oder Badewanne. Eine Tablette nehmen. Schlafen dürfen…
Albträume: Menschen, die nicht sind, was sie zu sein scheinen, Wege, die im Nichts enden, Berge, die zu erklimmen mir die Kraft fehlt, versinken in schlammigem Untergrund. Weinen, weinen, weinen. Um Hilfe rufen – vergebens.
Wach werden und einen dumpfen Schlag in der Magengrube spüren: Der Schmerz ist noch da.
Er ist immer da. Nie verlässt er mich.
Auch nicht, wenn ich umgeben bin von Menschen, die mich mögen.
Ich lächele freundlich, solange ich es schaffe. Ich spreche wenig. Ständig suche ich.
Ich suche nach den Augen, die mich ansehen und verstehen. Die ihn kennen, diesen Schmerz. Die wissen, dass es nur einen einzigen Weg der Heilung gibt: Bedingungsloses aufeinander Einlassen, liebevolles Vertrauen, Berührung.
Ich suche nach Armen, die sich einfach öffnen und mich halten. Damit ich sie loslassen kann, diese schreckliche, graue, erdrückende Last. Nur kurz mal loslassen dürfen. Dann geht es bestimmt wieder.
Ich suche vergebens.
Was ich finde, sind andere Menschen voller Schmerz. Mit allen möglichen Tricks verschaffen sie sich Aufmerksamkeit. Kaum bekommen sie welche, reden sie. Endlos. Anklagend. Kummervoll. Pessimistisch. Und immer von sich selbst.
Du bist so erstarrt, sagen mir Freunde. Fang an, dich zu bewegen. Tanze! Schau um dich. Sieh doch, die herrlichen Farben des Lebens!
Ich erinnere mich. Ja, ich kenne sie, diese herrlichen Farben.
Aus einer Zeit, in der ich gelebt habe. Wann das war?
Keine Ahnung. Ich weiß es nicht mehr.
Ich möchte ans Meer. Ins Meer. Das Meer werden.“
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Siehe auch:
Von allem getrennt, sogar von sich selbst und die dortigen Hilfe-Links
Allein in der Hölle der Leere und die dortigen Links
Chronische Schmerzen: Symptom oder Krankheit?
Hilfe:
Deutsche Schmerzliga
Deutsche Schmerzhilfe
Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie
Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie
Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft
Berufsverband Deutscher Nervenärzte
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
Deutsche Gesellschaft für Neurologie