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Marittas einsames Sterben: Maßlose Corona-Vorschriften

Es ist lange her. Über ein Jahr hat es gedauert, bis Simone und ich wieder einen Plausch im Eiscafé halten können: Ohne Coronatest und vorherige Anmeldung, nur mit Kontaktformular, einfach so im Freien sitzend. Wir sind beide doppelt geimpft und können langsam daran denken, unser Leben vor der Pandemie wieder aufzunehmen. Ein Leben, in dem für Simone nichts mehr ist, wie es war.

„Ich denke ständig darüber nach, was sie wohl in diesen letzten Tagen gedacht hat: Die ganze Zeit war ich da, habe sie zu den Ärzten und zur Chemo begleitet, und dann, als es ans Sterben ging, war sie allein.“ Simone ist sehr nachdenklich. Im Januar hat sie ihre Mutter verloren. Mitten in all den Beschränkungen der Pandemie starb sie im Krankenhaus, und ihre Familie durfte nicht zu ihr. Das war furchtbar und belastet alle noch sehr.

Das Leben ihrer Eltern war bis zum letzten Tag eine lange Liebesgeschichte. Dass Maritta und Josef sich kennenlernen konnten, war Marittas Oma zu verdanken. Sie hielt Ziegen, und Maritta liebte deren Milch. So besuchte sie ihre Oma, wann immer sie konnte und traf schließlich im Ort auf den gleichaltrigen Josef. Der Brückenbauer und seine Familie sind alt eingesessen und gut vernetzt im Dorf. Die beiden wurden ein Paar, heirateten, und Maritta zog ins Haus ihres Mannes. Nach einer Fehlgeburt kamen Sohn Patrick und Tochter Simone zur Welt, das Familienglück war perfekt.

Das Paar hat eine vielköpfige Verwandtschaft. Man traf sich regelmäßig, feierte Geburtstage und andere Feste zusammen. Bis die Beschränkungen kamen. Kontaktverbote, Verbote, zuhause Besuch zu empfangen. Natürlich hielten sich alle daran – obwohl niemand aus der weiten Familie infiziert war. Aber es wurde doch ziemlich einsam.

Vater Josef betrieb im Nebenerwerb Landwirtschaft, wie so viele im Ort. Maritta sorgte für Haus und Garten; ihre Koch- und Backkünste waren legendär. Das Paar pflegte Geselligkeit in der Familie und im Ort und  liebte sich zärtlich. Als Sohn Patrick in die eigenen vier Wände zog, war das selbstverständlich im Heimatort. Abends, nach der Arbeit, kam der Junggeselle weiter heim zum Essen, sehr zur Freude seiner Mutter. Nachdem  Tochter Simone geheiratet hatte, baute das junge Paar 2002 die alte Schmiede des Großvaters zur Wohnung aus und lebte fortan Wand an Wand mit den Eltern. Auch hier herrschte Harmonie: Man kochte gemeinsam, grillte viele Spießbraten im Gartenhäuschen. Enkelkind Melina war bei den Großeltern bestens aufgehoben, wenn ihre Eltern zur Arbeit gingen.

Wie in jeder Familie lief auch in dieser nicht immer alles glatt: Als Simone schwer krank und schließlich berufsunfähig wurde, standen ihr die Eltern zur Seite; als ihre Ehe zuende ging, ebenso. Jeden Morgen zog seitdem eine kleine Prozession die Treppe herunter durch die Hintertür an den Frühstückstisch der Eltern: Simone, Melina, Hündin Mimi und Katze Nala fanden sich ein, um beim Kaffee den Tagesablauf, gemeinsame Einkäufe, Arztbesuche und den ganzen Alltag zu planen. Im Familienzusammenhalt blieb so trotz Pandemie eine beglückende Gemeinsamkeit.

Rechtzeitig zur Goldenen Hochzeit im letzten Jahr renovierten Josef und Marita noch einmal ihr Haus. Ein neues Schlafzimmer wurde gekauft, Josef begann damit, das Bad rundum zu erneuern. Maritta, in den letzten Jahren etwas vergeßlich geworden, hörte auf, selbst Auto zu fahren. Vater oder Tochter erledigten die Einkäufe, immer öfter übernahm Simone das Kochen für alle. Und dann brach das Unglück über sie herein.

Maritta war immer schlank gewesen. Aber jetzt war sie auf einmal extrem dünn, aß und trank kaum noch etwas. Ihre Stimme veränderte sich, und sie bekam schlecht Luft. Am 22. Juli, dem Tag vor Josefs 80. Geburtstag, brach sie beim Backen zusammen, musste per Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht werden. Dort stellte man einen riesigen, gutartigen Tumor der Schilddrüse fest, der auf Speise- und Luftröhre gedrückt hatte. Der Tumor wurde entfernt.

Nun berichtete Maritta auch von dem Knoten in ihrer Brust, der dort seit Jahren wuchs. Er war inzwischen so groß wie ein Hühnerei. Die Mammographie ließ alle tief erschrecken: Der Tumor war bösartig und äußerst aggressiv. Er hatte bereits die umgebenden Drüsen befallen. Sofortiges Handeln war angesagt. Die ohnehin geschwächte alte Frau wurde erneut operiert.

Bevor das radikale Programm mit einer 16-teiligen Chemotherapie und 30 Bestrahlungen beginnen sollte, war sie zuhause zum Aufpäppeln. Richtig auf die Beine kam sie nicht. Ihr 80. Geburtstag am 23. Oktober wurde ein kleines und sehr ruhiges Fest: Josef, Patrick, Simone und Melina ehrten ein letztes Mal die Seele ihrer Familie.

Nach der ersten Chemo schien es, als vertrage sie diese relativ gut. Aber das änderte sich schnell: Marittas Blutwerte wurden immer schlechter, die Zahl der Leukozyten nahm radikal ab. Nach jeder Behandlung musste sie länger im Krankenhaus bleiben, sie wurde immer dünner und durchscheinender.

Nach der sechsten Chemo ging erstmal nichts mehr. Die Mutter lag zuhause auf dem Sofa, wollte weder essen noch trinken, war ein Schatten ihrer selbst. Es war ein Sonntag, als der Schlaganfall sie traf. Simone rief den Rettungsdienst, aber der nahm die Patientin nicht mit. Es sei „nicht so dringend“, hieß es. Die Folgen des Schlaganfalls waren heftig: Halbseitig gelähmt und kaum fähig zu sprechen, konnte sich Maritta nun gar nicht mehr selbst helfen. Dennoch: Auch beim zweiten Notruf nahm der Rettungsdienst sie nicht mit ins Krankenhaus. Verärgert und in Angst um die Mutter bat Simone den Hausarzt um Hilfe – der erreichte endlich die Aufnahme. Es folgte ein vorwurfsvoller Anruf der dortigen Stationsärztin an die Tochter, wieso die Patientin denn erst so spät gebracht worden sei, wo sie doch so schwach sei…

Was nun kam, war das schmerzhafte Erleben purer Hilflosigkeit für die Familie – ausgeliefert an Beschränkungen der Pandemie und das System Krankenhaus. Nicht lange nach dem Schlaganfall erlitt Maritta auch noch einen Herzinfarkt. An die Behandlung der Tumorfolgen war jetzt nicht mehr zu denken: Es ging um’s nackte Überleben.

Aber unter Pandemiebedingungen. Krankenbesuche waren nicht erlaubt. Und das für ein Ehepaar, das über 50 Jahre lang Seite an Seite gewesen war, das die gegenseitige Nähe brauchte, wie die Luft zum Atmen. Jetzt wurde Simone ernsthaft laut: Wenigstens ihren Mann müsse man doch für kurz Zeit zur Mutter lassen – nie hatte sie ihn nötiger gebraucht! Mageres Ergebnis: Vater Josef wurde es erlaubt, zehn Minuten (!!!) am Tag bei seiner Frau zu sein. Was für eine Willkür!

Glück im Unglück für die geteilte Familie: Edith, Ex-Schwiegermutter Simones, teilte sich mit Maritta das Zimmer. So war wenigstens ein Mensch in ihrer Nähe, den sie kannte – und die Familie konnte jederzeit erfahren, wie es der Mutter ging. Simone war verärgert und aufgewühlt: Als ihre Mutter zur Chemo im selben Krankenhaus war, hatte sie sie problemlos durch’s Haus begleiten dürfen. Jetzt, wo sie hilflos im Bett lag, durfte sie nicht zu ihr. „Ob sie dachte, ich habe sie im Stich gelassen? Ich frage mich das immer wieder.“

Schneller als erwartet, kam an einem Freitag der befürchtete Anruf aus der Kardiologie: „Ihre Mutter wird wahrscheinlich das Wochenende nicht überleben. Schafft sie es aber, möchten wir ihr am Montag gern einen Stent setzen, um ihr Herz zu entlasten.“ Nachdem sich Vater und Tochter vom ersten Schock erholt hatten, erinnerte sich die Tochter an Marittas tiefen Glauben. „Sollen wir für sie um die letzte Ölung bitten?“ Ja. Der Vater war dankbar für die Anregung, und die Station reagierte auf Simones Anruf blitzschnell: Minuten später war der Krankenhaus-Geistliche bei ihrer Mutter. Sie wurde gesalbt, die beiden beteten gemeinsam das Vaterunser. Sehr erleichtert und dankbar sei die Patientin gewesen, berichtete der freundliche Geistliche, der anschließend die Familie anrief, um auch ihr Beistand zu leisten.

Danach blieben nur noch Stunden. Beim 10 Minuten-Besuch ihres Mannes am Samstag konnte Maritta ihm noch die Hand drücken – wenig später verlor sie das Bewusstsein. Nicht nur ihren Mann Josef, auch Tochter Simone und Enkelin Melina nahm das schrecklich mit, an Schlaf war nicht zu denken. Simone beschloss daher, sich innerlich mit ihrer Mutter zu verbinden. Es war schon nach Mitternacht, als sie ihr sagte „Mama, du hast genug für uns getan. Du darfst gehen, wenn du jetzt gehen willst. Wir sorgen gemeinsam weiter für uns. Mama, wir lieben dich. Ich liebe dich.“…

Um 3 Uhr morgens in der selben Nacht tat Maritta ihren letzten Atemzug. Außer Edith, ihrer Zimmernachbarin, war niemand in ihrer Nähe.

Erst danach rief das Krankenhaus die Familie an, die sofort aufbrach. Jetzt durften auf einmal alle ins Haus und sich lange von der bereits aufgebahrten Mutter verabschieden. Und wieder bewegte sie die gleiche Frage: Wieso musste sie ohne den Beistand ihrer Lieben sterben, wenn danach alle das Haus betreten durften? Sogar eine Infektion eines Familienmitgliedes (die ja via Test hätte ausgeschlossen werden können) hätte ihr nicht mehr schaden können, als sie ohnehin im Sterben lag. Was sind das für Vorschriften, die Sterbende derart einsam zurück lassen?

Wenigstens im Tod wollten sie jetzt der Mutter noch ihre Liebe zeigen. „Ich habe ihre Lieblingskleider ausgesucht: Einen korallenroten Pulli und schwarze Jeans – und vor allem das Unterhemdchen, das für sie immer ganz wichtig gewesen war. Wir haben eine wunderschöne Urne gekauft, aus Terrakotta, in Erdtönen, mit einem Bild darauf, das die unendliche Weite nach dem Tod darstellt.“

Auch die Beerdigung der Urne fand unter Pandemiebedingungen statt: Ein sehr kleiner Kreis von Gästen fand sich auf dem Friedhof ein, wo der freundliche Geistliche aus dem Krankenhaus wunderbar menschliche Worte fand, um Marittas Leben in bunten Farben zu schildern. „Ich schicke dir jetzt einen Engel“ von Michelle erklang, und für einen Moment war die Mutter für alle noch einmal fast körperlich präsent.

Inzwischen ist ein neuer Alltag eingekehrt im Drei-Generationen-Doppelhaushalt. Simone hat einige Aufgaben der Mutter übernommen. Jeden Abend wird gekocht für Vater und Bruder, mittags für Tochter Melina. Nicht alles verläuft so reibungslos wie früher – neue gemeinsame Gewohnheiten wollen eingeübt werden. Oft betrachten Simone und Tochter Melina die Fotos, die sie vor zwei Jahren gemeinsam mit Oma aufgenommen haben. Da waren sie alle drei hübsch zurecht gemacht, und Maritta sah noch ganz gesund aus. „Wenn ich so darüber nachdenke, war dieser Tag der letzte, an dem sie so richtig aus vollem Herzen gelacht hat,“ meint Simone nachdenklich. „Sie fehlt mir jeden Tag.“ Ich hoffe, sie ist jetzt glücklich, da, wo sie ist.“

Wenn die Stunde schlägt: Gudrun ist tot…

Ich traf sie regelmäßig im Thermalbad Traben-Trarbach, dessen außergewöhnlich warmes Wasser bei chronischem Schmerzen heilend wirkt. Dorthin kam Gudrun immer mit ihrer Schwester Wilma. Wilma fährt trotz ihrer 87 Jahre zackig Auto: Einmal wären wir uns fast die die Haare geraten, weil sie mir ruck-zuck den letzten Parkplatz weggeschnappt hatte.

Gudrun und Wilma machten Wassergymastik bei der Rheuma-Liga und nahmen jeden Montag an ihrem Kurs teil. Gudrun fiel mir sofort ins Auge: Klein, gedrungen, rund um den Kopf abgeschnittene glatte Haare, die auch mit 85 noch nicht weiß waren, unter dem Pony wache, lebendige Augen. „Wir sagen doch du“, lachte sie  verschmitzt nach dem zweiten Gespräch, in dem wir ausführlich über altes Leinen geredet hatten. Fortan standen wir regelmäßig nach dem Ende des Gruppentrainings am Beckenrand, wo ich Gudruns und Wilmas Erzählungen folgte.

Echte Hunsrückerinnen, wie es heute nicht mehr viele gibt, sind die beiden. Wie die Frauen im Dorf meiner Kindheit arbeiten sie lebenslang viel und mit Freude, wahren die Traditionen, haben einen scharfen Blick auf das Zeitgeschehen und einen trockenen, manchmal bissigen Humor. In ihrer Jugend arbeiteten die Schwestern in den Steillagen der Mosel-Weinberge. Über den Weinbau lernten sie ihre Männer kennen, denen sie bis zuletzt von Herzen zugetan waren. „Mein Mann ist vor zehn Jahren an Krebs gestorben,“ berichtete Gudrun. Wilma nickte: Ihrer auch.

„Im Jahr bevor mein Mann starb, haben wir im Wald noch 30 Meter Eichen-Brennholz gemacht. Die meisten mögen ja keine Eiche wegen der unebenen Rinde – aber wir fanden sie toll. Wir haben alle Arbeiten gemeinsam  erledigt, uns daran erfreut, dass wir zusammen sein konnten. So war es  immer schön,“ schwärmte Gudrun. Bis jetzt reichten die 30 Raummeter, nun sind sie so gut wie verbraucht. Der Ehemann hatte eine Holz-Schneide- und Transportmaschine gebaut, die seiner Gudrun das Brennholz fertig zur Verwendung direkt an die Haustür brachte. Darauf war sie stolz: „Er konnte alles, mein Mann,“ pflegte sie zu sagen, und die dunklen Augen blitzen. „Ich habe den Kindern gesagt: Wozu braucht ihr eine Zentralheizung? Praktischer als so geht es doch gar nicht“…

Mit ausgeprägtem weißem Hautkrebs an den Unterarmen kämpften beide Schwestern. „Das ist von den Jahren in Wingert,“ sagte Wilma, und Gudrun pflichtete bei. Mit  75 und 77 Jahren haben sie die harte Arbeit dort eingestellt. „Aber mir brennt immer noch das Herz, wenn es an der Zeit ist; ich würde am liebsten wieder mitmachen,“ pflegte Gudrun zu sagen – und Wilma nickte.  Gudrun besiegte die tückische Krankheit Lymphdrüsenkrebs, überstand die Chemo, behielt ihre Lebensfreude und machte fleißig Gymnastik im Wasser des Thermalbades und der Turnhalle ihres Heimatortes – auch da natürlich zusammen mit Wilma. 

Von der Trockengymnastik gingen sie letzten Mittwoch um 14.30 Uhr gemeinsam nach Hause: Wilma wohnt nur einen Kilometer von Gudrun entfernt. Zwei Stunden später ein Anruf: Gudrun, in höchster Not, bat Wilma,  sofort zu kommen. Vor Bauchschmerzen schreiend brachte sie der  Rettungsdienst ins Krankenhaus:  Die Bauchaorta war verstopft. Im Krankenhaus folgte der tödliche Herzschlag: Infarkt von Vorder- und Hinterwand. Zwei Stunden nach der Einlieferung war Gudrun tot.

Einfach so. 

Gestern traf ich Wilma im Thermalbad. Noch zerbrechlicher als vorher, noch schmaler das Gesicht.

„Gudrun ist tot. Gut dass wir nicht vorher wissen, wann es passieren wird,“ sagte sie, und rund um die blassen Wangenknochen formten sich rote Flecken. 

Geschmacklos, geruchlos, „ungefährlich“: Gentechnik, Milliarden, Monsanto

Weitgehend unbeachtet von den öffentlichen Medien fand am 25. Mai, dem Tag des Champions-League-Finales, der internationale Tag des Marsches gegen Monsanto statt. Tausende marschierten rund um den Globus, um darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahr von Konzernen ausgeht, die Weltmacht anstreben. Erst nachdem unter anderem in Facebook massenweise über die rund 400 Veranstaltungen in 45 Ländern berichtet wurde – gepaart mit Empörung darüber, dass so gut wie keine Fernsehsender darüber berichtet hatten, reagierten diese zögerlich, wie hier das ZDF.

Monsanto ist ein 1901 gegründeter und seit 1927 börsennotierter Konzern mit Sitz in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri, der Niederlassungen in 61 Ländern hat. Das Unternehmen produziert Saatgut und Herbizide und setzt seit den 1990er Jahren Biotechnologie zur Erzeugung gentechnisch veränderter Feldfrüchte ein. Bekannte Produkte sind verschiedene transgene Maissorten und Breitbandherbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat unter dem Namen Roundup. Ebenso war das Unternehmen einer der großen Produzenten des Herbizids Agent Orange, das im Vietnam-Krieg nicht nur flächendeckend Bäume entlaubte, sondern auch Generationen von Menschen vergiftete. Das hier eingefügte ZDF- Video gibt einen kurzen Einblick in die Geschäftspolitik des Konzerns – noch wesentlich ausführlicher ist sie in einem fast zweistündigen ARTE-Film dokumentiert.

Erst in den letzten beiden Jahrzehnten ist einer etwas breiteren Öffentlichkeit klar geworden, in welchem Ausmaß sich der Konzern wie eine Krake rund um die Erde gewunden hat. Sein Ziel ist in einfachen Worten definierbar: Die Weltherrschaft über Saatgut und andere genveränderte chemische Wirkstoffe, wie beispielsweise Wachstumshormone für  die Tierzucht. Es gibt ein nicht mehr überschaubares Netz an Verflechtungen mit Lobby-Organisationen und mit Politikern, mit dessen Hilfe das Unternehmen und seine zahllosen Töchter ihre Macht stetig weiter ausbauen. Das System ist ebenso einfach wie effektiv: Traditionelle Saatguthersteller werden aufgekauft, ihre Saaten werden durch genveränderte Züchtungen ersetzt, bis schließlich keine anderen mehr auf dem Markt sind.

Zu Beginn erscheint die Methode durchaus attraktiv: Genveränderte Saaten, besonders in Kombination mit Herbiziden wie Roundup, ermöglichen einen wesentlich höheren Ertrag, der die höheren Einkaufspreise zu rechtfertigen scheint. Aber im zweiten Schritt tauchen immer wieder „Pferdefüße“ der schrecklichsten Art auf: So haben sich beispielsweise in Indien, wo eine genveränderte Baumwolle im großen Stil eingeführt wurde, zunächst neue Schädlinge ausgebreitet, dann bemerkte man offensichtliche unbeabsichtigte genetische Interaktionen, die etwa zu flächendeckenden Pilzerkrankungen führten. Die betroffenen Bauern, plötzlich von Missernten ruiniert, finden sich gegenüber den Saatgutherstellern in erdrückenden Schulden-Situationen und flüchten sich zunehmend in Selbstmorde. In den USA ist gerade in den Gebieten, wo vorrangig genveränderte Soja- und Baumwollpflanzen in Verbindung mit Herbiziden angebaut werden, ist ein neues Super-Unkraut entstanden, das nun auch gegen Roundup resistent ist. Große Anbauflächen mussten inzwischen völlig aufgegeben werden.

Wo immer es Monsanto gelingt, seine marktbeherrschende Stellung auszubauen, zeigt der Konzern sein wahres Gesicht: Mit dem Verkauf des Saatgutes und dessen Patenten verbunden ist das Verbot einer Weiterverwendung der Ernte-Erträge zur erneuten Aussaat. Das wird in den USA mit Hilfe einer sogenannten „Gen-Polizei“ kontrolliert, die Bauern bereits auf Verdacht hin unbarmherzig auf horrende Strafzahlungen verklagt. Besonders schwierig ist dabei der Aspekt der ungewollten Kreuzungen zwischen genveränderten und traditionellen Saaten, die durch nichts verhindert werden kann.  Für Landwirte, die ihre Nachbarn beim Konzern anschwärzen wollen, gibt es eine eigene Kurz-Rufnummer. Angst und Misstrauen breiten sich mit der zunehmenden Abhängigkeit aus, wie die ARTE-Dokumentation eindrucksvoll beleuchtet.

Dazu hat sich nun herausgestellt, dass das angeblich risikofrei für Mensch, Tier und Umwelt einsetzbare Universal-Herbizid Glyphosat (Roundup) offenbar hoch gefährlich für alles Leben ist, das mit ihm in Berührung kommt. Immer mehr Missbildungen und geistige Behinderungen werden in Tabak-Anbaugebieten in Lateinamerika registriert, ebenso gehäuft auftretende Krebserkrankungen in Wohngebieten, in deren Nähe gespritzt wird. Wissenschaftliche Studien, die eindeutige Zusammenhänge belegen könnten, gibt es kaum – Monsanto selbst weist jede Verantwortung von sich.

US-Präsident Barack Obama hat Ende April das Monsanto-Schutzgesetz (Monsanto Protection Act) unterzeichnet. Es sieht vor, dass Monsanto auch gegen den Willen der obersten Gerichtshöfe der einzelnen amerikanischen Bundesstaaten genmanipuliertes Saatgut anpflanzen darf. Damit ist den widerspenstigen Staaten die Möglichkeit genommen worden, Firmen wie Monsanto gerichtlich zu stoppen und zu verhindern, dass sie zu einem Experimentierfeld für genmanipulierte Experimente werden.

Versuche-mit-Gentech-Weizen-Archiv-

Das ist für die Inselkette Hawaii eine vernichtende Entscheidung: „Weil Hawaii geografisch so abgelegen liegt und nicht im Fokus der Berichterstattung, ist es hervorragend geeignet, um dort chemische Experimente durchzuführen. Das Klima der Inselkette und natürliche Reichtümer in Hülle und Fülle haben fünf der weltgrößten Biotech-Konzerne angelockt: Monsanto, Syngenta, Dow AgroSciences, DuPont Pioneer und BASF. In den letzten 20 Jahren haben die zusammen mehr als 5000 Freilandversuche für Pestizid-resistente Saaten durchgeführt auf einer Fläche von 40.000 bis 60.000 Morgen (à 4047 m²) hawaiianischem Land. Ohne Bekanntmachung wurden die somit zu Versuchs-Meerschweinchen für GMO“, berichtet der Blog ‚HAWAII: „A’ole GMO“(„Nicht hier GMO“)‘ der Netzfrauen, die sich übrigens bitterlich über Zensierungen in Facebook beklagten.

Inzwischen gibt es Bestrebungen einzelner US-Abgeordneter, den Monsanto Protection Act rückgängig zu machen und eine breite öffentliche Debatte über die Kennzeichnung von Gentechnik in der Nahrung – dazu eine zunehmende Nachfrage nach natürlichen Nahrungsmitteln in der amerikanischen Bevölkerung.  Die Nahrungsmittelindustrie wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine solche Kennzeichnung, denn sie ist fast automatisch mit einem Vertrauensverlust durch die Verbraucher verbunden. In der EU gibt es zwar eine gültige Kennzeichnungspflicht, die darin enthaltenen Schlupflöcher sind jedoch groß.

Ohnehin löst die Kennzeichnungspflicht das Dilemma nicht, in dem wir alle bereits bis zur Halskrause stecken: Im Bemühen um stetes Wachstum – sei es in Erntemengen oder wirtschaftlichem Gewinn – haben wir schon lange jedes Maß verloren. Den Hals brechen wird uns in absehbarer Zeit, dass wir einfach vergessen haben, wer wir sind. Wir sind Menschen – in der Natur absolut entbehrlich – und keineswegs der Kopf derselben.

Mutter Natur wird es uns deutlich machen.

Petition EU-Saatgutverordnung unterschreiben

Nachtrag: Folgenden Kommentar gab Thomas Hinrichs, zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell, am Montag zur Kritik an der ARD-Berichterstattung in Facebook ab:

„Liebe Freundinnen und Freunde der Tagesschau, liebe Kritikerinnen und Kritiker,

haben Sie vielen Dank für Ihre kritischen Anmerkungen und Anregungen zu unserer Berichterstattung. Sie hilft uns, weil sie redaktionelle Diskussionen zur Themenlage eines Tages ergänzt und zuweilen auch erweitert. Die Kritik an der redaktionellen Einschätzung des „Marsches gegen Monsanto“ veranlasst mich, noch einmal auf ein paar Grundsätze unserer Arbeit hinzuweisen. 

Es ist legitim und auch verständlich, dass sich Personenkreise bestimmten Themen besonders verbunden fühlen. Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind so ein Thema, das polarisiert. Auch bei uns in der Redaktion gibt es naturgemäß Gegner und Befürworter einer Vorgehensweise, die Gentechnik forcieren bzw. einschränken will. Auf die redaktionelle Arbeit darf das keinen unmittelbaren Einfluss haben. Es hängt nicht davon ab, wer gerade Dienst hat, wenn es um die Einschätzung der Nachrichtenlage eines Tages geht. Wir legen unsere, d.h. Tagesschau-Kriterien an, die sich über Jahrzehnte bewährt haben und von größtmöglicher Objektivität und Seriosität gekennzeichnet sind. Wir lesen angemessene Kritik aufmerksam und beziehen sie selbstverständlich mit ein. Am Ende aber muss die Redaktion entscheiden. Denn es sind nicht nur Monsanto-Gegner, die uns schreiben und mit Aufforderungen überziehen. Gäben wir dem nach, würden wir unsere Relevanzkriterien aufgeben und mit ihnen unsere Glaubwürdigkeit. Das können und werden wir nicht tun.

Der Aktionstag der Anti-Monsanto-Initiative hatte durchaus Chancen, in die Sendung zu kommen. Wir müssen aber jeden Tag für sich beurteilen und verschiedene Themen gegeneinander abwägen. Ein paar hundert Demonstranten in ein paar deutschen Städten reichten am Ende nicht, um in der Relevanzabwägung zu den wichtigsten Themen des Tages zu gehören. Zu mehr haben wir leider keinen Platz. Ich habe Verständnis für jeden, der das aus persönlichen Motiven anders sieht. Wir aber dürfen uns aber mit keiner Sache gemein machen, selbst wenn es eine gute ist – so hat es einst der große Hanns Joachim Friedrichs formuliert. In diesem Zusammenhang bedauere ich sehr, dass unsere vielfältige Berichterstattung zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln – auch mit Blick auf und Kritik an Monsanto – wegen des Depublizierungsgebotes nicht mehr abrufbar ist.“

Weitere Links:

Offizielle deutsche Homepage von Monsanto

Wer investiert in Monsanto-Aktien?

Landwirtschaftsministerium: Das deutsche Gentechnikrecht

Gentechnologie beim Menschen – Videos

Facebook-Seite: March against Monsanto

Facebook-Seite Gentechnik stoppen

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Update: Monsanto von Protesten unbeeindruckt

Update: Monsanto soll Blackwater-Sicherheitsdienst auf Aktivisten angesetzt haben

Update: US-Landwirte klagen gegen wild wuchernden Weizen

Update: Liste der in Deutschland zugelassenen Pflanzenschutzmittel (Stand: April 2014)

Update: Fünf weitere Gentechnik-Pflanzen kommen nach Europa

Update: EU genehmigt 19 genveränderte Pflanzen

Update: Versuchs-Paradies Hawaii: Keine Chance, sich zu wehren

Update: Monsanto will Syngenta übernehmen

Update: Schlappe für Monsanto: Mehrheit der EU-Staaten verbietet Genmais

Update: Monsanto entwickelt tödliches Gen-Spray gegen Schädlinge

Update: Glyphosat: Positive Hinweise auf Tumorbildung

Update: Monsanto-Genmais in Europa

Update: Europas Bauern dürfen wohl weiter Glyphosat versprühen

Update: Gen-Mais in den USA wird resistent gegen Schädlinge

Update: US-Cartoonist wegen kritischer Saatgut-Karrikatur gefeuert

Update: Merkel will für Glyphosat kämpfen

Update 15.9.2016 Bayer kauft Monsanto

Update: Lässt sich mit Gentechnik der Welthunger stillen?

Update: Nach dem Deal mit Bayer: Warum die Monsanto-Aktie nicht steigt

Update: Mit Bayer wird Monsanto noch größer

Update: 56 Milliarden-Deal perfekt: Bayer übernimmt Monsanto und lässt den Namen verschwinden

US-Gericht: Glyphosat verursacht Krebs – Monsanto muss 250 Millionen zahlen