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Heimat hat einen ganz besonderen Duft – Von einer Kindheit im Dorf

„Edgar Reitz mag selbstverliebt sein, aber zumindest hat er etwas Großartiges geschaffen und dem Hunsrück mit der Trilogie ‚Heimat‘ ein folkloristisches Denkmal gesetzt, aber auch Heimat & Idylle einen wundervollen intellektuellen Rahmen gegeben. Die Leichtigkeit im Umgang mit der Dramatik und die unmittelbare Nähe, d. h. die Zeichnung der Figuren, das Drehbuch, die langen Kameraeinstellungen und das Verweben der Zeitläufe mit dem Mikrokosmos des Dorfes hat er fantastisch realisiert.“

So schwärmte dieser Tage einer, der sich im Filmgeschäft auskennt, über den Morbacher Filmemacher, der die Geschichte des Hunsrücks unnachahmlich in Szene und sich selbst damit ein Denkmal gesetzt hat.

Natürlich habe auch ich „Heimat“ gesehen – wie alle Hunsrücker meiner Generation und der darüber; zumal die Geschichte ganz nah bei meinem Geburtsort spielt. Aber es ist schon lange her. Heute ist mein Leben von ganz anderen Menschen und Umständen geprägt. Da kommt plötzlich dieser ‚Heimat‘-Fan daher und löst in mir ein Feuerwerk der Erinnerungen aus … an eine Heimat, die ich im Alter von elf Jahren verlor.

Den Geruch des Dorfes kann ich noch heute unter tausenden erkennen; obwohl sich dort in den letzten 50 Jahren viel verändert hat, ist er gleich geblieben. Und jedes Mal wieder wird mein Herz ganz weit.

Unser Haus war für damalige Verhältnisse modern. Wir hatten eine Ofen-Zentralheizung, ein Bad mit Badewanne, braune Holz-Läden und an der Außenwand wuchsen prächtige, duftende Kletterrosen und ein Weinstock. In unserem großen Garten wuchsen Erdbeeren der Sorte Senga Sengana, Himbeeren und viele Johannisbeeren.  Sie zu pflücken war immer ein Wagnis, denn die Bienen im hinteren Teil waren im Sommer meist sehr nervös. Aber die Beeren schmeckten grandios und waren Grundlage für jede Menge Saft, Marmelade und Gelee.

Wenn im Dorf geschlachtet wurde, bekamen wir immer je einen Ringel Blut- und Leberwurst, sowie ein Eimerchen Wurstsuppe. Die hätte ich geliebt – wenn obendrauf nicht zentimeterdick das  Fett gestanden hätte… Geschlachtet wurde bei den Bauern auf dem Hof. Einmal war ich blass vor Entsetzen, als das Schwein dem Bolzenschläger entkam und schreiend zu flüchten versuchte. Kaum hatte man es eingefangen und der Metzger es schließlich getötet, lag der zuckende Körper auch schon in der Wanne heißen Wassers und wurde abgeschabt. Es roch nach gekochter Haut und verbrühten Haaren, und ich fragte mich schaudernd, ob das Tier wirklich nichts mehr fühlen konnte.  Danach hieß es Blut rühren für die Wurst – auch diesen Geruch werde ich nie vergessen.

Solange er lebte, musste ich abends Milch holen bei „Paule Philipp“. Der große, schwere, schweigsame Mann war der ehemalige Dorfhirte. Man raunte sich zu, er habe nach dem Krieg sechs marodierende Polen erschossen, um die Herde zu schützen. Paule Philipp hütete auch den Zuchtbullen des Dorfes. Staunend saß ich in unserer Einfahrt, wenn das massige Tier hinter brünstigen Kühen im Kreis herumgeführt wurde, bis es sie dann besprang. Philipps Frau Paula bereitete jeden Abend das selbe Essen zu: warme Fleischwurst mit Kartoffelpüree. Auch dieser Geruch, der immer die Küche erfüllte, wenn ich ihr das Geld für die Milch gab, gehört untrennbar zu meiner Kindheit.

Heute steht das alte Fachwerkhaus der beiden nicht mehr, auch die Stallungen wurden abgerissen. Später holte ich die Milch ein paar Meter weiter beim Hof der Herbers. Dort wurde ich sowas wie das vierte Kind: Ich war immer und überall dabei. Ich liebte es, abends im Kuhstall zu sein, den Tieren zuzusehen, wie sie gemächlich mahlend kauten, dem Saugen und Klopfen der Melkmaschine zu lauschen, den ruhigen gleichmäßigen Bewegungen von Onkel Gustav und den Kindern zu folgen, wenn die den Mist herausgabelten und frisches Stroh aufschütteten.

Währenddessen wurde in der Küche das Abendessen bereitet. Es gab Berge von Bratkartoffeln, heiße Brühe, geräucherte Wurst und selbstgebackenes Bauernbrot. Das klemmte Onkel Gustav an die linke Schulter. Dann schnitt er mit einem großen Brotmesser perfekte dünne, riesengroße Scheiben ab.

Alle Essensreste kammen in der Kammer in den „Saueimer“. Jeden Tag sammelte sich da eine fürchterliche Brühe: Milchreste, Brot, Fleischreste, Kartoffeln, Brühe, Gemüse – alles durcheinander. Die Schweine quiekten vor Begeisterung und prügelten sich um den Inhalt, wenn der Eimer abends ausgegossen wurde. Von der Kammer ging es durch die Futterküche, wo die Rüben geraspelt wurden, in den Schweinestall. Da waren die winzigen Ferkelchen unter einer wärmenden Rotlichtlampe sicher davor, dass ihre Mutter sie versehentlich erdrückte. Regelmäßig mussten die Kleinen zum Trinken angelegt werden. Ich durfte helfen und weinte vor Freude über das Wunder des Lebens. Manche Schweine haben blaue, andere braune Augen. Und diese langen Wimpern, und der kluge Blick…

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Ein anderes Mal, Jahre später, durfte ich bei der Geburt eines Kälbchens helfen, das falsch herum im Mutterleib lag. Wir musste die Beinchen im Körper der Kuh zusammenbinden, damit die Geburt ohne Verletzungen von Mutter und Kind stattfinden konnte. Auch da war ich von Tränen überströmt, als das Kleine endlich draußen und mit Heu trocken gerieben war.

Alles, einfach alles fand ich toll auf dem Bauernhof. Wann immer ich weg durfte, stand ich an und fragte, was ich helfen könne. So durfte ich das frische Heu mit der Gabel ins Gebläse schieben, das es auf den „Heustock“ blies. Ich war staubbedeckt, berauscht vom Duft der Gräser  und glücklich. Wenn die Kartoffeln geerntet wurden, ging ich mit den anderen durch die Furchen und sammelte sie in Körbe. Als die Rüben dran waren, durfte ich den Traktor im ersten Gang schrittweise nach vorn bewegen, während die Anderen die Rüben auf den Wagen warfen. Ich platzte fast vor Stolz und trank den Duft der frischen Erde wie das schönste Parfüm der Welt.

Einmal, als die Ernte vorbei war, belohnte uns Onkel Gustav. Ich durfte mit ihm und den Kindern des Hauses auf dem Traktor in die Kreisstadt fahren. Es war fast eine Weltreise – aber es war fantastisch, im Schneckentempo auf dem unbedachten Gefährt durch die Landschaft zu tuckern und sie in sich aufzunehmen. In Der Kreisstadt gab es einen Eisbecher für jeden von uns – es war der erste meines Lebens.

Wenn die Kartoffeln eingebracht waren, war es Zeit, sie ins Silo zu schaffen, von wo aus sie später als Schweinefutter dienen sollten. Immer im Herbst kam dazu „die Dämp“ für zwei Wochen ins Dorf. In großen Druckkesseln wurden die Kartoffeln gegart, bevor man sie mit Holzschuhen in gemauerte Becken einstampfte. Für uns Kinder war das ein Fest. Wir belagerten die großen Dampfgarer, und immer wenn eine Ladung fertig war, gab es glühend heiße Pellkartoffeln für alle.  Nachbarskinder kamen mit Schüsseln, die sie sich mit Kartoffeln füllen ließen. Zuhause gab es bei ihnen als Mittagessen Pellkartoffeln mit Salz und Butter oder mit Quark. Im Freilichtmuseum Bad Sobernheim kann man beim Herbstmarkt die „Dämp“ noch immer bewundern und dabei für sich selbst feststellen: Nirgendwo schmecken frische Pellkartoffeln besser!

Als letztes kam immer der Weißkohl dran. Auch zu uns nach Hause kam ein Mann mit dem Kohlhobel und hobelte jede Menge Weißkohl in feine Schnitze. Die wurden dann lagenweise in einen schweren Steingut-Topf geschichtet und gesalzen. Ein Tuch drüber, dann ein Holzstück, und darauf einen schweren Stein. Einige Wochen später war das Sauerkraut fertig. Aber es war eine Herausforderung, es aus diesem Topf zu holen: Über dem Tuch hatte sich eine schmierige weiße Salzlake gebildet, die ich furchtbar eklig fand. Das Festessen mit Sauerkraut liebte ich dafür: Es gab Tafelspitz mit Sauerkraut, dicken weißen Bohnen und Meerettichsoße. In der Kochbrühe vom Rindfleisch garten köstliche Markklößchen, natürlich selbst gemacht. Und zum Nachtisch gab es feinen Vanillepudding mit Schokosoße und Schokoladenpudding mit Vanillesoße.

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Zu dieser Zeit hatten wir noch kein Auto. Erst später, als wir zuhause schon drei Kinder waren, bekamen wir einen DKW. An dem Tag, an dem das Auto unser wurde, zog meine  Mutter ihr schönstes Sommerkleid an – es war weiß mit schwarzen Punkten drauf – und wir fuhren spazieren.

Festtage für mich waren die Tage, an denen im Backes Brot gebacken wurde. Es gab einen Plan, nach dem die Familien der Reihe nach dran waren. Dann standen die stämmigen Frauen an den breiten Holz-Tischen bis zu den Ellenbogen im Mehl, kneteten Teig, formten Brote und Kranzkuchen, schwatzten und lachten. Und ich bettelte um Teig – so lange, bis mein Bauch schmerzte. Was für ein herrlicher Duft nach Hefe, frischem Brot und den Wellen (Äste), die in den Öfen verbrannt wurden, um sie anzuheizen! Ich habe nie wieder so gutes Brot gegessen.

In der Nähe unseres Hauses gab es einen niedrigen Apfelbaum. Er war jedes Jahr brechend voll von kleinen, rot-gelb-gestreiften, zuckersüßen Äpfelchen, die niemand erntete. Ich aß davon, bis ich fast platzte. Heute hat sein Stamm einen respektablen Umfang, der Baum ist noch immer kerngesund. Ein Stück weiter steht ebenfalls heute noch der riesige Birnbaum mit den besten grünen Birnen der Welt. Ich durfte davon essen, so viel ich wollte, und ich tat es. Und unten im Dorf, am Gemeindehaus, wuchs ein Nussbaum. Wir holten die Nüsse immer schon runter, wenn sie noch grün waren, häuteten und verzehrten das weiche, noch bittere Fleisch. Heute besitze ich selbst einen  großen alten und zwei junge Nussbäume – aber Nüsse gibt es kaum zu ernten, weil die Raben und Eichhörnchen sie alle frühzeitig abtransportieren.

Im Winter fuhren fuhren wir Kinder Schlitten: durch das ganze Dorf und noch weiter nach unten ins Tal. Eisig war es, und ein Riesenspaß. Man musste nur aufpassen, auf dem unteren Teil der Strecke nicht nach links vom Weg abzukommen. Da lief ein Abwasser vorbei, das die reine Gülle war… Wenn wir dann völlig verkühlt ins Dorf zurück kamen, durfte ich manchmal bei den Eltern meiner Freundin Petra Kaffee trinken. Ich liebte es, dort frisches Brot mit „guter Butter“, dick mit Zucker bestreut zu essen. Wenn der Kaffee zu warm war, goss die Mutter immer etwas davon in die Untertasse und schlürfte genüsslich. Und der Kranzkuchen wurde in den heißen Milchkaffee getunkt. Beides versuchte ich zuhause genau einmal…

1965 nahmen wir am Landeswettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ teil. Im Dorf herrschte helle Aufregung: Die wichtigsten Straßen wurden geteert, viele Häuser wurden herausgeputzt und frisch gestrichen, in den Bauerngärten blühte es in paradiesischen Farben. Die Kommission stolzierte durch den Ort, bewunderte alles – und dann hatten wir tatsächlich den ersten Preis gewonnen. Das war ein Fest! Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich all diese schwer arbeitenden Menschen in Sonntagskleidern vor ihren Häusern sitzen und Wein trinken sah.

Immer am 1. Mai und dem zugehörigen Wochenende ist die Kirmes im Dorf. Da kamen  dann die Schiffschaukel, eine Schießbude und ein Stand mit Süßigkeiten. Wir Kinder verfolgten jeden Schritt des Aufbaus. Wenn die Schiffschaukel dann stand, durften wir meist lange gratis schaukeln – weil die Kirmes ja noch nicht begonnen hatte. Es war die Zeit des Twist, und ich hatte ein Erlebnis, das mich geprägt hat. Im Festzelt spielte eine Band zum Tanz auf. Als sie „come on, let’s twist again“ anstimmte, bildete sich ein Kreis um ein tanzendes Paar. Die beiden Fremden twisteten in herrlicher Perfektion – besonders die Frau, die ein leuchtend blaues Kleid trug, war eine Augenweide. Die Menschen standen um die beiden herum und klatschten begeistert. Ich nahm mir vor, später einmal genauso gut zu tanzen und dabei genauso schön auszusehen…

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Nach der Kirmes, wenn das Festzelt abgebaut war, suchten wir Kinder im Boden nach verlorenen Münzen und atmeten dabei den Resthauch von Bier, Brettern und Bratwurst. Danach begann für mich der Sommer. Es waren heiße Sommer – zumindest in meiner Erinnerung. Das ganze Dorf ging an den Bach zum Baden. Dort war ein kleines natürliches Wehr, vor dem sich ein Becken gebildet hatte, in dem auch kleine Kinder spielen konnten. Ich liebte es. Aber irgendwann kam ein totes Schwein den Bach herab getrieben und verfing sich im Wehr. Danach durfte ich nicht mehr hin.

Abends mussten die Kühe von der Weide zum Melken geholt werden. Ein schönes Stück Arbeit, und manchmal ein ziemlich langer Weg war das. Aber ich liebte die Kühe. Schwere, aber sanfte und unglaublich freundliche Tiere waren sie. Oft, wenn ich mich im Winter einsam fühlte, schlich ich mich in den Stall und schmuste mit ihnen. Einmal hatte das allerdings böse Folgen: Eine Kuh hatte mir den halben Ärmel abgekaut…

So etwa um die Zeit, als ich schulpflichtig wurde, bekamen wir einen Fernseher. Zu ausgewählten Zeiten durfte ich Kindersendungen schauen. Ich liebte Flipper und Daktari wegen der Tiere. Etwa um die selbe Zeit bekamen wir auch einen Kühlschrank und wenig später eine Kühltruhe. Die Truhe stand in der Küche hinter dem Esstisch, mit einem Deckchen drauf und bedeutete unglaublichen Fortschritt. Vorher hatte es im Dorf eine Gefrieranlage gegeben mit abschließbaren Kühltruhen, von denen man Anteile mieten konnte. Aber man musste für jedes Stück Fleisch durchs ganze Dorf laufen. Und alle anderen Dinge mussten im Keller gekühlt werden, wo auch das Holz, die Brikett, das Eingemachte, die Kartoffeln und Winteräpfel lagerten – das funktionierte mal mehr, mal weniger gut. Ich erinnere mich mit Schrecken daran, als ich einen neuen Laib Brot  heraufholen sollte, der aber von lauter kleinen schwarzen Käferchen bedeckt war. Iiiihhhhh!

In der Waschküche im Keller schlachtete mein Vater unsere Kaninchen und manchmal ein Huhn, das er im Dorf gekauft hatte. Einmal flog so ein Huhn, bereits ohne Kopf, in der Waschküche herum und machte überall an Wänden und Decke blutige Flecken. Ich war entsetzt. Ein anderes Mal staunte ich Bauklötze, als meine Mutter das Huhn ausnahm, und sich im Bauch eine ganze Reihe von Eiern in verschiedenen Entwicklungszuständen fanden. Boah…

Ganz schlimm war das mit den Kaninchen. Da hatten wir sie das ganze Jahr mit ausgesuchtem Löwenzahn gefüttert, und dann sollten wir sie essen. Das überstieg definitiv meine Möglichkeiten, den Tod all dieser Haustiere zu verdauen.

Wir hatten im Dorf eine einklassige Volksschule. Alle Jahrgänge vom ersten bis zum achten Schuljahr wurden gleichzeitig von einem Lehrer unterrichtet – meinem Vater. Das war eine Herausforderung, nicht nur für den Lehrer. Ich erinnere mich, eine Rechenarbeit völlig verhauen zu haben, weil ich, statt die Aufgaben zu lösen, fasziniert dem Geschichtsunterricht der dritten und vierten Schuljahre zugehört hatte. Es ging um die Völkerwanderung, und ich sah die Goten durch die Lande ziehen, statt zu rechnen.

Das Schuljahr begann immer zu Ostern. Dann musste der Lehrer in den drei zur Verfügung stehenden Räumen Ostereier suchen, versteckt von den Schülern. Die bekamen dafür von ihm Süßigkeiten. Die Tafeln waren mit tollen Bildern vom Osterhasen bemalt. Am Ende eines Schuljahres wurden die scheidenden Achtklässer stilvoll verabschiedet: Wir wanderten an den Bach und sie durften sich Lieder aussuchen, die der Schulchor für sie sang. In der Schule wurde auch Puppentheater gespielt. Immer nach dem Weihnachtsgottesdienst führten die älteren Schüler das Stück im Gemeindehaus auf. Die Puppen wurden mit Pappmaché im Unterricht hergestellt und bemalt.

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Später wurde auf den Schuljahresbeginn nach den Sommerferien umgestellt, was ein Kurzschuljahr erforderte. So absolvierte ich das dritte und vierte Schuljahr in etwas mehr als einem Jahr und kam mit neun Jahren in die Kreisstadt aufs Gymnasium. Ein schlimmer Bruch mit der Heimeligkeit unseres Dorfes war das – ich brauchte zwei Jahre, um mich an diese Schule, den langen Weg früh morgens dorthin, die vielen wechselnden Lehrer und all die fremden Mitschüler zu gewöhnen.

Ja, und dann kam der Tag, an dem wir wegziehen mussten. Die Dorfschule war geschlossen worden, und wir hatten ein Haus gebaut, in einem anderen Dorf. Es war nur etwa 35 Kilometer weit entfernt. Aber für mich bedeutete das einen Abschied auf Nimmerwiedersehen. Die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern unseres Hauses, als wir dem Möbelwagen folgten zu unserem neuen Heim. Und ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen.

 

 

 

Flucht von Königsberg nach Bayern: „Hauts ab, ihr dreckigen Saupreußen“…

Die Puppe. Es war eine große, wunderschöne Puppe mit Porzellangesicht, genau so groß wie die siebenjährige Inge S. Und sie musste in Königsberg zurückbleiben, als es auf die Flucht vor den Russen ging. Inge hat sie nie vergessen. Auch jetzt nicht, wo sie 80 Jahre alt ist. Genau wie ihre Mutter Ilse, die bis zu ihrem letzten Tag nie ihre Kristall-Gläser vergessen konnte, die zu Schutt und Asche zerbombt wurden. In der Nacht zum 30. 8. 1944 ging das stolze Königsberg in Ostpreußen endgültig in Flammen auf.

1944 und 1945 kamen laut Wikipedia 12 bis 14 Millionen Ost- und Sudetendeutsche nach Westdeutschland. Heute ist der größte Teil Ostpreußens polnisch. Königsberg gehört zu Russland und heißt Kaliningrad.

Deutschland ist heute Einwanderungsland für Menschen aus fernen Ländern. Die Abneigung der Einheimischen gegen die Menschen, die so anders sind als wir, steigt. Die Alten erinnern sich aber auch noch an die Zeit, als auch Deutsche Flüchtlinge waren – und fremd im eigenen Land. So auch Inge S., die ihre Lebenserinnerungen für ihre Kinder aufgeschrieben hat. Ihre frühe Kindheit vollzog sich in einem merkwürdigen Zwiespalt: Vater Kurt war Berufssoldat und gehörte damit zu einer Gruppe, die im Dritten Reich mit Lob und Anerkennung öffentlich überhäuft wurde. Während das Dritte Reich in Konzentrationslagern Millionen von Menschen zu Tode folterte (siehe Beiträge Dachau und Hinzert), mussten die Soldaten die arische Abstammung ihrer gesamten Familie nachweisen, um dann im totalen Krieg zu sterben.

Inges Vater Kurt war an der Ostfront. Er überlebte den Kessel von Minsk und landete 1944 mit 158 000 anderen Soldaten in russischer Gefangenschaft, aus der er erst 1948, mehr tot als lebendig heimkehrte. In der Zwischenzeit hatte seine Familie Haus und Hof verloren, die Heimat verlassen müssen, in der die Ahnen nachweislich mehr als 300 Jahre gelebt hatten und war über mehrere Stationen bis Bayern geflüchtet, wo sie in großer Armut lebte.

Die Dörfer, in denen die Vorväter der Familie gelebt und über Generationen immer die gleichen Berufe ausgeübt haben, gibt es zum Teil heute nicht mehr, weil sie nach dem Krieg nicht mehr besiedelt wurden. Andere wurden umbenannt und die deutsche Restbevölkerung von den einst von Hitler als „Untermenschen“ bezeichneten Siegern des Krieges verjagt. Der Weg zurück verschlossen – Inge S., ihre Eltern und Großeltern haben ihre Heimat nicht wiedergesehen.

Hier die Original-Geschichte, bei deren Niederschreiben Inge S. noch einmal in die Haut des siebenjährigen Mädchens geschlüpft ist und sich auch in dessen Sprache ausdrückt:

„1943 wurde ich in Königsberg eingeschult mit fünfeinviertel Jahren. Es wurde zu Ostern eingeschult und zwar der ganze Jahrgang 37. Da ich im Dezember geboren war, hatte ich das Pech, so früh gehen zu müssen. Die Fahrt mit der Straßenbahn war immer beängstigend, weil sie so voll war und die Leute mich nicht rausließen. Einmal musste ich zwei Stationen zurück gehen und kam natürlich zu spät in die Schule. Ich war schrecklich verheult und habe mich sehr geschämt. In der Pause war dann immer mein Freund da und hat auf mich auf gepasst und mit mir zusammen das Pausenbrot gegessen. Der Freund wohnte bei uns im Haus, wir haben immer zusammen gespielt. Er war ein Jahr älter als ich und hieß Reinhold Frenzel. Wir gingen auch immer Pferdeäpfel sammeln. Der Opa machte das auch so, das war guter Dünger für den Garten. Bei uns am Haus hatten einige Leute sich einige Gartenbeete gemacht, und für die hatten wir die Pferdeäpfel gesammelt. Als die Mutti diese „Schweinerei“ bemerkte, hat sie das schnell verboten.

Mittlerweile kam der Krieg immer näher. Fast jede Nacht hatten wir Bombenangriffe. Wir wohnten am Flughafen, da war das besonders schlimm. Wir gingen mit mehrerlei Kleidern übereinander ins Bett. Ich hatte die Aufgabe, mich und den Klaus fertig anzuziehen, die Mutti hat sich und den Kurt angezogen. Dann nahm sie den Kurt und einen Koffer und ich den Klaus und ein Köfferchen mit Kleidern, und wir gingen in den Keller. Auf dem Nachbargrundstück war ein großes Lager mit Ukrainern. Die kamen alle in die Häuser und verstopften die Treppen und Eingänge. Wären wir getroffen worden, wir wären nie da herausgekommen. In der Zeit fing ich an ganz schlimm zu stottern. Die Mutti hatte dafür kein Verständnis. Immer, wenn ich ein Wort nicht heraus bekam, gab es Ohrfeigen. Schließlich wurde es der Mutti zu viel mit den Bombenangriffen,  wir gingen aufs Land zu Oma und Opa Schütz nach Trempen. Das war Anfang August 1944. Kurze Zeit später wurde Königsberg mit Phosphorbomben beworfen und ziemlich zerstört. Wir haben gesehen, wie sie die Tannenbäume abwarfen. Phosphor ist besonders schlimm, weil man ihn nicht löschen kann. Die Leute  sind brennend in den Schlossteich gesprungen und wieder brennend herausgekommen.

Trempen, Ännchen von Tharau-Haus

Ich hatte keine Schule mehr. In der Schule waren Soldaten einquartiert. Nach einer Weile kam auch die Tante Grete mit ihren fünf Kindern aus Insterburg nach Trempen.  Mutti hatte eine Schulfreundin in Trempen, deren Mann der Bürgermeister war. Er kam so ca. Ende September oder Anfang Oktober 1944 immer wieder und hat uns bedrängt, wir sollen Ostpreußen verlassen. Jetzt könnten wir noch mit dem Zug fahren. Einmal kam, kurz bevor wir weg sind – der Papa für ein eineinhalb Tage zu Besuch. Er hatte unseren Kurt noch nicht gesehen, der war schon ein eineinhalb Jahre alt. Stundenlang hat er versucht, den Kurt einmal auf den Arm zu nehmen, aber der hatte solche Angst und schrie, es ging einfach nicht. Danach ging Papa nach Russland und kam ziemlich schnell in russische Gefangenschaft.

Oma und Opa, Tante Grete mit ihren fünf Kindern, Mutti und wir drei Kinder gingen am 20. 10. 1944 auf die Flucht mit dem Zug. Nach einiger Zeit kamen wir nach Zeithain/Sachsen. Wir wurden außerhalb des Ortes in einem Lagerkomplex bei Privatleuten untergebracht.  Unser Kurt hatte von der langen Reise und dem unzureichenden Essen Hungerruhr bekommen. Er war schwer krank. Frau L. war sehr ärgerlich wenn der Kurt immer erbrechen musste und Durchfall hatte. Aber irgendwie hat der kleine Kerl gewusst, was seinem Körper gut tut. Der Kohlenkasten übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Sobald man nicht aufpasste krabbelte er dahin, und fing an Briketts zu essen. Dann war er natürlich von oben bis unten rabenschwarz, und die Mutti musste wieder waschen, was wiederum die Frau L. sehr ärgerte. Wenn die Mutti kochen oder waschen ging, sollte ich immer auf ihn aufpassen. Es gelang mir aber nicht immer, ihn davon abzuhalten, und dann gab es Schläge mit dem Siebenzagel. Das war ein Peitschenknauf mit sieben Lederriemen dran. Ich kroch dann immer schnell unters Bett, da traf sie mich nicht.

In diesem Lagerkomplex befand sich ein Gefangenenlager mit Russen. Innerhalb des Lagerkomplexes durften sie sich  frei bewegen. Für die Mutti hat einer Holz gehackt. Heute, sagte er zu ihr, ich für dich arbeiten, morgen du für mich arbeiten! Wir bekamen immer mehr Angst. Einmal spielte ich mit einem Löffel in der Nähe von Bahnschienen. Da waren Waggons, und es wurden Russen ein- oder ausgeladen, ich weiß es nicht mehr so genau. Plötzlich kam ein Russe und nahm mir den Löffel weg. Ich fing an zu weinen, denn Spielzeug hatte man ja keines. Da kam ein SS – Mann und fragte mich, was mir fehlt. Ich sagte ihm, der Russe hat mir den Löffel weggenommen. Im gleichen Augenblick tat es mir schon leid, ihm das gesagt zu haben, denn er ging auf den Russen zu und schlug ihn sehr. Der Russe musste zu mir kommen und mir den Löffel wiedergeben. Er schaute mich dabei so hasserfüllt an, dass ich mir sehr schuldbewusst vorkam. Der Löffel interessierte mich nicht mehr, und ich hätte was gegeben, wenn ich ihn dem Russen hätte wiedergeben können. Dieses Erlebnis geht mir bis heute nach. Wegen mir ist ein Mensch geschlagen worden, und wer weiß, was sie noch alles mit ihm gemacht haben.

Zelthain 1943-44

In Sachsen ging ich auch wieder in die Schule nach Zeithain. Vom Lager aus war das ein ganzes Stück zu laufen. Wenn dann Fliegeralarm war, sagte der Lehrer immer: Ihr Kinder, lauft schnell nach Hause. An uns Kinder aus dem Lager dachte er nicht. Einmal war wieder Fliegeralarm, und ich war auf dem Heimweg. Es ging mittlerweile auf das Frühjahr 1945 zu.  Plötzlich kam ein Tiefflieger und nahm mich aufs Korn. Er kam ganz tief runter, und aus einem Maschinengewehr wurde auf mich geschossen. Ich lief zick, zack, warf mich auf den Boden und legte den Ranzen über mich, doch er kam immer wieder zurück und schoss aufs Neue. Schließlich stellte ich mich tot und blieb liegen. Zweimal kam er zurück, und dann verschwand er. Ich war wie versteinert. Doch dann brach das heulende Elend aus mir heraus, und ich ging weiter nach Hause. Der Wachmann am Lagertor hatte schon unruhig auf mich gewartet. Als er mich endlich sah, kam er mir entgegengelaufen und trug mich ins Wachhäuschen. „Kind, Kind wo warst du nur so lange“. Ich war so verstört, und sagte immer wieder: „Er hat auf mich geschossen, er hat auf mich geschossen.“ Von da an ging ich nicht mehr in die Schule. Eines Tages, es war der 13. Februar 1945,  ist die Mutti nach Dresden gefahren, um dem Klaus ein Paar Schuhe zu besorgen. Sie hat auch welche bekommen und  war froh darüber. Am selben Abend gab es einen schlimmen Fliegeralarm. Wir gingen alle aus dem Haus. Da sahen wir wieder die Tannenbäume am Himmel über Dresden, und es ging ein fürchterlicher Bombenangriff auf die Stadt runter. Unter den Menschen um mich drum herum fing ein schlimmes Wehklagen an. Zu diesem Zeitpunkt war die ganze Stadt voller Flüchtlinge, tausende Frauen, Kinder und Alte. Ich war starr vor Entsetzen und fühlte große Angst. Mit der Zeit wurde ich immer ernster und stiller. So lebten wir bis etwa Anfang April 1945 im Lager Zeithain.

Dresden

Als die Russen immer näher kamen, machten wir uns erneut auf die Flucht. Zuerst kamen wir nach Riesa. Dort verbrachten wir ein paar Tage in einem Lager, und dann ging es per Bahn weiter in Richtung Bayern. Es war ein endlos langer Zug mit Lokomotiven in der Mitte am Anfang und am Ende. Immer wieder wurde der Zug von Flugzeugen angegriffen, und dann mussten alle im Zug bleiben, damit es so aussah, als ob der Zug schon zerstört sei. Der Opa wurde immer ganz wild, wenn einer versuchte die Tür aufzumachen. Für mein Empfinden waren wir tagelang unterwegs. Der Kurt wurde wieder krank, es starben Leute, Alte wurden verrückt. Immer, wenn wir in einem Bahnhof ankamen, wo das Rote Kreuz warme Milch und Essen anbot, gab es Fliegeralarm, und wir fuhren aus dem Bahnhof raus. Endlich kamen wir bei Nacht in Steinburg, Kreis Bogen/Niederbayern an. Dort erwarteten uns Bauern aus den umliegenden Dörfern mit Ochsenwagen. Das Gepäck wurde aufgeladen, die Alten und die Kinder oben drauf, und ab ging es im Ochsentrott weiter. Der Himmel war sternenklar, und über mir thronte meine trotz Hungers immer noch mächtige Oma Schütz. Sie jammerte in einem fort: „Achott, achott Hanschen, wo bringen die uns bloß mit diesen Ochsen hin“. Trotz allem Elend war mir nach einer Weile zum Lachen zu Mut.

Im Dorf angekommen wurden wir in einen Saal verfrachtet, ein finsteres Loch. Auf dem Boden waren Strohschütten, die von Soldaten benutzt worden waren. Für uns wurden sie nicht gewechselt. Darin war einiges Ungeziefer, und auf dem Boden waren große Rattenlöcher. Die Ratten und Mäuse liefen nachts zwischen uns rum. Anfangs bekamen wir Essen gekocht. Es wurde in großen Kesseln zu uns heraufgebracht. Später wurde ein Herd gemauert, auf dem dann sieben bis acht Familien ihr Essen selber kochen sollten. Jeder wollte zwischen zwölf und halb eins gekocht haben, und so gab es viel Streit.

Es war kurz vor Kriegsende. Am Tage ging ich etwas vor die Tür und schaute mir die Menschen an. Sie kamen mir äußerst seltsam vor. Sie sprachen eine Sprache, die konnte man überhaupt nicht verstehen konnte, und was noch schlimmer war , sie verstanden unser Hochdeutsch auch nicht. Wir kamen uns vor wie im Ausland. Ihre Wohnungen waren sehr einfach eingerichtet, die Kleider waren mit bunten Flicken geflickt, besonders am Hintern. Später wussten wir, dass sie die Hosen auf den Holzbänken sich durchscheuerten. Es war schon so, Fuchs und Hase sagten sich hier gute Nacht. Ich entdeckte auch einmal eine Elster. So einen schönen Vogel hatte ich noch nie gesehen. Bisher war mein schönster Vogel immer der Storch gewesen. Störche liebe ich heute noch sehr. Wenn ich sie sehe, bekomme ich immer ein unbestimmtes Heimweh.

Schließlich war der Krieg zuende, am 8. 5. 1945. Wir sahen auf der Straße, die oberhalb des Dorfes vorbeiführte, Tag und Nacht Panzer, Lastwagen und Militär vorbeiziehen. Bange schauten wir dahin und dachten, wann kommen die zu uns. Und eines Abends waren sie da. Es rumpelte, und es wurde geschrieen unten in der Gastwirtschaft. Dann trampelte es nach oben, wir saßen dicht gedrängt beisammen und fürchteten uns sehr. Die Tür ging auf. Es kamen Menschen herein, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie hatten eine rabenschwarze Haut, man sah das Weiße in den Augen überdeutlich, sie hatten eine ganz rosa Zunge – also es war zum Fortlaufen. Sie fragten, ob wir Soldaten versteckt hätten, wir hatten aber nicht. Dann sahen sie uns Kinder an und fingen an zu lachen, lockten uns mit dem Finger. Wir sollten zu ihnen kommen. Sie wühlten in ihren Taschen herum, und zum Vorschein kamen Plätzchen, Kaugummis und Schokolade. Wir hatten aber solche Angst, wir konnten uns das nicht holen. Dann legten sie alles mitten in den Saal auf einen Haufen und zogen sich zur Tür zurück. Da haben wir uns schnell etwas von dem Haufen geholt und sind wieder zu unseren Müttern zurück gelaufen. Zufrieden gingen sie weg.

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Es kamen im Laufe der Zeit noch mehr Soldaten, Weiße, aber sie haben uns nichts getan. So langsam fingen wir an uns im Saal einzurichten. Die Bauern schauten auf ihren Speichern nach und brachten uns alte Bettgestelle und Strohsäcke, die mit Stroh gefüllt waren. So brauchten wir doch nicht mehr auf dem Boden zu schlafen. Das Ungeziefer nahmen wir natürlich in die Betten mit, und wenn ich abends meine Bettdecke aufschlug, sprang eine Wolke von Flöhen in die Höhe. Mir machten sie nicht viel aus. Aber andere waren sehr verstochen morgens. Wir bekamen auch lange Tische und Bänke, so konnten wir wenigstens am Tisch sitzen und essen oder andere Arbeiten verrichten. Einige von uns bekamen ziemlich schnell im Dorf Zimmer zugeteilt, wo sie wieder für sich wohnen konnten, wenn auch sehr armselig. Die Tante Grete war auch dabei, sie war nämlich schwanger. Der Onkel Fritz, ihr Ehemann, war kurz nach Kriegsende auch wieder da. Ich weiß nicht, wo der so schnell herkam. Auch der Mann von Frau L. war schnell wieder da. Tante Grete bekam mit ihrer Familie zwei Zimmer in der Schule zugeteilt. So nach und nach gingen fast alle weg, nur wir und die Losereits blieben übrig.

Wir haben ein ganzes Jahr auf dem Saal verbracht, Familie L. noch länger. Wir Kinder gewöhnten uns schneller an die neue Situation als die Erwachsenen. Die Mutti musste weite Wege zurücklegen, um Haushaltungsgegenstände wie Kochtopf, Pfanne, Teller und Tassen zu besorgen. Auch Essen war schwierig zu besorgen. Einmal hatte sie Öl ergattert und uns Bratkartoffeln gemacht. Darauf bekam ich die ganzen Beine voll Furunkel. Die Strümpfe klebten an den  Beinen, und ich hatte sie einmal zwei Tage nicht ausgezogen. Ich hatte mir die Furunkel alle selbst ausgedrückt und so gut es ging verbunden. Die Mutti konnte so etwas nicht. Ganz schlimm war es mir, daß ich nachts immer einnässte. Die Mutti war dann immer sehr zornig und hat mich morgens verhauen. Aber ich konnte einfach nichts dafür, ich konnte es einfach nicht verhindern.

Mit der Zeit hörte dieses Übel auf.  Ich fing an im Dorf herumzustromern, entdeckte einen Dorfteich, der voller Frösche war und den Mühlbach. Die Frösche hatten es mir angetan. Ich habe sie immer wieder beobachtet und auch den Laich. Am Bach gab es auch viele Tiere zu beobachten. Dann war ich auch immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Ich hatte ständig Hunger und versuchte die verschiedensten Pflanzen zu essen: Sauerampfer, Sauergras und auch Knospen. Mittlerweile war es Sommer geworden und wir badeten mit mehreren Kindern unten am Bach. Wir hatten uns ganz ausgezogen und badeten nackend. Plötzlich standen auf der anderen Bachseite drei Buben und schauten uns finster zu. Sie riefen auf einmal: „Ihr Hitlerschweine, ihr dreckigen Saupreußen, machts, daß ihr abhauts.“ Wir kamen uns auf einmal sehr nackend vor, ähnlich wie Adam und Eva im Paradies. Schnell zogen wir uns an und liefen nach Hause. So was hat  mich immer sehr verletzt: Man gehörte nicht dazu. Ich verlor immer mehr meine kindliche Unschuld und wurde sehr vorsichtig.

Die Schule fing wieder an. Ich kam gleich ins dritte Schuljahr, obwohl ich das Zweite nur etwa halb besucht hatte. Wir mussten den Stoff vom zweiten Schuljahr erst einmal nachholen ehe wir im Dritten weitermachen konnten. Das Rechnen fiel mir immer sehr schwer. Wir bekamen viele Hausaufgaben auf. So war auch das Einmaleins ganz schnell zu lernen. Das klappte bei mir aber nicht so schnell, und so bekam ich von der Mutti viel Schläge. Der Bubi L. konnte das nicht mehr ansehen und sagte zur Mutti, lass sie in Ruhe, ich werde mit ihr üben. So hat der Bubi mit unendlicher Geduld mit mir das Einmaleins geübt. Der Bubi war damals 16 Jahre alt. Vom Bubi habe ich auch stricken gelernt. Sein Bruder Arno hat mir später Fahrrad fahren beigebracht, der war auch ein ganz Geduldiger.

Wir verbrachten den Herbst und den Winter 1945 auf dem Saal. Es war ungemütlich und kalt. Im Frühjahr 1946 bekamen wir dann auch ein Zimmer im Dorf zugeteilt. Das hatte schräge Wände und einen Herd, und wir waren glücklich, endlich unter uns zu sein. Wir hatten ein Doppelbett, einen Tisch und eine Bank. Hinter dem Tisch wurde ein Feldbett mit Strohsack aufgestellt, das war die Couch und nachts mein Bett. Die Buben bekamen vom Schreiner zwei Betten übereinander geschreinert und so war unser Zimmer komplett. Wasseranschluss und Abfluss hatten wir keinen. Wir mussten alles Wasser aus einem Brunnen vor dem Haus holen und auch raustragen. Es war auch keine Toilette im Haus, die befand sich hinter dem Haus. Aber wir hatten es wenigstens warm. Zu essen gab es immer noch nicht genug, und so versuchte ich, mich beim Bauern E. etwas nützlich zu machen. Dafür gab es immer eine Scheibe ums runde Brot mit Butter. Ach, war das köstlich!

So nach und nach haben die Bauern unter den Flüchtlingen sortiert und fanden einige unsympatisch oder sympatisch. Zu Letzteren gehörten wir. Bei Edenhofers durfte ich immer ein bisschen mehr helfen und dafür gab es jedes Mal etwas zu essen. Ich hatte doch einfach immer Hunger. Die Bauern kamen gleich gar nicht darauf, daß wir Hunger haben könnten. Sie hatten ja, wenn sie auch arm waren, immer satt zu essen. Später haben sie es gemerkt und haben mir immer mal zu essen zugesteckt. Auch durfte ich abends von der sauernen Suppen, in die Brot hinein gebrockt wurde, und die in einem großen Topf auf dem Tisch stand, aus dem alle gelöffelt haben, mitessen. Mir schmeckte sie köstlich. Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als einmal zu sagen: Ich habe Hunger.

Getreideernte,Blick zum Kager

Die Mutti ist mit dem Opa in den Wald gegangen und hat Holz geschlagen, so etwa armdicke Bäumchen. Der Opa ärgerte sich nur immer fürchterlich, dass die Mutti die Bäumchen einen Meter über der Erde abschlug. Er ging dann schimpfend hinterher, und schlug die Stümpfe am Boden ab. Später wurde das Holz gebündelt und nach Hause gezogen und zerkleinert.  Als dann der Herbst 1946 kam, durfte ich die Kühe hüten. Die sollten das letzte Gras abweiden. Ich musste immer aufpassen, dass sie nicht in die angrenzenden Felder gingen. Da bekam ich dann immer eine große Scheibe Brot, ein oder zwei Äpfel und ein Säckchen Walnüsse mit zum Essen. Der Bauer Edenhofer hatte mehrere große Walnussbäume. Etwas zu essen zu bekommen war lange Zeit ein großes Problem für mich.

In dem Haus, in dem wir wohnten, war noch ein Zimmer, da zogen Oma und Opa ein. Das Zimmer war sehr dunkel, es hatte nur ein kleines Fenster unter dem Dach. Als wieder so etwas wie eine kleine Normalität eintrat, bekam die Mutti immer öfter verzweifelte Weinkrämpfe und jammerte um den Papa. Wir wussten ja gar nichts von ihm und konnten uns auch gar nicht vorstellen, wie er uns hier finden sollte. Sie war dann mit nichts zu beruhigen. Ich lief dann immer zum Opa, der war der Einzige, der sie wieder beruhigen konnte. So verging die Zeit. Im Sommer waren wir zur Blaubeerzeit jeden Tag im Wald und haben Blaubeeren gesammelt. Mittags gab es dann immer kalten Griesbrei mit Blaubeeren, oder Blaubeer-Klunker-Suppe. Ich habe später nie mehr wieder Griesbrei essen können. In der Pilzzeit waren wir auch jeden Tag im Wald und haben Pilze gesammelt. Nie mehr wieder habe ich so viele Pfifferlinge im Wald gefunden wie damals im Bayrischen Wald. Da gab es dann eben jeden Tag Pfifferlinge zu essen. Und die hat die Mutti köstlich zubereitet.

Die Zeit verging, und wir schrieben das Jahr 1947, Sommer. Da erhielten wir ein Telegramm aus Berlin von der Tante Trude, einer Schwester von der Oma.  „Der Kurt lebt, Brief folgt!“ Die Tante Trude war in ihrer Wohnung geblieben trotz Bombenangriffen, und die Wohnung gehörte später auch noch zum Westteil Berlins. Papa war seit Ende 1944 in russischer Gefangenschaft. Als aus seinem Lager  einer nach Berlin entlassen wurde, gab er ihm die Adresse von Tante Trude, mit der Bitte seine Adresse zu hinterlassen, mit. Er hoffte sehr, die konservative Tante Trude wäre in ihrer Wohnung geblieben. Er hatte Glück! Tante Trude wusste schon lange, wo wir waren und hat uns gleich benachrichtigt. So haben wir erfahren, dass der Papa lebt und wo er sich aufhält. Die Mutti hat ihm gleich geschrieben, wo wir gelandet sind im Krieg.

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Nach einiger Zeit kam auch ein Brief von ihm zurück. Er durfte nur 25 Worte schreiben, doch wir waren sehr glücklich, etwas von ihm zu hören. Beim nächsten Mal schickte er ein Passbild von sich mit. Ich war so erschüttert über sein Aussehen, ich hatte ihn doch noch aus guten Zeiten in Erinnerung. Auch der Opa war sehr glücklich. Er sagte nämlich immer, mit 66 Jahren stirbt er, wollte aber unbedingt noch erleben, dass der Papa nach Hause kommt. So verging der Sommer und der Herbst 1947 mit Blaubeeren sammeln und Pilze sammeln. Ich durfte bei Edenhofers wieder Kühe hüten, und  mit dem Hunger war es auch nicht so schlimm, denn das Obst war reif, und ich konnte essen so viel wie ich wollte. Ich ging später, als es kein Obst mehr gab, auch auf die Felder und habe Wasserrüben gerupft und gegessen.

Im Winter gab es damals sehr viel Schnee, Ich bin oft bis an die Brust im Schnee versunken. Wir fuhren stundenlang Schlitten und waren abends sehr durchgefroren. Wir hatten nur Trainingshosen und Strümpfe, die an Leibchen mit Strapsen befestigt waren. Da war immer ein Stück Oberschenkel nackend. Das war mir immer wund und brannte. Die Mutti sagte dann, ich solle mit Urin einreiben das würde heilen, und das stimmte. Ich hatte auch nur ein Paar Schuhe. Die waren auf der Sohle mit Nägeln bestückt ,damit sie nicht so schnell durchgelaufen waren. Im Sommer habe ich dann die Schuhe geschont und bin barfuß gelaufen, sobald es keinen Frost mehr gab. Damals hatte ich eine große Sehnsucht nach einer Strickjacke. Die Mädchen in der Schule hatten so schöne selbstgestrickte Jacken. Morgens fror ich immer sehr in meinem dünnen Sommerfähnchen bis die Sonne die Luft erwärmte. Im Winter bat ich die Oma mir zu zeigen, wie man Socken strickt.  Und als ich einmal Wolle ergatterte, gab die Oma mir Nadeln, und ich versuchte mich im Sockenstricken.

Es kam Weihnachten, Familie E. schickte eine Schüssel mit Plätzchen und die Mutti gab von ihrem Pfefferkuchen zu probieren. Die Bauern waren alle gut katholisch und betrachteten uns als arme Heidenkinder. So nahmen mich die E. mit zur Christmette nach Neukirchen. Ich habe zu Weihnachten immer ein Gedicht gelernt, das musste ich zuerst aufsagen, ehe ich das Weihnachtsgeschenk öffnen durfte. Wir haben auch viele Weihnachtslieder gesungen, Opa und Oma kamen rüber, und es war recht gemütlich. Zu diesen Weihnachten bekam ich von der Oma zum Geburtstag ein Paar Skier geschenkt. Ich war sehr stolz und übte nun viel das Skilaufen. In den Nachkriegsjahren gab es in Bayern sehr viel Schnee.

Das Jahr 1948 begann, und langsam wurde es Frühling. In der Schule hatte ich mich mit einem Mädchen angefreundet, die hieß Franziska S. Die S. hatten einen Hof gepachtet und bewirtschafteten ihn mit ihren 8 Kindern. Alle Kinder mussten viel arbeiten. Aber auch fast alle Kinder konnten wunderbar singen, Zither spielen und jodeln. Ich war jetzt auch viel mit der Franzerl zusammen. Sie war so zierlich und tat mir immer so leid, weil sie so viel arbeiten musste. So haben wir nachmittags alle Arbeiten zusammen verrichtet. Dabei haben wir viel gesungen. Die Franzerl konnte  jodeln und hat es mir auch beigebracht. Ich stellte überhaupt fest, dass Singen und Musik mir sehr viel Freude machten. Ich habe meine Traurigkeit und meine Freude immer mit Musik herausgelassen. Und Jodeln war was Wunderbares, um überschäumende Freude in die Welt zu schreien.

Im März 1948 starb ganz plötzlich der Opa. Ich glaube, es war ein Herzinfarkt. Sie waren zu diesem Zeitpunkt in Bimölen in Schleswig-Holstein. Dort waren alle Tremper, die die Flucht überlebt hatten. Der Opa wollte sie alle unbedingt noch einmal sehen. Er war so ausgelassen und froh am Tag vorher. Er hat sogar getanzt. Am anderen Morgen bekam er Herzschmerzen, fiel um und war tot. So hat er nicht mehr erlebt, wie der Papa nach Hause kam. Er ist in Bad Bramstett begraben worden. Es war Sommer und die Währungsreform rückte immer näher. So etwa um den 15.06.1948 schrieb der Papa, er sei im Lager Friedland und er komme in den nächsten Tagen nach Hause. Von da an ist die Mutti jeden Tag nach Steinburg an den Bahnhof gelaufen, morgens und abends. Jedes Mal 6 Kilometer hin und zurück. Am 18.06.1948 wurde die Reichsmark eingesammelt und die Deutsche Mark ausgegeben.

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Am 20.06.1948 kam der Papa aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Ausgerechnet an diesem Tag war die Mutti mal nicht an den Bahnhof gegangen. Ich war zu diesem Zeitpunkt im Wald und sollte eine Milchkanne voll Blaubeeren sammeln. Plötzlich höre ich meinen Cousin Heinz-Günter rufen, Inge, wo bist du, dein Vater ist Nach Hause gekommen. Ich sagte zu ihm, ich glaube dir nicht. Er hat mich nämlich immer veräppelt. Jedoch er sagte, ich pflücke deine Kanne voll, wenn das nicht stimmt. Wenn so ein Faulpelz das sagt, könnte es ja doch stimmen, dachte ich mir und ging nach Hause. Ich kam nach Hause und sah meinen armseligen Vater da sitzen. Ich kannte ihn doch noch aus guten Tagen, einen stolzen schönen Papa. Da überkam mich ein so unendliches Weh, und ich musste ganz jammervoll weinen, das erste Mal seit wir von Ostpreußen weggegangen sind. Ich konnte mich gar nicht beruhigen. Da riss mich meine Mutter von ihm weg, es wäre jetzt genug, ich solle in den Wald gehen und meine Kanne vollpflücken.

So ging ich halt wieder in den Wald zurück und weinte mich da aus. In den folgenden Tagen sah ich mir meinen Papa genauer an. Er war nur Haut und Knochen. Überall hingen die Hautlappen herunter, der Po bestand nur aus zwei Hautlappen. Nach einiger Zeit hat sich das ganze Gewebe mit Wasser gefüllt, und unser Papa kämpfte ums Überleben. Er lag da wochenlang und stank ganz fürchterlich. Die Mutti musste ihn wie ein Baby aufpäppeln und langsam ans Essen gewöhnen. Das hat sie ganz vorbildlich gemacht. Es war gut ,dass es Sommer war. Wir gingen viel nach draußen, und so hatte der Papa seine Ruhe. Es dauerte ein Jahr lang bis der Papa wieder arbeiten konnte.“

Am 2. 1. 1952 hat Vater Kurt eine Stelle an der Mosel angetreten. Knapp zwei Jahre später war die ganze Familie dort wieder vereint. Inge S. begann eine Lehre als zahnärztliche Helferin und trat in die Winzertanzgruppe ein. Am 1.4.1956 antwortete sie auf eine Anzeige ihres späteren Ehemanns. 13 Jahre später ging ein großer Traum in Erfüllung: Die inzwischen sechsköpfige Familie des Paares zog auf dem Hunsrück ins eigene Haus. Das ist inzwischen lange bezahlt. Im Herbst ihres Lebens kann Inge S. auf die Erfüllung zweier großer Wünsche zurückblicken: Sie hat einen Menschen gefunden, auf den sie sich verlassen kann, mit dem sie kürzlich Diamantene Hochzeit gefeiert hat. Und: Die beiden leben im eigenen Haus an einem Ort, von dem sie niemand mehr vertreiben kann.

Siehe auch: Die amerikanische Leimrute

Update: Vor 75 Jahren starb das stolze Königsberg in einem Feuersturm