Wenn du der Dealer bist, bin ich raus aus dem Spiel
wenn du der Heiler bist, heißt das, ich bin gebrochen und lahm
wenn dein die Herrlichkeit ist, muss mein die Schande sein
Du willst es dunkler
töten wir die Flamme
Riesig, geheiligt sei den heiliger Name
geschmäht, gekreuzigt in der menschlichen Gestalt
Millionen Kerzen brennen für Hilfe, die nie kam
Du willst es dunkler
Hineni – ich bin bereit, mein Herr
Da ist ein Liebender in der Geschichte
aber die Geschichte bleibt immer gleich
ein Schlummerlied für Leid
und ein Paradoxum ist schuld
Doch steht geschrieben in den Schriften
und es ist nicht einfach eine leere Beschuldigung
Du willst es dunkler
töten wir die Flamme
Sie stellen die Gefangenen in Reihen auf
und die Wärter zielen auf sie
Ich kämpfte mit Dämonen
Sie waren mittelmäßig und dressiert
Ich wusste nicht, dass ich die Erlaubnis hatte, zu morden und zu verstümmeln
Du willst es dunkler – ich bin bereit, mein Herr
Hineni – ich bin bereit, mein Herr
Leonard Cohen
If you are the dealer, I’m out of the game If you are the healer, it means I’m broken and lame If thine is the glory then mine must be the shame You want it darker We kill the flame
Magnified, sanctified, be thy holy name Vilified, crucified, in the human frame A million candles burning for the help that never came You want it darker
Hineni, hineni – I’m ready, my lord
There’s a lover in the story But the story’s still the same There’s a lullaby for suffering And a paradox to blame But it’s written in the scriptures And it’s not some idle claim You want it darker We kill the flame
Selbstmorde von prominenten Schauspielern und Sportlern haben das Thema in den letzten Jahren mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt: Eine Depression ist eine ernst zu nehmende Krankheit. Sie hat nichts mit einem Burnout zu tun – auch wenn sie oft gemeinsam mit einem solchen auftritt. Es gibt verschiedene Formen der Depression – allen gemeinsam ist jedoch, dass sie ab einem bestimmten Stadium die Betroffenen in akute Suizidgefahr bringen.
Im Gegensatz zur Meinung mancher Angehöriger geht es einem Menschen, der sich in einer solchen Lage selbst auslöscht, nicht um Rache, auch nicht um Schuldzuweisungen. Er ist einfach nur nach einem langen, einsamen und, wie ihm scheint, völlig aussichtslosen Kampf müde – so qualvoll erschöpft, dass ihm der Tod wie ein tröstlicher, letzter Ausweg erscheint.
Auch in meinem Umfeld gab es im Laufe der Jahre drei Selbstmorde nach vielen Jahren Depression. Bezeichnenderweise waren es auch hier Männer, die letztlich den Mut hatten, Hand an sich anzulegen. Statistisch gesehen leiden aber mehr Frauen als Männer unter schweren Depressionen. Ich will deshalb hier die Lebensgeschichte einer Frau erzählen – sie ist bestmöglich anonymisiert.
Sie kann sich genau an das Lebensgefühl erinnern, das sie hatte, als sie noch „rund“ war. Als sie die totale Lebenskraft in sich fühlte, gern und viel lachte, voller Tatendrang war und damit ihren Eltern gehörig auf die Nerven ging. Wie alt genau sie war, als das aufhörte, weiß sie nicht mehr. Aber es war lange vor der Einschulung.
Im Kindergarten blieb sie nicht lange. Der Vater fand, die Erziehung dort sei zu primitiv. Sie erinnert sich, dass sie an heißen Sommertagen allein durchs Dorf strich, auf der Suche nach Spielgefährten. Sie weiß noch, wie leer und bleischwer sie sich dabei fühlte und wie sie manchmal bei den Kühen im Stall Zuflucht suchte. Die waren so warm und weich.
Sie weiß auch noch, wie sehr sie das Dorf liebte. Das Dorf, seinen Geruch, und wenn sich beim Heimkommen die Abendsonne in den Fenstern ihres Hauses rot spiegelte. Dann war ihr Herz ganz heiß, und Tränen der Liebe stiegen ihr in die Augen. So ist das überhaupt mit ihren Gefühlen. Entweder sind sie völlig weg – oder so überwältigend, dass sie ihrer kaum Herr wird. Besonders das Mitgefühl machte ihr schon früh zu schaffen: Als das Schwein vor der Tötung mit dem Bolzenschussgerät über den Hof ausbüchste und herzzerreißend schrie, bettelte sie den Bauern an, das Tier nicht zu töten. Als es schließlich erwischt wurde und kurze Zeit später im heißen Siedebad lag, wo ihm die Haare abgeschabt wurden, fühlte sie rasenden Schmerz im eigenen Fleisch. Das war kurz bevor sie endlich auch eine Schultüte bekam und mit den anderen in die Klasse durfte.
Es folgten ein paar schöne Jahre, in denen sie nicht so allein war. Sie liebte den Unterricht, fand absolut alles interessant. Sie war gern in der Gruppe, spielte mit den anderen Völkerball, versuchte sich im Fußball, fuhr mit den Kindern des Dorfes Schlitten. Beinahe wäre sie gewesen wie sie.
Als sie neun ist, muss sie zum Gymnasium in die Kreisstadt. Der einzige Junge aus dem Dorf, der auch dorthin geht, ist sitzen geblieben und deshalb in ihrer Klasse. Er bespuckt sie den ganzen langen Weg vom Bahnhof zur Schule und zurück. Jeden Tag. Er ist groß und dick. Sein Vater auch. Deshalb kann ihr Vater nichts unternehmen. Gott sei Dank bleibt der Junge nochmal sitzen und verlässt am Jahresende die Schule.
Abgesehen davon hat sie von den ersten Jahren nur noch fragmentale Erinnerungen: Dass ihr die Hand fast abfriert im Winter, wenn sie bei eisigem Frost die schwere Schultasche durch die ganze Stadt schleppt. Dass sie ihren im Durchschnitt gut zwei Jahre älteren Klassenkameradinnen auf die Nerven geht, weil sie noch so kindlich ist. Das ewige Warten auf den Bus. Und an das ständige Alleinsein – daran erinnert sie sich auch. „Das Kind ist still geworden“, pflegt ihre Mutter zu sagen, wenn man sie fragt, warum ihre Tochter nicht mehr lacht.
Als sie elf ist, zieht die Familie ins eigene Haus in einem anderen Dorf. Auch hier ist sie die Einzige, die zum Gymnasium geht. Das verbleibende Jahr Konfirmandenunterricht reicht nicht, um mit den gerade mal sechs Gleichaltrigen im Ort mehr als oberflächliche Kontakte zu knüpfen. Die Einsamkeit wird ihr ständiger Begleiter. An einen heißen Sommertag erinnert sie sich noch gut: Sie zieht allein mit dem Hund durch die Wälder der Umgebung. Bei einer Rast bewundert sie die Schönheit der Natur um sie herum, wünscht sich nichts sehnlicher, als mit ihr zu verschmelzen und ist doch schmerzhaft unerreichbar von ihr getrennt.
Mit 12 freundet sie sich mit dem Sohn des Pfarrers an. Der ist 15, geht in die selbe Schule wie sie und ist genauso allein wie sie. Er rasiert sich schon. Bis heute kann sie den Duft des fürchterlichen Aftershaves nicht riechen, ohne dass sich ihr der Magen umdreht. Aber sie haben eine gute Zeit miteinander: Sie können sich gut unterhalten und sind eine Weile beide nicht allein.
Die Familie genießt es in diesen Jahren sonntags sehr lange zu frühstücken und viel zu erzählen. Dabei erfährt sie, dass ihr Großvater, den sie nur durch ein altes Bild im Flur kennt, sich erhängt hat. „Er konnte nicht mehr schlucken,“ sagt ungewohnt wortkarg der Vater – „da kam er in eine Klinik. Als Erntezeit war, holte Mutter ihn nach Hause. Als wir abends vom Acker kamen, hing er in der Scheune.“
„Er hatte Depressionen“, sagt die Mutter. „Dann wechseln sie das Thema.
Abgeschnitten vom fröhlich Lebenden
Einsamkeit, ein schreckliches Getrennsein von allem fröhlich Lebenden, wird zu ihrem ständigen Lebensgefühl. Verzweifelt wünscht sie sich eine Zwillingsschwester. Vergeblich bittet sie die Eltern, sie ins Internat zu schicken, damit sie Gleichgesinnte finden kann. In ihrem Dorf ist sie abgeschnitten von den Klassenkameraden. Im Sportverein kann sie nicht mehr mithalten, als ihre Tischtennismannschaft das Training auf 20 Uhr verlegt. Sie muss früh ins Bett, um 5.45 Uhr klingelt der Wecker.
In dieser Zeit hat sie die ersten Magengeschwüre. Sie ist dankbar, etwas zu haben, das behandelt werden kann.
In ihrer Klasse kommt sie menschlich besten klar, wo sie finanziell nicht mithalten kann: Mit den beiden Kindern des Möbelfabrikanten, der ältesten Tochter des Fahrschullehrers und der Tochter des Baustoffhändlers. Sie sind nett zu ihr und laden sie ab und zu über Nacht zu sich ein. Sie schämt sich oft wegen ihrer Unzulänglichkeiten, versucht, sich zu revanchieren, indem sie für die Freundinnen die Hausaufgaben macht. Mit Nachhilfeunterricht für jüngere Schüler und Rasenmähen verdient sie etwas Geld – es reicht nie. Besonders die Tochter des Fahrlehrers ist ihre Traumvorstellung einer Frau: Die drei Jahre Ältere hat lange blonde Haare, ist ein Männerschwarm und tanzt einfach göttlich.
Mit 15 lernt sie das schwarze Loch zum ersten Mal richtig kennen. Nach wochenlangen Weinkrämpfen und drastischem Leistungsabfall in der Schule bricht sie ganz in sich zusammen, wird apathisch, denkt darüber nach, wie sie ihrem Leben ein Ende setzen könnte.
„Das Kind hat Depressionen“, konstatiert der Hausarzt, zu dem der Vater sie bringt; „Librium hilft“. Und in der Tat: Das Medikament, das sie fortan einnimmt, hält sie in einer gleichmäßigen Gleichgültigkeit bei freundlicher Grundstimmung. Bis sie sich beim Schüleraustausch in England wiederfindet und nicht genug davon dabei hat. Die massiven Entzugserscheinungen wirken wie ein Weckruf auf sie. Sie setzt das Librium ab, entschlossen, jetzt endlich zu leben. Sie sieht in den Spiegel, staunt, dass aus dem hässlichen Entlein ihrer Kindheit ein recht hübsches junges Mädchen geworden ist. Und: Sie stellt fest, wie gut sie tanzen kann.
Zwei Jahre später kommt der nächste tiefe Fall. Ihre erste große Liebe hat Schluss gemacht. Sie fühlt sich hässlicher und unzulänglicher als jemals vorher, fällt zurück zurück in tiefe Einsamkeit und ist untröstlich. Zerrissen von Schmerz und Grübeleien stolpert sie durch die Abiturprüfungen. Was sie mit ihrem Leben anfangen soll, weiß sie nicht. Wenn es doch nur endlich vorbei wäre…
Sie ist 18, als ihre Ausbildung beginnt. Es fühlt sich an wie damals der Start auf dem Gymnasium. Leere, nichts als Leere. Der Chef, ein Alkoholiker, ist ihr widerwärtig. Die Sekretärin, die sie Brötchen holen schickt, macht sie hilflos wütend. Und der Kollege, der sie anbaggert statt ihr zu zeigen, was Sache ist, bringt ihr einen Krieg ein. Der einzige Gleichaltrige in ihrem Bekanntenkreis ist ihr neuer Freund. Er ist arbeitslos, wenig motiviert, an sich zu arbeiten, und sie muss ihn ernähren, aber sie hält an ihm fest. Nur nicht in diesem schwarzen Loch versinken.
Es endet als Katastrophe: Zehn Jahre lang hat sie ihn durchgezogen, ist hoch verschuldet, als sie sich endlich trennt. Sie war am Ende gewesen, hatte geweint und gearbeitet, gearbeitet und geweint. Wegen ihrer ständigen Kopfschmerzen musste sie regelmäßig vom Hausarzt gequaddelt werden – massive Beschwerden im Oberbauch waren fast unerträglich. Beides bessert sich schlagartig, als der Freund endgültig gegangen ist. Noch Jahre später findet sie hinter Bilderrahmen, in Schränken, an den unmöglichsten Stellen Zettel, die er hinterlassen hat: „Du bist schuld. Du hast mein Leben zerstört.“
Beruflich kommt sie voran. Nun hat sie auch mehr Geld. Sie kann reisen, sich etwas leisten. Sie gewöhnt sich daran, allein unterwegs zu sein. Mal trifft sie interessante Menschen, mal nicht – nicht so wichtig. Sie genießt den Duft fremder Länder, das Rauschen des Meeres, den Klang fremder Sprachen. Ganz langsam kann sie wieder etwas fühlen. Und verliebt sich in einen deutlich älteren Mann. Er schafft es, ihr wildes Wesen zu „kultivieren“, ohne es einzuengen. Mit ihm erlebt sie das Gefühl, vor Glück sterben zu wollen, die (fast) völlige Verschmelzung. Sie blüht auf, fühlt sich freudig lebendig, arbeitet mit Lust und Liebe.
Trotzdem kauft sie in den USA das Buch „The Final Exit“. In Deutschland ist es verboten. Es beschreibt detailliert, mit welchen Methoden dem Leben ein Ende gesetzt werden kann. Sie fühlt sich gerüstet für den Fall, dass sie wieder im Loch versinkt.
Fünf Jahre später die Trennung. Diesmal wird es lebensgefährlich. Sie sitzt in dem Reihenhaus, das sie allein bewohnt, Tag um Tag in dröhnender Stille schweigend im Sessel und starrt den Boden an. Sie isst nicht, trinkt nicht und schafft es nicht, zu telefonieren, tagelang nichtmal, vom Sessel ins Bett zu gehen. Niemand vermisst sie – sie ist im Freizeitausgleich für hunderte von Überstunden. Die Einzige, die wahrnimmt, wie es ihr geht, ist die Putzfrau. Die macht sich Sorgen, kontaktiert ihre Sekretärin, die wiederum einen Therapeuten findet. Sie bekommt ein Antidepressivum und ein Mittel gegen die ständige Schlaflosigkeit. Sie beginnt eine Therapie.
Mit den Jahren wird der Arzt zur wichtigsten Konstante ihres Lebens. Sie hat ihm versprochen, sich dem Leben zu stellen, er hat ihr versprochen, sie nicht im Stich zu lassen. Beide halten sich an ihr Wort. Ganz, ganz langsam lernt sie, sich selbst zu betrachten und anzunehmen. Sie lernt, sich zu beobachten und die Anzeichen der schwarzen Löcher schneller zu erkennen. Manchmal kann sie sich nun fühlen. Aber einen Sinn in ihrem Leben erkennt sie nur, wenn sie sich im Dienst der Firma für Menschen engagiert.
Sobald das jeweilige Projekt endet, endet ihr Lebenssinn. Also arbeitet sie viel, auch in ihrer Freizeit. Sie verdient auch viel. Und sie kauft viel ein. Massenweise Schmuck und teure Kleider. Sie stellt die Tüten in eines der leerstehenden Zimmer. Manche landen später noch mit Preisschild im Altkleidercontainer.
Dann die Wende: Sie lernt ihren späteren Mann kennen. Quasi vor der Haustür – ein Wunder.
Er ist gleichaltrig, ruhig, freundlich. Sie erlebt ihn als mutigen Menschen, der sich seinen Ängsten stellt, und ist beeindruckt. Schon nach wenigen Wochen wohnt er überwiegend bei ihr. Das geht ihr zu schnell, aber sie freut sich auch: Sie ist nicht mehr allein. Es gibt eine Struktur in ihrem Leben, einen Grund, abends nach Hause zu gehen.
Ein gutes Jahr später kaufen sie ein Haus und renovieren es gemeinsam. Es wird die ausgeglichenste Zeit in ihrem Leben. Endlich ist sie wie alle Anderen Teil der Gemeinschaft: Sie lebt mit einem Menschen zusammen, dem sie von Herzen zugetan ist, der sich um sie kümmert so wie sie sich um ihn, mit dem sie sich die Aufgaben des Alltags gerecht teilt. Das Elend scheint überwunden.
Sie arbeiten viel, verdienen gut, machen schöne Urlaubsreisen, sprechen miteinander, wenn auch zunehmend nur noch über die Arbeit. So merken sie zu spät, was sich in ihr Leben schleicht: Immer weniger gemeinsame Abende oder Wochenenden, immer weniger gemeinsame Interessen, gemeinsame Unternehmungen. Während sie selbst immer schlechter schläft und zunehmend unter Atemproblemen leidet, wird ihr Mann immer müder. Kaum haben sie das gemeinsame Abendessen eingenommen, schläft er auf dem Sofa ein. Sie sieht ihm beim Schnarchen zu und spürt bleierne Verzweiflung in sich aufsteigen. Nun ist sie einsam, obwohl sie zu zweit ist. Wofür arbeitet sie eigentlich so viel? Soll ihr Leben nun immer so weiter gehen? Wo ist der Sinn? Wann hat dieses Elend endlich ein Ende…
Ausbruchsversuch führt zum „Todestag“
Es ist im siebten Jahr ihrer Beziehung, als in der Mittagspause eines Meetings der Kollege auf sie zukommt: „Essen wir in der Kantine oder machen wir einen Spaziergang am Fluss?“ Sie gehen zum Fluss, wo er ihr berichtet, dass er nach tätlichen Angriffen seiner Frau die Familie verlassen und eine eigene Wohung bezogen hat. Er will ein neues Leben beginnen.
Sie kennen sich seit vielen Jahren und wissen sich beruflich zu schätzen. Er pflegt sein Image als kühler Stratege, sie ihres als emotional Kreative. Von nun an sprechen sie oft miteinander, tauschen sich aus, auch über die Einsamkeit. Sie erkennt in ihm Anteile des früheren, deutlich älteren Geliebten, findet in der körperlichen Nähe ein ähnliches Glück. Einmal sagt er: „Hey, willst du Kinder von mir?“
Ja, sie will. Später wird sie dankbar sein, die Frage nicht laut beantwortet zu haben.
Ihre Arbeitsplätze liegen weit auseinander, sie sehen sich nicht oft. In den Zwischenzeiten bringt sie seine Kühle oft zum Weinen – warum, versteht sie nicht. In der Firma findet währenddessen eine Neuordnung der Führungsebene statt. Sie fühlen sich beide berufen, mitzumischen.
Nach einem Jahr beichtet sie die Affaire, teilt ihrem Mann mit, dass sie sich trennen will. Nach einigen Wochen mit langen Gesprächen und vielen Tränen beschließt ihr Mann, auszuziehen.
Es kommt der Tag, den sie fortan „meinen Todestag“ nennen wird.
Am Vorabend zu ihrem 40. Geburtstag, einem Samstag, lädt ihr Mann sie zum Abschiedsessen ein. Er schenkt ihr 40 Rosen und ihre Freiheit, führt sie an den Ort, wo sie sich kennengelernt haben und fährt danach in seine neue Wohnung. Ihr Geburtstag bricht an. Sie geht durch das Haus, betrachtet die leeren Stellen, die er hinterlassen hat, fühlt sich hohl und grau, will den Geliebten sprechen. Nach mehrstündigen Versuchen erreicht sie ihn. Er ist kurz angebunden, sagt, er werde zurückrufen.
Es dauert sieben Stunden, bis er sich meldet. Da kann sie ihren Körper kaum noch bewegen, das Sprechen fällt ihr unendlich schwer. Er hatte einen angenehmen Tag, berichtet wortreich davon und meint, nun müsse er eilig nach Hause. Ihren Geburtstag hat er vergessen. Sie schafft es nicht, ihm zu berichten, wie ihr Wochenende verlaufen ist, möchte um Hilfe rufen, bringt kein Wort heraus. Bleierne Schwärze senkt sich in ihr Herz, umhüllt sie vollständig.
Als er sich an ihren Geburtstag erinnert, sind sechs Wochen vergangen. Sie hat ihn nach einem Meeting mit sarkastischem Unterton zum Edel-Essen eingeladen. Da ist es schon zu spät. Sie hat begonnen, seinen Worten zu misstrauen.
In den folgenden Monaten folgt Unheil auf Unheil. Sie gerät mit dem Geliebten in eine Konkurrenzsituation, erfährt von der Geschäftsführung, dass er den angestrebten Posten erhalten wird. Er selbst wird es ihr erst Wochen später sagen. Da ist sie von seinem fehlenden Vertrauen bereits so verletzt, dass sie ätzend reagiert, statt sich mit ihm zu freuen. Wenig später ruft er sie morgens um 7 Uhr an, um ihr zu sagen: „Ich habe mich verliebt. Sie ist nur eine kleine Halbtagssekretärin, aber sie ist mir jetzt schon um so viel näher als du.“
Es trifft sie unerwartet, und es fühlt sich an wie ein Fallbeil. Sie kann nur noch schweigen. Jedes Gefühl ist erloschen.
Mechanisch arbeitet sie weiter. Mechanisch erwartet sie nun auch ihr berufliches Ende, ist der Geliebte doch zum Vorgesetzten geworden.
Seine neue Position vereinbart sich nicht mit ihrem Wissen um sein Innenleben. Deshalb soll sie verschwinden. Es ist ihr sofort klar. Und dennoch kann sie sich nicht vorstellen, das Unternehmen zu verlassen. Es ist doch ihre ganze Familie…
Zu ihrem Asthma gesellen sich nun zunehmend Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Sie nimmt ab und wieder zu – zehn Kilo innerhalb weniger Wochen geht es mit Leichtigkeit rauf und runter. Sie beginnt wieder zu reisen, fliegt nach Mexiko, nach China, in die Türkeit, nach Spanien – egal wohin, Hauptsache anders. Sie arbeitet wie eine Besessene, bringt sich aus den USA Ma Huang mit, um durchzuhalten, nimmt Schlafmittel, um wenigstens zwei oder drei Stunden pro Nacht zu schlafen. Der Arzt erreicht sie nicht mehr. Sie weiß nur: Wenn sie aufhört, stirbt sie. Die Zukunft ist schwarz wie die Nacht.
Ein subtiles Mobbing hat begonnen. Ihre Projekte sind überdurchschnittlich erfolgreich und daher nicht angreifbar. Deshalb greift man ihr Wesen an. Hysterisch sei sie, chronisch negativ und psychisch instabil. Von einem Tag auf den anderen soll sie nachweisen, dass ihre sieben Mitarbeiter sich nicht woanders beworben haben – und zwar durch deren Unterschrift. Im Urlaub erwartet man von ihr eine Ausarbeitung über die Gesamt-Zukunft des Unternehmens. Diese wirft man dem Vorgesetzten im Rahmen einer Mitarbeiterversammlung an den Kopf und löst damit kalte Wut aus. Es folgen sinnlose Anordnungen, die in ihren direkten Zuständigkeitsbereich eingreifen, der Abzug der guten Mitarbeiter, man schickt ihr einen hoffnungslosen Alkoholiker. Immer mehr Situationen mit einem unlösbar großen Arbeitspensum entstehen.
Sie hält dagegen, wehrt sich mit Händen und Füßen.
Die Schlaflosigkeit fordert ihren Tribut. Immer öfter schließt sie stundenlang die Tür, sagt der Sekretärin, dass sie nicht gestört werden will und weint sich die Augen aus dem Kopf. Der Arzt will sie ins Krankenhaus einweisen. Sie lehnt ab.
Es ist ein Kampf, den sie nicht gewinnen kann. „Sie gehen aufs falsche Klo und pinkeln in die falsche Richtung“, teilt ihr nach zwei Jahren Mobbing unverblümt ein Geschäftsführer mit. „Die werden Sie niemals reinlassen, und ich kann Sie nicht schützen.“
Wenig später fordert der Ex-Geliebte sie auf, ihren Vertrag zurück zu geben und freiwillig eine deutlich niedrigere Position zu übernehmen. Sie lehnt ab.
Zwei Wochen danach gibt sie auf. Sie meldet sich krank und weiß, dass sie nicht mehr zurück kehren kann.
Jetzt kann sie nachts ohne Versagensangst wach sein, tagsüber ein paar Stunden schlafen. Sie lernt den Duft ihres Gartens bei Sonnenaufgang kennen. Sie kann den Gesang der Vögel wieder hören und findet sie unsagbar schön, die Natur – von der sie selbst durch eine unüberwindbare Glaswand getrennt ist. Ihr Körper wiegt Tonnen. Sie kann die Arme kaum heben – nichtmal, um sich selbst auszulöschen. Ihre Zukunft ist schwarz.
Sie hat ständig Blutungen, lässt sich schließlich die Gebärmutter entfernen – registriert mit tiefer Befriedigung: Jetzt kann sie kein Mann mehr mit dem Versprechen gemeinsamer Kinder locken.
Sie entwickelt detaillierte Pläne, sich das Leben zu nehmen. Die tragen ihren Ängsten Rechnng: Sie kann nicht von einer hohen Brücke springen oder sich vor einen Zug werfen – zu feige. Aber sie kann auf einen entlegenen Turm steigen, eine Flasche Champagner trinken, einen Satz Schlaftabletten nehmen und sich vor dem Einschlafen die Pulsadern aufschneiden. Oder, falls es draußen zu kalt ist, statt des Turms die Badewanne wählen. Sich nur auf Chemikalien zu verlassen, erscheint ihr zu gewagt: Was, wenn sie als Pflegefall wieder wach wird? Sich Luft in die Adern zu spritzen, traut sie sich nicht, mit dem Auto gegen eine Wand zu fahren, auch nicht. Zu groß ist die Gefahr des Überlebens.
Jeden Tag gibt sie sich noch einen Tag lang eine Chance. Noch immer weigert sie sich, in eine Klinik zu gehen. Aber immerhin nimmt sie die nun starken Serotoninwiederaufnahmehemmer und hält die Termine beim Arzt ein.
Ein gutes halbes Jahr später findet der Gütlichkeitstermin vor Gericht statt. Der Vertreter der Firma – mit dem zusammen sie einst die Ausbildung gemacht hat – sagt: „Für diese Frau haben wir keine Verwendung mehr.“ Sie lehnt eine gütliche Einigung ab.
Nun fällt ihr der eigene Anwalt in den Rücken: Die Versicherung zahle zu wenig für ihre Verteidigung. Er erwarte eine Bar-Prämie von ihr. Vom Vertreter der Firma, den er übrigens vom Tennisplatz kennt, verlangt er in den Verhandlungen geldwerte Vorteile. Dass seine Mandantin das hört, stört ihn nicht.
Sie wundert sich über nichts mehr, sagt die Prämie zu, handelt mechanisch, schreibt sich vorher jeden Zug auf. Den Höllentrip, bis ihre Abfindung ausgehandelt ist, erlebt sie wie einen Horrorfilm auf einem weit entfernten Bildschirm. Erst als sie unterschreibt, beginnt sie zu weinen – bodenlos, rabenschwarz, nicht enden wollend. Sie hat ihre Heimat endgültig verloren.
Sie ist gut in ihrem Beruf, versucht also, schnell wieder Arbeit zu finden. Aber sie bekommt keinen Boden mehr unter die Füße. Ein ihr wohl gesonnener Personaler ruft sie eines Tages an: „Wissen Sie eigentlich, dass ihr ehemaliger Vorgesetzter überall durchblicken lässt, Sie seien psychisch instabil?“
Sie versteht.
Wie viele Male kann ein Mensch eigentlich sterben?
Sie weiß es nicht.
Chronische Schmerzen haben ihren ganzen Körper erfasst. Sie kann nur noch mit Hilfe starker Schmerzmittel den Tag überstehen. Weichteilrheuma, diagnostiziert der Arzt. Und ihre Nebennieren arbeiten nicht mehr – eine Folge des langjährigen Stresses. Sie weiß: Rheuma ist eine Autoimmunerkrankung. Ihr Körper hat den Auftrag ihrer Seele angenommen und will sich selbst erledigen.
Diesmal geht sie in die Klinik. Zweimal hintereinander in kurzen Abständen für jeweils acht Wochen. Sie lernt den Umgang mit den Schmerzen, lernt zu malen, wenn sie keine Worte mehr hat. Sie lernt, sich selbst wieder im Spiegel anzusehen und vom Urteil anderer abzugrenzen. Sie erkennt ihre Traumata, lernt, was ein Flashback ist und welche Schlüssel-Situationen sie hineinfallen lassen. Sie weint Badewannen voll Tränen, schreibt bittere Texte in ein Tagebuch und fragt sich, was nun aus ihrem Leben werden soll. Wo sie wohl einen Sinn finden kann. Ob es echte Liebe zwischen Menschen überhaupt gibt. Ob es ihr jemals gelingen kann, sich selbst anzuschauen und selbst zu lieben.
Ob sie jemals wieder etwas fühlen wird außer Schmerzen?
Definition einer Depression durch die WHO
„Eine Depression ist eine weit verbreitete psychische Störung, die durch Traurigkeit, Interesselosigkeit und Verlust an Genussfähigkeit, Schuldgefühle und geringes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen gekennzeichnet sein kann.
Sie kann über längere Zeit oder wiederkehrend auftreten und die Fähigkeit einer Person zu arbeiten, zu lernen oder einfach zu leben beeinträchtigen. Im schlimmsten Fall kann eine Depression zum Suizid führen. Milde Formen können ohne Medikamente behandelt werden, mittlere bis schwere Fälle müssen jedoch medikamentös bzw. durch professionelle Gesprächstherapie behandelt werden.
Für eine verlässliche Diagnose und Therapie im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung sind keine Spezialisten erforderlich. Die spezialisierte Versorgung ist allerdings für eine kleine Gruppe der Menschen mit komplizierten Depressionen oder für diejenigen erforderlich, die nicht auf die Behandlungen der primären Gesundheitsversorgung ansprechen.
Depressionen setzen oft in einem jungen Alter ein. Sie betreffen häufiger Frauen als Männer, und Arbeitslose sind ebenfalls stärker gefährdet.“
Klassifikation nach ICD-10
F32.0 Leichte depressive Episode (Der Patient fühlt sich krank und sucht ärztliche Hilfe, kann aber trotz Leistungseinbußen seinen beruflichen und privaten Pflichten noch gerecht werden, sofern es sich um Routine handelt.) F32.1 Mittelgradige depressive Episode (Berufliche oder häusliche Anforderungen können nicht mehr oder – bei Tagesschwankungen – nur noch zeitweilig bewältigt werden). F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (Der Patient bedarf ständiger Betreuung. Eine Klinik-Behandlung wird notwendig, wenn das nicht gewährleistet ist). F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (Wie F.32.2, verbunden mit Wahngedanken, z. B. absurden Schuldgefühlen, Krankheitsbefürchtungen, Verarmungswahn u. a.). F32.8 Sonstige depressive Episoden F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet
Ein Mensch mit Depressionen kann ohne Hilfe nicht gesunden. Aufgrund der Knappheit fachkundiger Ärzte gibt es jedoch sehr lange Wartelisten. Hier versucht das Deutsche Bündnis gegen Depression e.V. gegenzusteuern und Hilfe anzubieten.
Endlich ist es Frühling. Der erste Zitronenfalter flattert durch den noch weitgehend kahlen Garten – ein neongelber Gruß von Licht und Wärme. Die Forsythien brauchen noch höchstens drei Tage dieses sonnigen, milden Wetters, dann werden sie ein sonnengelbes Blütenmeer entfalten – und über allem dieses leuchtend klare Himmelblau, das man nur nach oder vor der kalten Jahreszeit in dieser Intensitat erleben kann.
Sie hört den Vögeln zu, die bereits balzen – und dem melodischen Rattern des Spechts, der dabei ist, in einen alten Baum auf dem weitläufigen Grundstück eine neue Nisthöhle zu bauen. Ihr Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, als sie an die kommenden Monate denkt: In wenigen Wochen, wenn auch die Nächte mild geworden sein werden, wird sie dem sehnsuchtsvollen, einsamen Gesang der Nachtigall lauschen – allein im samtweichen Dunkel – allein, wie jedes Jahr. Der Unterschied zu den Jahren davor: Sie hat es selbst entschieden.
Sie hat versucht, sich zu belohnen. Sie war im Eiscafé, hat in der Sonne gesessen, mit Freundinnen geplaudert, Erinnerungen ausgetauscht. Sie hat sich neue Anziehsachen gekauft – in hellen, freundlichen Farben und zwei Größen kleiner, denn die ständigen Magenschmerzen und die Appetitlosigkeit haben ihr beinahe ihre Idealfigur zurückgegeben. Sie hat einen Urlaub am Meer gebucht – Südfrankreich, wie früher – nicht immer Malediven oder Karibik, wie in den letzten Jahren. Und sie hat mit Erstaunen festgestellt, dass sich zahlreiche Bekannte wieder bei ihr melden – obwohl die gar nicht wissen konnten, welche neuen Entscheidungen sie für ihr Leben getroffen hat.
Kurz und gut – eigentlich ist alles bestens.
Bis auf die Tatsache, dass sie nichts fühlen kann.
Und dass sie nur noch zwischen zwei Zuständen hin und her pendelt, von denen einer unerträglicher ist als der andere: Der erste ist eine quälende Unruhe, ein fast verzweifelter Bewegungsdrang, der dafür sorgt, dass sie sich ziemlich unkoordiniert in Arbeit stürzt, um nicht mit ihr konfrontiert zu werden.
Der zweite ist die Erschöpfung. Wenn sie nach schlaflosen Nächten und tagelanger Arbeit nicht mehr ausweichen kann und ihr Gespenst Anstalten macht, sie bei lebendigem Leib zu fressen: die Leere.
Wenn die Leere Gewalt über sie bekommt, ist das, als verschwinde sie unter einer unsichtbaren Glasglocke. Alles sieht aus wie sonst – auch sie selbst. Und doch ist alles anders. Dann ist sie allein auf einem lebens-leeren Planeten, bestehend aus einer löchrigen, metallischen Scheibe, schwebend im schwarzen Loch. Sie steht am Rand der Scheibe und weiß: Es trennt sie ein einziger kleiner Schritt vom Fallen. Vom Fallen in einen unendlichen, leeren Raum. Einen dunklen Raum. Einen eiskalten. Einen, in dem Sterben unmöglich ist, Leben auch.
Sie weiß, welche Medikamente sie nehmen muss, um ihren Adrenalinspiegel zu erhöhen. Dann spürt sie wie sie auftaucht: Aus der Gefühllosigkeit durch einen schreienden, namenlosen Ozean des Schmerzes steigt ihr Kampfgeist auf, sie wird beweglich, entfaltet Charme und Überzeugungskraft. Dann überzeugt sie sogar sich selbst, dass sie zufrieden und erfolgreich im Leben steht.
Seit sie die Täuschung erkannt hat, verzichtet sie darauf.
Sie weiß, welche Worte sie hören muss, damit die Illusion erwacht. Die Illusion, dass sie vollständig ist. Dass die zweite Hälfte, die sie ihr Leben lang vergeblich gesucht hat, nun bei ihr ist, auf immer verbunden, wie Yin mit Yang.
Seit sie erkannt hat, dass Worte Taten nur kurzfristig ersetzen können, verzichtet sie darauf.
Und nun steht sie ihr gegenüber, der unerbittlichen Feindin ihres Lebens: Der Leere. Dem unendlichen Fallen in ein namenloses, schwarzes Nichts.
Ein Mönch fragte Chao-chou (japanisch Joshu): „Hat ein Hund die Buddha-Natur?“ Chao-chou antwortete: „MU“.
MU bedeutet: ‚hat nicht‘. Dieser Zen-Koan entstammt einer kommentierten Sammlung aus dem 12. Jahrhundert, zusammengestellt von Wu-men Hui-k’ai. Heute ist er der erste Koan in der Sammlung Mumonkan.
Wu-mens (Mumons) Kommentar dazu: „Die Praxis des Zen verlangt gebieterisch, dass wir die von den alten Meistern errichteten Schranken überwinden. Solange wir sie nicht überwinden und die Straße des Denkens nicht verlassen, gleichen wir Geistern, die sich an Büsche und Grashalme klammern. Was ist nun diese ‚torlose Schranke des Zen‘? Diese einzige Schranke des Glaubens ist verkörpert in der einzigen Silbe MU.
Zum wohl hundersten Mal in den letzten Wochen liest sie die Passage, in der Zen-MeisterRobert Aitken Mumon zitiert: „Wir sollten unseren ganzen Körper in eine Masse des Zweifels verwandeln und uns mit jedem unserer ‚360 Knochen und 84 000 Haarfolikeln‘ auf dieses eine Wort MU konzentrieren“. Dabei ist die wörtliche Übersetzung bedeutungslos – wichtig an der Silbe MU ist einzig, dass sie mit keinem greifbaren Bild verknüpft werden, den Verstand also nicht an einen Irrweg anhaften lassen kann. Durch niemals nachlassendes Üben wird MU zu einer glühenden Eisenkugel in unserem Mund, unserem Hals, unseren Eingeweiden – wir essen MU, atmen MU, verdauen MU werden selbst zu MU.
„Plötzlich bricht MU auf. Der Himmel ist starr vor Erstaunen, die Erde bebt. Es ist, als würden wir General Kuan sein großes Schwert entreißen. Wenn wir einem Buddha begegnen, töten wir ihn. Wenn wir Bodhidharma begegnen, töten wir ihn. Auf dem unendlich schmalen Grat zwischen Geburt und Tod entdecken wir die vollkommene innere Freiheit, erfreuen wir uns eines Samadhi der Fröhlichkeit und des Spiels.“
Wu-mens Original-Vers dazu: ‚Hund! Buddha-Natur! Der vollkommene Ausdruck des Ganzen. Nur ein wenig ‚hat‘ oder ‚hat nicht‘ genügt, und der Körper ist verloren, das Leben ist verloren.“
Sie ist überzeugte Buddhistin. Und doch hat sie nun seit Jahren kein Sesshin mehr besucht. Gute Gründe hat sie ihrem inneren Richter dafür genannt: So etwa die ständigen rheumatischen Schmerzen, die sie bei einem akuten Schub gnadenlos ins Bett zwingen. Sie weiß, dass diese Argumentation reiner Unsinn ist: MU kann man nicht nur sitzen, man kann es liegen, stehen, fahren… Es war die Angst vor der strengen Übung im Schweigen – vor dem Ringen mit der torlosen Schranke – die sie zurück gehalten hat.
Mit lautem Gezeter stürzen zwei Meisenhähnchen durch die Fliederbüsche – sie kämpfen schon Territorien aus. Ihr fällt der Vers des Matthäus-Evangeliums ein: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch…“ Wie wahr, denkt sie und bewundert die halsbrecherischen Verfolgungsflüge der beiden. Sie sind im Hier und Jetzt – sie selbst dagegen …
Sie schafft es einfach nicht. Es ist zu abstrakt, das MU. Zu nah an der Angst vor dem Fallen ins Nichts.
Der Traum.
Sehr ungewöhnlich war dieser Traum. So sehr, dass sie ihn nie vergessen hat: Umgeben von strahlendem Licht in allen Regenbogenfarben kniet sie da in einem leeren Raum. Eine tiefe, eindringliche Stimme hält ihr einen Vortrag über den Sinn allen Lebens und den der körperlichen Existenz. Sie jedoch ist entschlossen, nicht zuzuhören, ruft laut dazwischen, stört mit Klappern, Klopfen, Singen, kann auf diese Weise fast nichts verstehen.
Bis die dröhnende Stimme um sie herum die Oberhand gewinnt. Laut, tief und unüberhörbar doziert sie: „Betrachte der Gestalten Wesen – und du sollst und wirst genesen“.
Schlagartig ist sie erwacht, getroffen von der Erkenntnis, dass ihr störrischer Geist sich für den möglicherweise lebenslangen Umweg entschieden hat, statt für spontane Erleuchtung. Nun bedauert sie zutiefst, nicht besser zugehört zu haben und schreibt das erhaltene Fragment sorgfältig auf ein Blatt Papier, das sie neben dem Bett aufhängt.
„Betrachte der Gestalten Wesen…“ Auf einmal hört sie die dröhnende Stimme wieder, als habe sie eben erst davon geträumt.
Also nicht weglaufen, sondern Platz nehmen auf der Meditationsbank. Platz nehmen und den Blick fokussieren. Noch macht ihr die abstrakte Leere zuviel Angst. Aber: Da gibt es doch dieses Buch, das seit Jahren im Regal ein angestaubtes Dasein fristet: „The Journey„, geschrieben von Brandon Bays. Sie hat es gelesen, das mag so zehn Jahre her sein, zu einer Zeit, als „The Journey“ massiv en vogue war und alle irgendwelche Kurse besuchten, um mit ihrer inneren Quelle wieder in Kontakt zu kommen. Sie fand den Hype fast komisch, zumal sie bei ihren damals regelmäßig praktizierten schamanischen Reisen ihr Krafttier gefunden hatte, das entschlossen schien, sie durch die Klippen des Alltags beschützend zu begleiten.
Aber jetzt scheint die dröhnende Stimme aus dem Traum wieder ganz nah an ihrem Ohr zu sein: „Betrachte der Gestalten Wesen – und du sollst und wirst genesen“…
Diesmal wird ihr klar, dass sie alles Handwerkszeug zuhause hat, um sofort zu beginnen. Sie nimmt das Buch zur Hand, um die Anweisungen für die ‚emotional journey‘ noch einmal zu lesen. „Wenn Sie bei der emotional journey durch die einzelnen Schichten gehen, ist es wichtig, sich aus der äußeren Geschichte – den analytischen Gedanken – herauszuhalten und Ihre ganze Aufmerksamkeit und vollständige Bewusstheit darauf zu richten, die reine, nackte Emotion in Ihrem Körper zu fühlen. Geben Sie sich einfach völlig dem Gefühl hin, heißen Sie es willkommen, benennen Sie es und sinken sie dann weiter herab zum nächsten Gefühl“.
Um an die Gefühle heranzukommen, wenden Sie sich nicht mehr an Ihren Kopf, sondern prüfen einfach innerlich Ihren Körper und stellen fest, wo das Gefühl am stärksten ist. Wenn sie es genau erfasst haben, lassen sie sich weiter zur nächsten Schicht und zum nächsten Gefühl hinabsinken. Irgendwann nehmen Sie vielleicht wahr, dass keine Gefühle mehr auftauchen. Diesen Zustand werden Sie möglicherweise als Taubheit oder Verwirrung beschreiben, als Nichtwissen oder schwarzes Loch, als Leere, als Nichts, oder als das Gefühl, festzustecken. Diese Erfahrung ist ein Teil des Prozesses. Jeder geht durch die Schicht des Unbekannten, durch die unbekannte Zone. Sie ist das Tor zur Quelle“.
Es ist ganz natürlich, sich vor dem Unbekannten zu fürchten. Daher beruhigen Sie sich – oder lassen sich beruhigen – dass alles ganz normal ist, damit sie entspannen, sich hingeben und fallen lassen können. Dass Sie an der Quelle angekommen sind, merken Sie daran, dass Ihre ganze Präsenz auf einmal sehr weit wird, nicht nur innerhalb des Körpers, sondern auch darüber hinaus.Wenn es sich anfühlt, als seien Sie mit allem Anderen eins – erst dann handelt es sich um eine echte Erfahrung der Quelle. Dieses Gefühl wird sehr weit, immer weiter, verwandelt sich von einer einfachen Emotion in einen Zustand reinen, klaren Bewusstseins.“
Da ist es doch wieder, das MU.
Das Wesen jeder Gestalt.
Die Leere, die eigentlich eine gewaltige Fülle darstellt – die Fülle der vollkommenen Summe allen Seins. Die Fülle des großen gestalterischen Geistes. Den Anfang, das Ende und alles, was dazwischen liegt. Die Quelle.
In einer Ansprache, die dem Mumonkan später hinzugefügt wurde, erklärt Mumon: (…) „Wer weder vorwärts noch rückwärts geht, ist ein atmender Leichnam. (…) Bemüht euch mit letzter Kraft, in eurem Leben vollkommene Erleuchtung zu erlangen! Und bleibt nicht ewig in eurem Unglück hocken!“
Ohne Weg zum Weitergehen, ohne etwas zum Festhalten, ohne Möglichkeit, Hilfe zu suchen – wie soll man die Quelle finden?
Mumon hat dazu den Vers: ‚Die torlose Schranke‘ verfasst:
„Der große Weg ist ohne Tor.Tausend verschiedene Straßen gibt es.Wer einmal diese Schranke durchschritt,spaziert in Freiheit im Weltall umher“.