Still liegt das weitläufige Gehege des Wildfreigeheges Wildenburg im kalten Dezemberregen. Man kann das abschüssige Gelände unter den hohen Bäumen nur teilweise einsehen. Es gibt einen großen, steinigen Hügel, einige Mulden, eine Höhle und ein Holzhäuschen für die Gerätschaften der Pfleger. Einige Dutzend Menschen warten in der Dämmerung am Zaun, fröstelnd im unangenehmen Wind. Soeben hat der junge Mann mit den lodernden Augen in Camouflage-Kleidung Fleischbrocken im Gelände verteilt.
Hhhhschschsch… es ist wie ein schneller, kurzer Windhauch; mehr ist nicht zu hören, als die vier aus dem Nichts herbeistürmen. In Windeseile und lautlos verzehren sie die Brocken – nach nicht mal zwei Minuten ist alles vorbei. Danach beginnt das Nachsuchen – und die kleine Chance, bei schwindendem Licht ein paar halbwegs scharfe Fotos zu machen. Die Wölfe selber übersehen die Zuschauer. Sie interessiert nur das Fleisch.
Immer mehr der grauen Jäger wandern nach Deutschland ein, versuchen, sich zu etablieren und geraten unweigerlich in Konflikt mit den „Platzhirschen“. Menschliche Jäger und Landwirte kämpfen erbittert gegen die Vierbeiner, auch wenn diese durchaus auch Mäuse und anderes Kleingetier fressen, nicht nur Schafe, Reh- und Rotwild. Bis man sich miteinander arrangiert haben wird, und beispielsweise Schafzüchter bereit sein werden, mit entsprechend trainierten Hunden sowie Zäunen für ihre Herden zu sorgen, wird es noch ein weiter Weg.
Das Wildfreigehege Wildenburg bei Kempfeld im Naturpark Saar-Hunsrück arbeitet seit einigen Jahren an konsequenter Aufklärung. Dort lebt ein kleines Rudel europäischer Wölfe. Die drei Rüden und ihre Gefährtin „Lady“ wurden von Hand aufgezogen, leben aber jetzt mehr als halb wild in einem großen Freigehege. Lady ist sterilisiert, aber nicht kastriert, damit ihr Verhalten dem einer Wölfin zwar entspricht, sie sich aber nicht fortpflanzen kann.
Immer wieder veranstaltet das Freigehege (in dem es auch ein Wildkatzen-Zentrum gibt), Aufklärungsveranstaltungen. Bei Vollmond etwa wird regelmäßig zum Wolfsgeheul eingeladen. Das Rudel heult sich allabendlich „zusammen“, bevor die vier sich zur Ruhe legen. Bei solchen Veranstaltungen ist ein kundiger Experte anwesend, der für Fragen zur Verfügung steht und mit Vorurteilen aufräumt.
Auch die allabendlichen Fütterungen in der Dämmerung können beobachtet werden (wegen Corona ausgesetzt). Um möglichst viele Menschen anzusprechen, werden die Wölfe im Rahmen anderer Veranstaltungen mit beworben, so wie beispielsweise beim Weihnachtsmarkt. Und eines ist sicher: Die Tiere sind ein faszinierender Anblick.
Als alle Besucher gegangen sind, streicht nur noch Lady am Zaun entlang. Lucy, die BGS-Hündin auf der anderen Seite, wird unruhig, jault und grollt, möchte spielen. Für einen kurzen Moment reagiert die Wölfin: Die gelben Augen mustern ihre domestizierte Schwester, Lady macht einen lustigen Bocksprung, als habe auch sie Lust auf ein Spiel.
Dann ist es vorbei. Die Wölfin dreht ab und verschwindet im Dunkel. Lucy muss der Leine nach Hause folgen.
Siehe auch: Isegrims Familienleben – Besuch beim Wolfsrudel Kempfeld