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„Nahe-Skywalk“: Licht und Schatten einer viel gelobten Tourismus-Attraktion

Es ist viel los an diesem August-Sonntag im Biergarten der Gastronomenfamilie Schorsch: Motorradfahrer, Fahrrad-Ausflügler, Urlauber vom nahegelegenen Campingplatz und Einheimische essen zu Mittag von der preiswerten gutbürgerlichen Speisekarte. Wer hier sicher einen Platz bekommen will, muss reservieren.

Bis vor die Tür des Gasthauses kann man heute nicht mehr wie früher fahren; eine Schranke schützt das mittelalterliche Mini-Örtchen St. Johannisberg vor Motorenlärm. Aber ständig marschieren Touristen durch die kurze Hauptstraße, lassen sich auch von den Kindern nicht an den Straßenrand drücken, die gern hier weiter auf ihren kleinen Fahrrädern brausen würden. Die wenigen erwachsenen Menschen, die überhaupt zu sehen sind, erwidern einen freundlichen Gruß nicht unbedingt. Manche schauen regelrecht feindselig. Außer dem Gastwirt hat hier auch kaum jemand etwas vom neuen Ruhm des idyllischen Ortes: Dessen großer Vorzug war bisher die Abgeschiedenheit und ländliche Ruhe trotz relativer Nähe zu den Einkaufsmöglichkeiten der Umgebung. Das ist nun alles anders: St. Johannisberg zählt tausende Besucher.

Es war nicht die kleine, fast 800 Jahre alte gleichnamige Stiftskirche mit ihren eindrucksvollen Kulturdenkmälern, die diesen Umschwung bewirkt hat, obwohl sie aus ihrem Kirchgarten mit den riesigen alten Bäumen und der dicken steinernen Mauer einen wundervollen Panoramablick über das Nahetal ermöglicht. Man muss eine Weile suchen, wenn man im Internet Informationen über sie haben möchte – und dafür muss man ihren Namen kennen. Das Kirchlein steht so nah am inzwischen stillgelegten Abgrund des Steinbruchs, dass ein Teil seines Gartens gesperrt wurde. Nicht dieses herzerwärmende Stück Kulturgeschichte wird auf allen touristischen Kanälen wie wild vermarktet; nein: St. Johannisberg verfügt seit Januar 2015 über einen sogenannten „Nahe-Skywalk“, eine Aussichtsplattform direkt unterhalb des besagten Biergartens, die ebenfalls eine Panorama-Sicht über das Nahetal gewährt. Von hier aus kann man auch einen besonders guten Ausblick über den aktiv betriebenen Kirner Steinbruch genießen; im Sommer wochentags manchmal allerdings nur auf dessen Staubwolken, die das West-Entree des Städtchens wirkungsvoll verhüllen. Die intensive Vermarktung des „Skywalks“ wirkte prompt: Schon sechs Wochen nach der Eröffnung der Plattform hatte man 5000 Besucher gezählt.

„Das war so etwas wie eine Stammtischidee,“ erzählt Werner Müller, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Kirn-Land gern, wenn er nach der Entstehungsgeschichte des „Skywalks“ gefragt wird. Er selbst habe mit Hans-Helmut Döbell, dem Ortsbürgermeister der Großgemeinde Hochstetten-Dhaun und Ideengeber Michael Schorsch in besagtem Biergarten des Gastwirtes gesessen. Im Verlauf der Unterhaltung sei  man auf den Skywalk im Grand Canyon zu sprechen gekommen und habe sich für den Gedanken, eine Miniausgabe desselben über die Steinbrüche zu bauen, sofort begeistert.

Gedacht, getan: Nach der Zusage ungewöhnlich hoher EU-Fördergelder begann der Bau der Plattform. 120 Meter über der Nahe ragt sie etwa 7,50 Meter aus dem Fels heraus, in dem sie tief verankert ist. Rund 60 Tonnen Beton und 15 Tonnen Stahl wurden verbaut. 228 000 Euro kostete das Bauwerk, 137 000 Euro zahlte Brüssel, 28 000 das Land Rheinland-Pfalz, 42 000 Euro die Verbandsgemeinde Kirn-Land und 21 000 die Gemeinde Hochstetten-Dhaun. Profitieren soll der Tourismus dreier Verbandsgemeinden: Kirn-Land, Rhaunen und Kirchberg sind  in der Hunsrück-, Schiefer und Burgenstraße zusammengeschlossen, die ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt auf Schloss Dhaun verwaltet wird. Auch der Wildgrafen-Wanderweg, der hier vorbeiführt, soll um eine Attraktion bereichert werden.

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Rund 1800 Einwohner hat die Gemeinde Hochstetten-Dhaun nahe Kirn in Rheinland-Pfalz. Neben dem Haupt-Ort Hochstetten, durch den unaufhaltsam der Verkehrsstrom der B 41 fließt, gibt es auf der anderen Naheseite den bis zum anstehenden Bau der „Umgehung“ noch ruhigen Ortsteil Hochstädten, auf der Hunsrück-Seite das Dörfchen, das nach dem gleichnamigen Schloss Dhaun benannt ist, den Weiler Karlshof – mittlerweile ebenso wie Schloss Dhaun Durchgangsstraße für alle, die eigentlich eine Ostumgehung Kirn gebraucht hätten – sowie den bis zu dem schicksalhaften Stammtischabend fast vergessenen Mini-Ort St. Johannisberg, der am Ende einer Sackgasse scharf an der Abrisskante eines stillgelegten Teils des Basalt-Steinbruchs über der Nahe liegt. Auf der „Meckenbacher Höhe“ über Hochstädten residiert übrigens der Flugsportverein Kirn, der regelmäßig Interessenten Rundflüge über die Gegend ermöglicht.

St. Johannisberg ist ein uralter Weiler rund um die gleichnamige Stiftskirche, deren genaues Entstehungsdatum niemand mehr kennt. 1283 jedenfalls wurde sie erstmals als Besitz der Wild- und Rheingrafen zu Dhaun urkundlich erwähnt. Die lebten auf Schloss Dhaun, hoch über dem Kellenbachtal – heute eine bemerkenswert weitläufige Ruinenanlage, in der sich eine Bildungsstätte befindet. Sie bietet herrliche Ausblicke gleich über mehrere Täler, den schönsten vom Burgfried unter einer riesigen Prometheus-Statue. Viele frohe Feste wurden schon im großzügigen Park gefeiert. Der würde tausende von Besuchern fassen – die Infrastruktur des Örtchens damit aber rettungslos überfordern. Die Durchgangsstraße und die Gässchen sind eng, der Parkplatz am Fuß der Ruine begrenzt, und schon beim Sängerfest der Verbandsgemeinde müssen aufwändig Wiesen in der Umgebung bereitgestellt und Einbahnlösungen über Wirtschaftswege organisiert werden, um Zu- und Abfluss der Blechlawinen wenigstens einigermaßen zu regeln.  

Viele stolze Bilder wurden schon von den Initiatoren und allerlei anderen Politikern auf dem „Skywalk“ gemacht; auch rheinland-pfälzische Minister posierten. Es gab Zeitungsberichte, Videos im Landesfernsehen – alle mit jeder Menge Lob für die tolle Idee, Steinbruch, Stahl, Glas und historische Bauten nah beieinander zu vereinen.

Die Einwohner von St. Johannisberg schweigen. Nur einer hat ein Schild an seine Tür gepappt: „Ein Denkmal für unsere Bürgermeister“ steht dort unter anderem zu lesen.

Update: 66 118 Besucher wurden im ersten Jahr des Bestehens auf dem Nahe-Skywalk gezählt – bei weitem mehr als die erwarteten etwa 15 000. Das Mitteilungsblatt des Kirner Landes zeigt denn auch im Januar 2016 an vorderster Stelle alle, die sich die Tat politisch als Erfolg auf die Fahne schreiben im Bild und berichtet: Auch die Stiftskirche St. Johannisberg habe vom Besucheransturm profitiert, die Zahl der Führungen habe stark zugenommen.  Anhand der Autokennzeichen habe man ermittelt, dass der Einzugsbereich sehr groß sei: Vom Saarland über die Mosel und dem Rhein-Main-Gebiet bis zum Ruhrgebiet habe die Sehenswürdigkeit Besucher angezogen. Die Wertschöpfung, so zeigte sich Bürgermeister Werner Müller überzeugt, übersteige den von Orts- und Verbandsgemeinde geleisteten Eigenanteil deutlich.

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Update: Drohnenvideo vom Skywalk

Die Wahrheit ist: Das amerikanische Imperium ist dabei, unterzugehen

Romney als Kandidat der Reichen und Obama als Kandidat des Volks – die Deutschen neigen dazu, die US-Wahl als eine zwischen Gut und Böse zu sehen. Das ist ein Irrtum. Egal wer Präsident ist, in Amerika herrscht der totale Kapitalismus. Er hat die Macht, das Land zu zerstören.

Übernommen aus Spiegel Online  – Von Jakob Augstein

Die amerikanische Armee entwickelt eine Waffe, mit der innerhalb einer Stunde jeder Punkt der Welt erreicht – und zerstört – werden kann. Gleichzeitig hängen in Brooklyn, Queens und New Jersey die Stromkabel an Holzpfeilern über der Straße. Der Sturm hat sie fortgerissen, wie in vielen Orten an der Ostküste, und Millionen Menschen sind ohne Strom. Das ist Amerika: Hightech für die Eliten. Entwicklungsland für den Rest. Kein Land hat mehr Nobelpreisträger hervorgebracht als die USA. Aber in New York mussten Krankenhäuser evakuiert werden, weil die Notstromaggregate nicht ansprangen.

Wer das für einen Widerspruch hält, hat nicht begriffen, dass Amerika das Land des totalen Kapitalismus ist. Für dessen Funktionieren sind öffentliche Krankenhäuser nicht notwendig und die Energieversorgung privater Haushalte auch nicht. Die Eliten verfügen über ihre eigene Infrastruktur. Der totale Kapitalismus hat die amerikanische Gesellschaft zerfallen lassen und die Regierung gelähmt. Das Schicksal Amerikas ist kein Betriebsunfall des Systems. Es ist seine Konsequenz.

Obama konnte daran nichts ändern. Romney würde daran nichts ändern. Europa irrt, wenn es die Wahl zwischen den beiden als eine Wahl zwischen Gut und Böse betrachtet. Und eine „Richtungswahl“, wie in manchen Zeitungen zu lesen, ist dies gewiss nicht.

Der Präsident ist ohne Macht

Romney, der schwerreiche Investmentbanker, und Obama, der kultivierte Menschenrechtsanwalt, sind zwei Gesichter eines politischen Systems, das mit Demokratie, so wie wir sie verstehen, nicht mehr viel zu tun hat. Zur Demokratie gehört die Wahl. Aber eine Wahl haben die Amerikaner gar nicht. Obama lieferte den Beweis. Als er vor fast vier Jahren sein Amt antrat, schien das wie ein amerikanischer Neuanfang. Aber das war ein Missverständnis. Obama hat das Lager in Guantanamo nicht geschlossen, er hat die Immunität der mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus der Bush-Administration nicht aufgehoben, er hat die Finanzmärkte nicht reguliert, und vom Klima war im Wahlkampf kaum mehr die Rede. Das Militär, der Apparat, die Banken, die Industrie – gegen ihre Macht ist alle Macht des Volkes nichts, und gegen sie ist auch der Präsident ohnmächtig.

Nicht einmal die berüchtigten Credit Default Swaps, die das Investmenthaus Lehman Brothers in den Abgrund gerissen und die westliche Wirtschaft an den Rand desselben geführt haben, nicht einmal die wurden verboten oder auch nur besser reguliert.

Vermutlich ist es so, dass Obama mehr wollte aber nicht mehr konnte. Doch welche Rolle spielt das?

Wir wollen glauben, dass Obama an den Rechten im eigenen Land gescheitert ist. Und tatsächlich: die Fanatiker, von denen Mitt Romney sich abhängig gemacht hat, haben alles über Bord geworfen, was den Westen ausgezeichnet hat: Wissenschaft und Logik, Vernunft und Mäßigung oder einfach Anstand. Sie hassen die Schwulen, die Schwachen und den Staat, sie unterdrücken die Frauen und verfolgen die Einwanderer, und ihr Abtreibungsmoralismus macht auch vor den Opfern von Vergewaltigung nicht halt. Sie sind die Taliban des Westens.

Für Europa ist es egal, wer die Wahl gewinnt

Aber sie sind das Symptom des amerikanischen Scheiterns. Nicht seine Ursache. In Wahrheit haben in den USA weder die Idealisten der Demokraten noch die nützlichen Idioten der Tea Party Macht über die Verhältnisse.

Aus europäischer Sicht ist es gleichgültig, wer diese Wahl gewinnt. Für uns zählt die amerikanische Außenpolitik. Und da ist Obama keine Taube und Romney kein Falke. Der amtierende Präsident führt seine Kriege zwar lieber mit Drohnen als mit Truppen. Aber den Opfern dürfte es egal sein, ob sie von Menschen oder Maschinen getötet werden. Der Herausforderer seinerseits wird trotz allen Geredes nicht an der Seite Israels in einen Krieg gegen Iran ziehen, den sich die USA nun wirklich nicht mehr leisten können.

Ohnehin ist es falsch, die Republikaner als Partei des Krieges zu bezeichnen und die Demokraten als Partei des Friedens – oder gar als linke Partei. Es waren die Demokraten Harry S. Truman, John F. Kennedy und Lyndon Johnson, die in Korea und Indochina Kriege begonnen haben. Und es waren die Republikaner Dwight D. Eisenhower und Richard Nixon, die diese Kriege beendeten. Und Ronald Reagan, der aus der Sicht europäischer Linker gleichzeitig für das Böse und das Lächerliche der amerikanischen Politik steht, war nach den Maßstäben, an die wir uns inzwischen gewöhnt haben, ein friedlicher Mann. Er hat nur Grenada erobert.

Die Wahrheit ist, dass wir Amerika nicht mehr verstehen. Wenn wir von Deutschland aus dorthin blicken, von Europa aus, sehen wir eine fremde Kultur. Das politische System ist in der Hand des Kapitals und seiner Lobbyisten. Die Checks and Balances haben versagt. Und eine perverse Mischung aus Verantwortungslosigkeit, Profitgier und religiösem Eiferertum beherrscht die öffentliche Meinung.

Der Untergang des amerikanischen Imperiums hat begonnen. Es kann sein, dass die Amerikaner trotz aller Mühe nicht aufhalten können. Aber sie versuchen es nicht einmal.

  • Gudrun Senger

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  • Jakob Augstein, Jahrgang 1967, ist seit 2008 Verleger der Wochenzeitung „Der Freitag“. Augstein hat vorher für die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Zeit“ gearbeitet. „Der Freitag“ steht für kritischen Journalismus aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Er experimentiert mit neuen Formen der Leserbeteiligung und der Verknüpfung von Netz und Print. Die Gestaltung des Layouts vom „Freitag“ wurde bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem durch den Art Directors Club, die Lead Awards, den European Newspaper Award und die Society for News Design.
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Update: Das interessanteste am Wähler sind seine persönlichen Daten… 

 

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